Читать книгу Goldgrube - Sue Grafton - Страница 5
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ОглавлениеRobert Dietz trat am Mittwoch, dem achten Januar, wieder in mein Leben. Ich erinnere mich an das Datum, weil es Elvis Presleys Geburtstag war und einer der lokalen Radiosender angekündigt hatte, sie würden die nächsten vierundzwanzig Stunden damit verbringen, jeden Song zu spielen, den er je gesungen hatte. Um sechs Uhr morgens plärrte mein Radiowecker mit »Heartbreak Hotel« in voller Lautstärke los. Ich schlug mit der flachen Hand auf den Ausschaltknopf und rollte mich wie gewohnt aus dem Bett. Dann schlüpfte ich zur Vorbereitung auf meinen morgendlichen Dauerlauf in den Jogginganzug, putzte mir die Zähne, spritzte mir Wasser ins Gesicht und trottete die Wendeltreppe hinab.. Ich schloß die Haustür hinter mir ab und ging hinaus, wo ich, an den Türpfosten vor meiner Wohnung gelehnt, ein paar obligatorische Stretching-Übungen machte. Der Tag konnte nur seltsam werden, da mir ein gefürchtetes Mittagessen mit Tasha Howard bevorstand, einer meiner kürzlich entdeckten Cousinen ersten Grades. Joggen war das einzige, was mir einfiel, um mein Unbehagen zu dämpfen. Mein Ziel war der Fahrradweg, der am Strand entlangführt.
Ach, der Januar. Die Feiertage hatten mich unruhig gemacht, und der Anbruch des neuen Jahres löste eine dieser endlosen inneren Diskussionen über den Sinn des Lebens aus. Normalerweise achte ich nicht besonders auf den Lauf der Zeit, aber dieses Jahr nahm ich mich aus irgendeinem Grund selbst unter die Lupe. Wer war ich wirklich innerhalb des Gesamtsystems, und worauf lief das alles hinaus? Fürs Protokoll: Ich heiße Kinsey Millhone, bin weiblich, alleinstehend, fünfunddreißig Jahre alt und alleinige Inhaberin von Kinsey Millhone Investigations in der südkalifornischen Stadt Santa Teresa. Ich habe eine Ausbildung zur Polizistin durchlaufen und zwei Jahre bei der Polizei von Santa Teresa gearbeitet, bevor mir das Leben in die Quere kam, was eine ganz andere Geschichte ist, und zwar eine, die ich (noch) nicht zu erzählen beabsichtige. Seit mittlerweile zehn Jahren verdiene ich mein Geld als Privatdetektivin. An manchen Tagen sehe ich mich selbst (edel, ich geb’s zu) als Kämpferin gegen das Böse im Ringen um Recht und Ordnung. An anderen Tagen gestehe ich ein, daß die dunklen Mächte an Boden gewinnen.
Nicht alles davon war mir bewußt. Ein Teil meiner diffusen Grübelei vollzog sich auf einer Ebene, die ich kaum wahrnahm. Es ist ja nicht so, daß ich meine Tage in einem Zustand unablässiger Angst verbringe, die Hände ringe und mir die Kleider zerreiße. Ich vermute, daß das, was ich durchmachte, eine leichte Form von Depression war, ausgelöst (vielleicht) durch die schlichte Tatsache, daß es Winter war und die kalifornische Sonne sich rar machte.
Ich habe meine Laufbahn mit der Untersuchung von Brandstiftungen und Ansprüchen aufgrund fahrlässiger Tötung für die California Fidelity Insurance begonnen. Vor einem Jahr kam meine Verbindung zur CFI zu einem abrupten und schimpflichen Ende, und derzeit teile ich Büroräume mit der Anwaltskanzlei Kingman und Ives und nehme nahezu alles an, um über die Runden zu kommen. Ich bin lizenziert, vereidigt und komplett versichert. Ich habe fünfundzwanzigtausend Dollar auf einem Sparbuch, wodurch ich mir den Luxus erlauben kann, jeden Kunden wegzuschicken, der mir nicht paßt. Bis jetzt habe ich zwar noch keinen Fall abgelehnt, aber ich habe es schon ernsthaft in Erwägung gezogen.
Tasha Howard, die bereits erwähnte Cousine, hatte mich angerufen und mir einen Auftrag angeboten, wobei jedoch der Fall in seinen Einzelheiten noch nicht zur Sprache gekommen war. Tasha ist Anwältin und hat sich auf Testamente und Nachlässe spezialisiert. Sie arbeitet für eine Kanzlei, die Büros unterhält in San Francisco und in Lompoc, etwa eine Stunde nördlich von Santa Teresa. Soweit ich es verstanden habe, teilt sie ihre Zeit in etwa gleichmäßig zwischen den beiden auf. Normalerweise bin ich an Arbeit interessiert, aber Tasha und ich stehen uns nicht direkt nahe, und ich vermutete, daß sie den Köder eines Auftrags benutzte, um sich in mein Leben einzuschleichen.
Wie es der Zufall wollte, kam ihr erster Anruf am Tag nach Neujahr, und so konnte ich ihr ausweichen, indem ich behauptete, ich machte noch Urlaub. Als sie am siebten Januar erneut anrief, gab es kein Entrinnen mehr. Ich saß im Büro und steckte gerade mitten in einer anstrengenden Patience, als das Telefon klingelte.
»Hi, Kinsey. Hier ist Tasha. Ich dachte, ich versuche es noch mal bei dir. Habe ich dich in einem ungünstigen Moment erwischt?«
»Es paßt schon«, sagte ich. Ich begann zu schielen und tat so, als brächte ich mich mit einem den Schlund hinabgerichteten Finger selbst zum Würgen. Natürlich konnte sie das nicht sehen. Ich legte eine rote Acht auf eine schwarze Neun und deckte die letzten drei Karten auf. Soweit ich sah, würde die Patience nicht aufgehen. »Wie geht’s?« fragte ich, vielleicht eine Millisekunde zu spät.
»Ganz gut, danke. Und dir?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Mensch, ist das ein Zufall, daß du ausgerechnet jetzt anrufst. Gerade wollte ich den Hörer abnehmen. Ich habe den ganzen Vormittag Anrufe erledigt, und du warst die nächste auf meiner Liste.« Ich benutze oft das Wort Mensch, wenn ich das Blaue vom Himmel herunterlüge.
»Freut mich, dass zu hören«, sagte sie. »Ich dachte, du gingst mir aus dem Weg.«
Ich lachte. Ha. Ha. Ha. »Überhaupt nicht«, sagte ich. Ich wollte meinen Protest schon weiter ausführen, doch sie redete unverdrossen weiter. Da ich ohnehin keine Karte mehr ablegen konnte, schob ich sie allesamt beiseite und begann, meine Schreibtischauflage mit ein paar Arbeitsplatz-Graffiti zu verzieren. Ich schrieb das Wort KOTZ in Blockbuchstaben und versah jeden einzelnen davon mit einer dreidimensionalen Schattierung.
Sie fragte: »Wie sieht dein Terminplan für morgen aus? Können wir uns eine Stunde zusammensetzen? Ich muß sowieso nach Santa Teresa, und wir könnten uns zum Mittagessen treffen.«
»Das ginge wahrscheinlich«, sagte ich vorsichtig. In dieser Welt kommt man mit Lügen nur so lange weiter, bis einen die Wahrheit einholt. »Worum geht es denn?«
»Das würde ich lieber unter vier Augen besprechen. Paßt dir zwölf Uhr?«
»Klingt gut«, sagte ich.
»Wunderbar. Ich reserviere uns einen Tisch. Bei Emile’s-at-the-Beach. Wir treffen uns dort«, sagte sie, und mit einem Klicken war sie weg.
Ich legte den Hörer auf, schob den Kugelschreiber beiseite und bettete meinen Kopf auf den Tisch. Was war ich doch für eine Idiotin! Tasha mußte gewuβt haben, daß ich sie nicht sprechen wollte, ich hatte mich aber nicht getraut, ihr das zu sagen. Vor zwei Monaten hatte sie mir aus der Klemme geholfen, und obwohl ich ihr das Geld zurückgezahlt hatte, hatte ich immer noch das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Vielleicht würde ich ihr höflich zuhören, bevor ich ablehnte. Ich hatte noch einen anderen kleinen Auftrag auf Lager. Von einem Anwalt im ersten Stock unseres Gebäudes war ich engagiert worden, zwei Vorladungen zu eidlichen Zeugenaussagen in einem Zivilprozeß zuzustellen.
Am Nachmittag zog ich los und gab fünfunddreißig Dollar (plus Trinkgeld) für einen regulären Haarschnitt im Friseursalon aus. Sonst gehe ich immer alle sechs Wochen selbst mit einer Nagelschere auf meinen widerspenstigen Schopf los, wobei meine Technik darin besteht, daß ich jedes Haarbüschel abschneide, das hervorsteht. Ich muß mich wohl wirklich verunsichert gefühlt haben, da es mir normalerweise nicht einfiele, bares Geld für etwas hinzublättern, das ich so leicht selbst machen kann. Natürlich habe ich schon öfter zu hören bekommen, daß meine Frisur wie das Hinterteil eines jungen Hundes aussieht, aber was gibt es dagegen einzuwenden?
Der Morgen des achten Januar brach unvermeidlich an, und ich jagte wie von Furien gehetzt den Fahrradweg entlang. Meistens nutze ich meinen Dauerlauf als Möglichkeit, zu mir selbst zu kommen und den Tag und die Natur am Strand zu genießen. An diesem Morgen war ich ganz auf Arbeit konzentriert und strafte mich schon fast selbst durch die Energie, die ich in mein Training investierte. Als ich meinen Lauf und meine allmorgendlichen Verrichtungen beendet hatte, ging ich gar nicht erst ins Büro, sondern werkelte zu Hause herum. Ich bezahlte ein paar Rechnungen, räumte meinen Schreibtisch auf, wusch eine Maschine Wäsche und plauderte kurz mit meinem Vermieter Henry Pitts, während ich drei seiner frisch gebackenen Zimtschnecken verspeiste. Nervös war ich selbstverständlich nicht.
Wie üblich, wenn man auf etwas Unangenehmes wartet, schien die Uhr in Zehnminutensätzen vorwärtszuspringen. Ehe ich mich’s versah, stand ich vor meinem Badezimmerspiegel und trug – in Gottes Namen – preisreduzierte Kosmetika auf, während ich mich zusammen mit Elvis, der »It’s Now Or Never« sang, einem Gefühlsausbruch hingab. Die Mitsingerei versetzte mich in meine Schulzeit zurück – keine umwerfende Assoziation, aber trotzdem lustig. Damals verstand ich nicht mehr von Make-up als heute.
Ich überlegte, ob ich mich besonders schick machen sollte, aber das wäre in meinen Augen wirklich zu weit gegangen, also schlüpfte ich in meine gewohnten Blue jeans, einen Rollkragenpullover, meinen Tweed-Blazer und Stiefel. Ich besitze genau ein Kleid, und das wollte ich nicht für einen solchen Anlaß verschwenden. Ich sah auf die Uhr: elf Uhr fünfundfünfzig. Emile’s war nicht weit, gerade fünf Minuten zu Fuß. Wenn ich Glück hatte, würde mich beim Überqueren der Straße ein Lastwagen anfahren.
Als ich eintraf, waren fast alle Tische besetzt. In Santa Teresa machen die Strandrestaurants den Löwenanteil ihres Geschäfts in der Touristensaison im Sommer, wenn die Motels und Pensionen in Meeresnähe allesamt ausgebucht sind. Nach dem Labor Day Anfang September werden die Menschenströme dünner, bis die Stadt wieder ihren Bewohnern gehört. Aber Emile’s-at-the-Beach ist auch unter den Einheimischen sehr beliebt und scheint unter dem turnusmäßigen Kommen und Gehen der auswärtigen Gäste nicht zu leiden.
Tasha mußte mit dem Wagen von Lompoc heruntergefahren sein, da ein schnittiger roter Trans Am mit einem persönlichen Kennzeichen, auf dem TASHA H stand, am Bordstein parkte. Unter Detektiven nennt man so etwas einen Anhaltspunkt. Außerdem macht der Flug von Lompoc hier herunter mehr Ärger, als er wert ist. Ich betrat das Restaurant und suchte die Tische ab. Ich verspürte nur wenig Lust auf die Begegnung, aber ich wollte für alle Möglichkeiten offenbleiben. Welche das waren, wußte ich nicht zu sagen.
Ich entdeckte Tasha hinter einem der bogenförmigen Durchgänge, bevor sie mich sah. Sie saß in einem kleinen Nebenzimmer abseits des Hauptspeisesaals. Emile hatte sie an einen Zweiertisch direkt am Fenster plaziert. Sie blickte hinaus auf den Kinderspielplatz, der auf der anderen Straßenseite in dem kleinen Park am Strand lag. Das Planschbecken war geschlossen und den Winter über abgelassen worden, ein Kreis aus blaulackiertem Gips, der jetzt wie ein Landeplatz für ein UFO wirkte. Zwei Kinder im Vorschulalter kletterten mühsam rückwärts auf eine daneben stehende Rutsche, die im Sand verankert war. Ihre Mutter saß mit einer Zigarette in der Hand auf der niedrigen Einfassungsmauer aus Beton. Hinter ihr sah man die nackten Masten der Boote, die im Hafen lagen. Der Tag war sonnig und kühl, und am blauen Himmel jagten die Wolken dahin, die ein Unwetter zurückgelassen hatte, das nun nach Süden abzog.
Ein Kellner kam an Tashas Tisch, und sie sprachen kurz miteinander. Sie nahm eine Speisekarte von ihm entgegen. Ich konnte sehen, wie sie ihn darauf hinwies, daß sie noch auf jemanden wartete. Er zog sich zurück, und sie begann die Auswahl an Gerichten zu studieren. Ich hatte Tasha bisher nie zu Gesicht bekommen, aber im vorletzten Sommer war ich ihrer Schwester Liza begegnet. Ich war verblüfft gewesen, weil Liza und ich uns so ähnlich sahen. Tasha war drei Jahre älter und präsentierte sich solider. Sie trug ein graues Wollkostüm mit einer weißen, kragenlosen Seidenbluse, die aus dem tiefen V-Ausschnitt der Jacke hervorsah. Ihr dunkles Haar war von blonden Strähnen durchzogen und wurde von einer eleganten schwarzen Chiffonschleife an ihrem Nackenansatz hinten zusammengehalten. Der einzige Schmuck, den sie trug, war ein Paar überdimensionale Goldohrringe, die glitzerten, wenn sie sich bewegte. Da sie sich mit der Verwaltung von Nachlässen beschäftigte, hatte sie vermutlich nicht viel Gelegenheit zu flammenden Plädoyers im Gerichtssaal, aber trotzdem würde sie bei einem verbalen Geplänkel ziemlich einschüchternd wirken. Auf der Stelle beschloß ich, meine Angelegenheiten zu ordnen.
Sie erblickte mich, und ich sah, wie sich ihre Miene belebte, als sie die erstaunliche Ähnlichkeit auch zwischen uns beiden registrierte. Womöglich besaßen alle Kinsey-Cousinen die gleichen Gesichtszüge. Ich hob eine Hand zum Gruß und bahnte mir durch die zahlreichen Mittagsgäste den Weg zu ihrem Tisch. Ich setzte mich auf den Platz ihr gegenüber und schob meine Tasche unter den Stuhl. »Hallo, Tasha.«
Einen Moment lang musterten wir uns gegenseitig. Auf der High School hatte ich mich in Biologie mit Mendels roten und weißen Erbsenblüten beschäftigt; mit dem Kreuzen von Farben und dem sich daraus ergebenden Muster der »Nachkommenschaft«. Genau dieses Prinzip war auch hier am Werk. Von nahem konnte ich sehen, daß sie dunkle Augen hatte, während meine haselnußbraun waren, und daß ihre Nase so aussah wie meine, bevor sie mir zweimal gebrochen wurde. Sie zu sehen war, als sähe ich mich selbst unvermittelt in einem Spiegel, ein zugleich fremder und vertrauter Anblick. Ich und nicht ich.
Tasha brach das Schweigen. »Das ist ja unheimlich. Liza hat mir zwar gesagt, daß wir uns ähnlich sehen, aber damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«
»Es steht offenbar außer Zweifel, daß wir verwandt sind. Was ist mit den anderen Cousinen? Sehen sie auch aus wie wir?«
»Variationen zu einem Thema. Als Pam und ich Teenager waren, wurden wir oft miteinander verwechselt.« Pam war die Schwester zwischen Tasha und Liza.
»Hat Pam ihr Baby inzwischen bekommen?«
»Schon vor Monaten. Ein Mädchen. Große Überraschung«, sagte sie trocken. Ihr Tonfall war ironisch, aber ich begriff den Witz nicht. Sie spürte die unausgesprochene Frage und lächelte daraufhin flüchtig. »Alle Kinsey-Frauen bekommen Mädchen. Ich dachte, du wüßtest das.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Pam hat sie Cornelia getauft, um sich bei Grand einzuschmeicheln. Leider versuchen wohl die meisten von uns hin und wieder, bei ihr Punkte zu sammeln.«
Cornelia LaGrand war der Mädchenname meiner Großmutter, Burton Kinsey. »Grand« war seit dem Säuglingsalter ihr Spitzname gewesen. Soweit ich gehört hatte, regierte sie die Familie mit eiserner Hand. Sie war großzügig mit Geld, aber nur, wenn man nach ihrer Pfeife tanzte – genau der Grund, aus dem die Familie mich und meine Tante Gin neunundzwanzig Jahre lang so gezielt ignoriert hatte. Ich war in einfachen Verhältnissen groß geworden, eindeutig untere Mittelschicht. Tante Gin, die mich aufgezogen hat, hatte als Bürokraft für California Fidelity Insurance gearbeitet, die Firma, die mich schließlich auch eingestellt (und wieder gefeuert) hatte. Sie war mit einem bescheidenen Gehalt ausgekommen, und wir hatten nie viel besessen. Wir hatten stets in mobilen Behausungen gelebt – Wohnwagen mit wenig Platz –, die ich immer noch bevorzuge. Zugleich war mir aber selbst damals klar, daß andere Leute Wohnwagen für schäbig hielten. Warum, weiß ich nicht.
Tante Gin hatte mir beigebracht, mich niemals bei jemandem einzuschmeicheln. Was sie mir allerdings verschwiegen hatte, war, daß es einige Verwandte gab, bei denen sich das Einschmeicheln durchaus lohnte.
Tasha war sich des Dickichts, in das ihre Bemerkungen führten, vermutlich bewußt, und ging zum Nächstliegenden über. »Laß uns erst einmal zu Mittag essen, dann kann ich dich über den Fall informieren.«
Wir erledigten den angenehmen Teil, unser Essen zu bestellen und zu verspeisen, und plauderten dabei nur über äußerst belanglose Themen. Sowie unsere Teller abgetragen waren, wurde sie allerdings mit einem wirkungsvollen Wechsel ihres Tonfalls ganz geschäftsmäßig. »Klienten von uns hier in Santa Teresa sind in einer verzwickten Lage, die dich vielleicht interessieren könnte. Kennst du die Maleks? Ihnen gehört Malek Construction.«
»Ich kenne sie nicht persönlich, aber der Name ist mir geläufig.« Ich hatte das Firmenlogo schon auf Baustellen in der Stadt gesehen, ein weißes Achteck wie ein Stopschild, auf dem in der Mitte die Umrisse eines roten Zementmischers prangten. Alle Firmenlastwagen und Baustellentoiletten waren rot wie die Feuerwehr, und die Wirkung war bestechend.
Tasha fuhr fort: »Es ist eine Sand- und Kiesfirma. Mr. Malek ist vor kurzem verstorben, und unsere Kanzlei verwaltet den Nachlaß.« Der Kellner kam und füllte unsere Kaffeetassen nach. Tasha nahm ein Zuckerpäckchen und faltete erst auf allen Seiten die Kanten des papierenen Randes um, bevor sie die Ecke abriß. »Bader Malek hat 1943 eine Kiesgrube gekauft. Ich weiß nicht, was er damals dafür bezahlt hat, aber heute ist sie ein Vermögen wert. Kennst du dich mit Kies aus?«
»Nicht die Bohne«, antwortete ich.
»Ich auch nicht, bis diese Sache aktuell wurde. Eine Kiesgrube wirft auf die Schnelle nicht sonderlich viel Gewinn ab, aber interessanterweise wurde es im Lauf der letzten dreißig Jahre durch Umweltgesetze und Landnutzungsregelungen immer schwieriger, eine neue Kiesgrube aufzumachen. In diesem Teil Kaliforniens gibt es einfach nicht besonders viele. Wenn man nun die Kiesgrube für seine Region besitzt und die Baubranche boomt – was sie zur Zeit tut –, dann wird die Grube von einem Flop in den Vierzigern zu einem richtigen Schatz in den Achtzigern, natürlich immer abhängig davon, wie tief und von welcher Qualität die Kiesreserven sind. Inzwischen steht fest, daß diese hier in einer idealen Kieszone liegt und sich vermutlich weitere hundert oder hundertfünfzig Jahre ausbeuten läßt. Da heutzutage niemand mehr eine Genehmigung bekommt... tja, du hast sicher begriffen, was ich damit sagen will.«
»Wer hätt’s gedacht?«
»Eben«, sagte sie und fuhr fort. »Bei Kies empfiehlt es sich, in der Nähe von Ortschaften zu sein, wo gebaut wird, da der größte Kostenfaktor der Transport ist. Auf jeden Fall war Bader Malek ein kleines Kraftwerk, und er hat es geschafft, seine Profite zu maximieren, indem er in andere Bereiche expandierte, die aber allesamt mit der Baubranche zu tun hatten. Malek Construction ist heute die drittgrößte Baufirma im Bundesstaat. Und sie ist nach wie vor in Familienbesitz; eine von wenigen, könnte ich hinzufügen.«
»Und wo liegt das Problem?«
»Dazu komme ich gleich, aber ich muß erst noch ein bißchen weiter ausholen. Bader und seine Frau Rona hatten vier Söhne – wie Orgelpfeifen, alle genau zwei Jahre auseinander. Donovan, Guy, Bennet und Jack. Donovan ist inzwischen Mitte Vierzig, und Jack vermutlich neununddreißig. Donovan ist der beste von ihnen: ein typischer Erstgeborener, zuverlässig, verantwortungsvoll und der große Leistungsträger unter den Geschwistern. Seine Frau Christie und ich waren im College zusammen auf einem Zimmer, und dadurch bin ich überhaupt erst in diese Sache verwickelt worden. Der zweite Sohn, Guy, hat sich als Nichtsnutz entpuppt. Die anderen beiden sind in Ordnung. Allerdings nichts Großartiges, zumindest danach zu urteilen, was Christie gesagt hat.«
»Arbeiten sie für die Firma?«
»Nein, aber Donovan bezahlt trotzdem alle ihre Rechnungen. Bennet bildet sich ein, ›Unternehmer‹ zu sein, was heißt, daß er Jahr für Jahr bei schlechten Geschäften Riesensummen in den Sand setzt. Momentan versucht er sich in der Restaurantbranche. Er will mit zwei Teilhabern ein Lokal unten auf dem Granita eröffnen. Hinausgeworfenes Geld ist gar kein Ausdruck. Der Mann muß verrückt sein. Jack vertreibt sich die Zeit mit Golfspielen. Soweit ich weiß, ist er begabt genug, um bei den Profis mitzumischen, aber wahrscheinlich nicht so gut, daß er davon leben kann.
Auf jeden Fall war damals in den Sechzigern Guy derjenige, der Marihuana geraucht und sich wüst aufgeführt hat. Sein Vater war für ihn ein materialistischer, kapitalistischer Drecksack, und das hat er ihm auch bei jeder Gelegenheit gesagt. Guy geriet offenbar mehrmals ziemlich böse in die Klemme – wurde mit anderen Worten straffällig –, und Bader hat ihn schließlich enterbt. Donovan zufolge hat sein Vater Guy eine Pauschalsumme gegeben, und zwar zehntausend in bar, sein Anteil am damals noch bescheidenen Familienvermögen. Bader sagte dem Jungen, er solle die Fliege machen und nicht wiederkommen. Guy Malek verschwand und ward seitdem nicht mehr gesehen. Das war im März 1968. Damals war er sechsundzwanzig, also muß er heute dreiundvierzig sein. Ich glaube, es hat niemandem wirklich etwas ausgemacht, als er ging. Vermutlich war es eine Erleichterung, nach allem, was er der Familie zugemutet hatte. Rona war zwei Monate zuvor gestorben, im Januar desselben Jahres, und Bader hat mit dem Vorhaben, sein Testament zu ändern, seinen Anwalt aufgesucht. Du weißt ja, wie das vor sich geht: ›Daß ich in diesem Testament keine Verfügung zugunsten meines Sohnes Guy getroffen habe, geht nicht auf einen Mangel an Liebe oder Zuneigung meinerseits zurück, sondern liegt darin begründet, daß ich zu meinen Lebzeiten für ihn gesorgt habe und der Ansicht bin, daß diese Zuwendungen mehr als ausreichend waren‹ – bla bla bla. In Wirklichkeit hatte Guy ihn einen Haufen Geld gekostet, und er hatte die Nase voll.
So. Ausblende, Einblende. 1981 ist Baders Anwalt an einem Herzinfarkt gestorben, und Bader bekam seine gesamten juristischen Unterlagen zurück.«
Ich unterbrach sie. »Entschuldige. Ist das so üblich? Ich hätte angenommen, daß sämtliche Dokumente im Nachlaß des Anwalts aufbewahrt würden.«
»Kommt auf den Anwalt an. Vielleicht hat Bader darauf bestanden. Ich weiß es nicht genau. Ich vermute, er hatte einen ziemlichen Dickschädel. Damals hatte ihn der Krebs bereits in den Klauen, an dem er schließlich gestorben ist. Außerdem hatte er durch die massive Chemotherapie einen Schlaganfall erlitten, der ihn zusätzlich schwächte. So krank, wie er war, wollte er wahrscheinlich die Strapazen bei der Suche nach einem neuen Anwalt nicht auf sich nehmen. Seiner Ansicht nach waren seine Angelegenheiten ja auch geordnet, und was er mit seinem Geld anstellte, ging niemanden etwas an.«
Ich sagte: »O weh.« Ich wußte zwar nicht, was kommen würde, aber es klang nicht gut.
»›O weh‹ trifft es ganz genau. Als Bader vor zwei Wochen starb, ist Donovan seine Papiere durchgegangen. Das einzige Testament, das er gefunden hat, war jenes, das Bader und Rona 1965 unterzeichnet hatten.«
»Was ist mit dem späteren Testament geschehen?«
»Das weiß niemand. Vielleicht hat es der Anwalt aufgesetzt, und Bader hat es zur Durchsicht mit nach Hause genommen. Womöglich hat er es sich wieder anders überlegt. Oder vielleicht hat er das Testament so unterschrieben, wie es war, und erst später beschlossen, es zu vernichten. Tatsache ist jedenfalls, daß es weg ist.«
»Also ist er ohne letzten Willen verstorben?«
»Nein, nein. Wir haben ja noch das frühere Testament – das 1965 aufgesetzt wurde, bevor Guy ins schwarze Nichts geschleudert wurde. Es ist korrekt unterzeichnet und vollständig besiegelt, was bedeutet, daß Guy Malek, falls kein Einspruch erfolgt, zu den Erben gehört und ein Viertel des Nachlasses seines Vaters verlangen kann.«
»Wird Donovan dagegen Einspruch erheben?«
»Es ist nicht Donovan, der mir Sorgen macht. Das Testament von 1965 überträgt ihm die Verfügungsgewalt über den Familienbesitz, also sitzt er sowieso am längeren Hebel. Bennet ist derjenige, der davon redet, daß er Einspruch erheben will, aber er hat im Grunde keinerlei Beweise dafür, daß das spätere Testament existiert. Allerdings könnte das ohnehin alles für die Katz sein. Wenn Guy Malek vor Jahren von einem Lastwagen überfahren wurde oder an einer Überdosis gestorben ist, gibt es keine Probleme – solange er selbst keine Kinder hat.«
»Wird langsam kompliziert«, sagte ich. »Um wieviel Geld geht es eigentlich?«
»Daran arbeiten wir noch. Der Nachlaß wird momentan auf etwa vierzig Millionen Dollar geschätzt. Natürlich hat die Regierung Anspruch auf einen hübschen Batzen. Die Erbschaftssteuer liegt zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Prozent. Dank Bader hat die Firma glücklicherweise kaum Schulden, also ist Donovan bis zu einem gewissen Betrag in der Lage, Kredite aufzunehmen. Außerdem können die Erben die Entrichtung der Erbschaftssteuer nach Steuergesetzbuch Abschnitt 6166 aufschieben, da Malek Construction als privat geführte Firma mehr als fünfunddreißig Prozent des geschätzten Gesamtnachlasses ausmacht. Wir werden vermutlich Gutachter suchen, die auf einen niedrigen Wert kommen, und dann hoffen, daß das Finanzamt bei der Wirtschaftsprüfung nicht allzu nachdrücklich auf einem höheren Wert besteht. Um deine Frage zu beantworten, die Jungs werden vermutlich jeder mit fünf Millionen Dollar nach Hause gehen. Guy kann sich glücklich schätzen.«
»Nur daß kein Mensch weiß, wo er ist«, sagte ich.
Tasha zeigte mit dem Finger auf mich. »Stimmt.«
Ich überlegte kurz. »Es muß ein Schock für die Brüder gewesen sein, als sie erfuhren, daß Guy einen genauso großen Anteil des Nachlasses erben würde.«
Tasha zuckte die Achseln. »Ich hatte bisher nur einmal Gelegenheit, mit Donovan zu sprechen, und er macht in diesem Punkt einen zuversichtlichen Eindruck. Er agiert als Nachlaßverwalter. Am Freitag reiche ich das Testament beim Nachlaßgericht ein. Im Grunde ist das einzige, was sie dort machen, das Testament zu Protokoll zu nehmen. Donovan hat mich gebeten, Bennet zuliebe den Antrag erst in einer Woche einzureichen, weil Bennet davon überzeugt ist, daß das spätere Testament noch auftaucht. In der Zwischenzeit erschiene es mir sinnvoll, wenn wir herausfinden könnten, wo sich Guy Malek aufhält. Ich dachte, wir könnten dich für die Suche engagieren, falls du interessiert bist.«
»Klar«, sagte ich sofort. Da zierte ich mich nicht lange! Ehrlich gesagt liebe ich Fälle mit Vermißten, und die Umstände machten mich neugierig. Wenn ich hinter einem Verschollenen her bin, winke ich oft mit der Aussicht auf plötzlichen Reichtum von einem jüngst verstorbenen Verwandten. In Anbetracht der Gier des Menschen ist das häufig von Erfolg gekrönt. In diesem Fall würde mir die Realität von fünf Millionen Dollar die Arbeit erleichtern. »Was hast du denn für Informationen über Guy?« fragte ich.
»Da müßtest du mit den Maleks sprechen. Die klären dich auf.« Sie kritzelte etwas auf die Rückseite einer Visitenkarte, die sie mir dann hinhielt. »Das ist Donovans Nummer im Geschäft. Hinten habe ich seine Privatadresse und -telefonnummer notiert. Abgesehen natürlich von Guy leben die Jungs noch alle zusammen auf dem Anwesen der Maleks.«
Ich studierte die Rückseite der Visitenkarte. Die Adresse sagte mir nichts. »Ist das im Ort oder irgendwo außerhalb? Das habe ich noch nie gehört.«
»Es gehört zum Stadtgebiet. In den Hügeln über der Stadt.«
»Ich rufe heute nachmittag dort an.«