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Ich ging auf dem Cabana Boulevard nach Hause. Der Himmel hatte aufgeklart, und die Lufttemperatur lag bei etwa dreizehn Grad. Eigentlich befanden wir uns im tiefsten Winter, und die messingfarbene kalifornische Sonne war nicht so warm, wie sie aussah. Sonnenhungrige lagen verstreut im Sand wie Strandgut, das die Flut zurückgelassen hatte. Ihre gestreiften Schirme erzählten vom Sommer, und doch war das neue Jahr erst eine Woche alt. Das Sonnenlicht brach sich in den Wellen, die gegen die Pfähle unter dem Kai schlugen. Die Brandung mußte eiskalt sein und das Salzwasser in den Augen brennen, aber dennoch plätscherten Kinder in den Wellen umher und tauchten mit Begeisterung in die wirbelnden Tiefen hinab. Ich konnte ihre dünnen Schreie über dem Donnern der Brandung hören wie die von Sensationshungrigen auf einer Achterbahn, während sie sich in den eisigen Schrecken stürzten. Am Strand bellte ihnen ein nasser Hund entgegen und schüttelte sich das Wasser aus dem Fell. Selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, wo sich seine borstigen Haare in Schichten aufgeteilt hatten.

Ich bog nach links in die Bay Street ein. Vor dem Hintergrund aus Immergrün konkurrierten üppig wuchernde hellrosa und orangefarbene Geranien mit magentaroten Bougainvilleen, die über die Zäune in meinem Viertel wallten. Beiläufig fragte ich mich, wo ich mit der Suche nach Guy Malek anfangen sollte. Er war seit siebzehn Jahren verschwunden, und die Aussichten, ihn aufzuspüren, waren nicht gerade rosig. Ein solcher Auftrag erfordert Einfallsreichtum, Geduld und systematisches Vorgehen, aber der Erfolg hängt manchmal von reinem Glück und einer Spur Zauberei ab. Versuchen Sie mal, einem Kunden auf dieser Grundlage eine Rechnung zu stellen.

Sobald ich wieder zu Hause war, wusch ich mir das Make-up vom Gesicht, schlüpfte in meine Reeboks und tauschte meinen Blazer gegen ein rotes Sweatshirt ein. Unten in der Kochnische schaltete ich das Radio an und stellte den Sender mit dem Elvis-Marathon ein, der immer noch im Gange war. Mit lautlosen Lippenbewegungen sang ich den Text von »Jailhouse Rock« mit und tanzte hüftschwenkend im Wohnzimmer umher. Dann holte ich einen Stadtplan heraus und breitete ihn auf meinem Küchentresen aus. Ich stützte mich mit immer noch tanzendem Hinterteil auf die Ellbogen und suchte die Straße, in der die Maleks wohnten. Die Verdugo war ein schmales Sträßchen zwischen zwei parallel verlaufenden Straßen, die aus den Bergen herabführten. In dieser Gegend kannte ich mich nicht gut aus. Ich legte Donovans Visitenkarte auf den Tresen neben den Stadtplan, griff nach dem Wandtelefon und wählte die vorne abgedruckte Nummer.

Von der Empfangsdame der Firma wurde ich zu einer Sekretärin durchgestellt, die mir mitteilte, daß Malek draußen im Gelände sei, aber jeden Moment im Büro zurückerwartet werde. Ich nannte ihr meinen Namen und meine Telefonnummer und erklärte, was ich von ihm wollte. Sie sagte, sie werde ihn bitten, mich zurückzurufen. Ich hatte gerade aufgelegt, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. Ich öffnete das Bullauge und sah mich Robert Dietz gegenüber.

Ich machte die Haustür auf. »Ja, wen haben wir denn da?« sagte ich. »Wo es doch erst zwei Jahre, vier Monate und zehn Tage her ist.«

»Wirklich schon so lang?« fragte er milde. »Ich bin gerade aus Los Angeles hochgefahren. Darf ich reinkommen?«

Ich trat einen Schritt zurück, und er ging an mir vorbei. Elvis hatte soeben zu »Always On My Mind« angesetzt, das ich offen gestanden in diesem Moment nicht vertragen konnte. Ich griff hinüber und machte das Radio aus. Dietz trug immer noch die gleichen Blue jeans, die gleichen Cowboy-Stiefel und das gleiche Sportsakko aus Tweed. Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte er dieselbe Kluft getragen, während er an der Wand eines Krankenhauszimmers lehnte, wo ich bewacht wurde, nachdem mich ein bezahlter Killer von der Straße abgedrängt hatte. Jetzt war er zwei Jahre älter, womit er ungefähr fünfzig sein mußte, kein schlechtes Alter für einen Mann. Er hatte im November Geburtstag, ein dreifacher Skorpion, für diejenigen, die darauf etwas geben. Die letzten drei Monate unserer Beziehung hatten wir zusammen im Bett verbracht, wenn wir nicht draußen am Schießstand waren und Schießübungen mit mosambikanischen Pistolen machten. Eine Liebesaffäre unter Privatdetektiven ist eine merkwürdige und wundersame Angelegenheit. Er wirkte ein bißchen massiger, aber das lag daran, daß er mit dem Rauchen aufgehört hatte – vorausgesetzt, er hatte nicht doch wieder angefangen ...

»Möchtest du einen Kaffee?« fragte ich.

»Gern. Wie geht’s dir? Du siehst gut aus. Der Haarschnitt gefällt mir.«

»Vierzig Dollar. So eine Verschwendung! Ich hätte es selbst machen sollen.« Ich suchte alles Nötige für eine Kanne Kaffee zusammen und nutzte die häusliche Beschäftigung, um meine Gefühlslage zu ergründen. Eigentlich empfand ich nicht viel. Ich freute mich, ihn zu sehen, genauso wie ich mich über die Begegnung mit jedem alten Freund gefreut hätte, doch über eine gewisse Neugier hinaus blieb mir ein Aufwallen der sexuellen Chemie erspart. Ich verspürte weder heftige Freude angesichts seines Auftauchens noch Ärger darüber, daß er unangemeldet gekommen war. Er war ein impulsiver Mann: ungeduldig, ruhelos, sprunghaft. Er sah müde aus, und sein Haar wirkte wesentlich grauer, fast aschgrau um die Ohren. Er setzte sich auf einen meiner Küchenhocker und lehnte die Unterarme auf den Tresen.

Ich schaltete die Kaffeemaschine ein und stellte die Tüte mit dem gemahlenen Kaffee wieder in den Kühlschrank. »Wie war’s in Deutschland?«

Dietz war ein Privatdetektiv aus Carson City, Nevada, der sich auf Personenschutz spezialisiert hatte. Er hatte das Land verlassen, um nach Deutschland zu gehen, wo er antiterroristische Trainingsprogramme für Militärstützpunkte in Übersee leitete. Er antwortete: »Gut, solange es lief. Irgendwann blieben die Gelder aus. Heutzutage will Uncle Sam keine Mäuse mehr für so was rauswerfen. Aber es hat mich sowieso angeödet: als Mann mittleren Alters durchs Unterholz zu kriechen. Ich mußte zwar nicht unbedingt mit ihnen rausgehen, aber ich konnte es nicht lassen.«

»Und was bringt dich wieder her? Arbeitest du an einem Fall?«

»Ich will die Küste hochfahren, um die Jungs in Santa Cruz zu besuchen.« Dietz hatte zwei Söhne mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin, einer Frau namens Naomi, die sich standhaft geweigert hatte, ihn zu heiraten. Sein älterer Sohn Nick war inzwischen vermutlich zwanzig. Ich wußte nicht genau, wie alt der jüngere Sohn war.

»Ah. Und wie geht es ihnen?«

»Phantastisch. Sie müssen diese Woche irgendwelche Hausarbeiten abgeben, also habe ich gesagt, ich würde noch bis Samstag warten und dann erst hochkommen. Wenn sie ein paar Tage frei kriegen, würde ich gern ein bißchen mit ihnen wegfahren.«

»Mir ist aufgefallen, daß du hinkst. Woher kommt das?«

Er tätschelte seinen linken Oberschenkel. »Ein kaputtes Knie«, antwortete er. »Hab mir bei Nachtmanövern den Meniskus gerissen, als ich über ein Schlagloch gestolpert bin. Das ist jetzt schon die zweite Meniskusverletzung, und die Docs sagen, ich müßte mir eine Knieplastik machen lassen. An einer Operation bin ich nicht interessiert, aber ich habe mich bereit erklärt, dem Knie etwas Ruhe zu gönnen. Außerdem bin ich ausgelaugt. Ich brauchte einen Tapetenwechsel.«

»Du warst auch ausgelaugt, bevor du weggegangen bist.«

»Nicht ausgelaugt. Ich habe mich gelangweilt. Aber ich glaube, weder das eine noch das andere läßt sich dadurch heilen, daß man immer weiter das gleiche macht.« Dietz’ graue Augen waren sehr klar. Er war auf seine ungewöhnliche Weise ein gutaussehender Mann. »Ich dachte, ich könnte vielleicht ein paar Tage auf deiner Couch kampieren, wenn du nichts dagegen hast. Ich soll möglichst wenig auf den Beinen sein und mir Eis aufs Knie legen.«

»Also wirklich! Das ist ja reizend. Du verschwindest für zwei Jahre aus meinem Leben, und dann tauchst du wieder auf, weil du eine Krankenschwester brauchst? Vergiß es.«

»Ich verlange nicht von dir, daß du dir Umstände machst«, sagte er. »Ich nehme an, du hast zu tun, also bist du doch ohnehin den ganzen Tag unterwegs. Ich sitze einfach hier und lese oder sehe fern und kümmere mich um meinen eigenen Kram. Ich habe sogar meine eigenen Eisbeutel dabei, die man ins Kühlfach legt. Ich will nicht, daß irgendwer um mich herumschwirrt. Du wirst keinen Finger krumm machen müssen.«

»Findest du es nicht ein klein wenig aufdringlich, mich auf diese Art damit zu überfallen?«

»Es ist nicht aufdringlich, solange du die Möglichkeit hast, nein zu sagen.«

»Oh, klar. Und Schuldgefühle entwickle? Das sehe ich anders«, sagte ich.

»Warum solltest du Schuldgefühle entwickeln? Schmeiß mich raus, wenn es dir nicht paßt. Was ist denn los mit dir? Wenn wir einander nicht die Wahrheit sagen können, wozu soll dann eine Beziehung gut sein? Tu, was du willst. Ich kann mir ein Motel suchen oder heute abend noch die Küste hinauffahren. Ich dachte nur, es wäre nett, ein bißchen zusammenzusein.«

Ich beäugte ihn mißtrauisch. »Ich werd’s mir überlegen.« Es hatte keinen Sinn, ihm zu sagen – nachdem ich schon kaum bereit war, es mir selbst gegenüber zuzugeben –, wie stumpf mir das Licht in den Tagen nach seiner Abreise vorgekommen war, wie sich jedesmal Beklemmung in mir geregt hatte, wenn ich nach Hause in die leere Wohnung kam, wie Musik mir ständig geheime Botschaften zuzuflüstern schien. Friß oder stirb. Es schien keinen Unterschied zu machen. Hundertmal hatte ich mir seine Rückkehr ausgemalt, aber nie auf diese Art. Nun war die Stumpfheit eine innerliche geworden, und all meine früheren Gefühle für ihn hatten sich von leidenschaftlichem Engagement zu gelindem Interesse – bestenfalls – gewandelt.

Dietz hatte mich beobachtet, und sein Blinzeln zeigte mir, daß er verblüfft war. »Bist du wegen irgend etwas sauer?«

»Überhaupt nicht«, sagte ich.

»Doch, bist du.«

»Nein, bin ich nicht.«

»Weswegen bist du denn so sauer?«

»Würdest du das bitte lassen. Ich bin nicht sauer.«

Er musterte mich einen Augenblick lang, dann hellte sich seine Miene auf. Er sagte: »Ohhh, jetzt hab ich’s kapiert. Du bist sauer, weil ich gegangen bin.«

Ich spürte, wie meine Wangen Farbe bekamen, und brach den Blickkontakt ab. Ich stellte den Salz- und den Pfefferstreuer so nebeneinander, daß sich ihre Standflächen gerade berührten. »Ich bin nicht sauer, weil du gegangen bist. Ich bin sauer, weil du zurückgekommen bist. Endlich habe ich mich ans Alleinsein gewöhnt, und jetzt bist du wieder da. Wo bleibe ich dabei?«

»Du hast gesagt, du seist gern allein.«

»Stimmt. Ich kann es aber nicht leiden, zuerst aufgenommen und dann wieder fallen gelassen zu werden. Ich bin kein Haustier, das du nach Belieben ins Tierheim stecken und wieder abholen kannst.«

Sein Lächeln erstarb. »›Fallen gelassen‹? Du bist nicht fallen gelassen worden. Was soll denn das heißen?«

In diesem Moment klingelte das Telefon und ersparte uns weitere Diskussionen. Donovan Maleks Sekretärin sagte: »Miss Millhone? Ich habe Mr. Malek für Sie am Apparat. Können Sie einen Moment dranbleiben?«

»Ja, ich warte.«

Dietz sagte mit lautlosen Lippenbewegungen: Bist du nicht.

Ich streckte ihm die Zunge heraus. Manchmal wirke ich sehr reif.

Donovan Malek kam ans Telefon und meldete sich. »Guten Tag, Miss Millhone ...«

»Nennen Sie mich doch Kinsey.«

»Danke. Hier ist Donovan Malek. Ich habe gerade mit Tasha Howard gesprochen, und sie hat mir erzählt, daß sie heute mittag mit Ihnen geredet hat. Ich nehme an, sie hat Sie über die Lage unterrichtet.«

»Weitgehend«, sagte ich. »Können wir uns irgendwie treffen? Tasha möchte alles so schnell wie möglich vom Tisch haben.«

»Ganz meine Meinung. Hören Sie, ich habe ungefähr eine Stunde Zeit, bevor ich woandershin muß. Ich kann Ihnen ein paar grundlegende Informationen geben – Guys Geburtsdatum, seine Sozialversicherungsnummer und ein Foto, wenn Ihnen das etwas nützt«, sagte er. »Möchten Sie kurz hier rauskommen?«

»Klar, das kann ich machen«, sagte ich. »Was ist mit Ihren Brüdern? Besteht die Möglichkeit, daß ich auch mit ihnen sprechen kann?«

»Natürlich. Bennet hat gesagt, er käme heute nachmittag gegen vier nach Hause. Ich rufe Myrna an – das ist die Haushälterin – und lasse ausrichten, daß Sie ihn sprechen möchten. Bei Jack bin ich mir nicht so sicher. Er ist ein bißchen schwerer zu erwischen, aber das kriegen wir schon hin. Was Sie von mir nicht erfahren, können Sie sich von den beiden sagen lassen. Wissen Sie, wo ich bin? Auf der Dolores draußen in Colgate. Sie fahren an der Ausfahrt nach Peterson ab, dann über den Freeway und ein Stück zurück. Von da aus ist es die zweite Straße rechts.«

»Klingt gut. Bis gleich.«

Als ich den Hörer auflegte, sah Dietz auf seine Uhr. »Du bist also unterwegs. Ich muß mich bei einem alten Freund melden und werde ein Weilchen weg sein. Hast du später Zeit?«

»Erst ab sechs oder so. Kommt auf meinen Termin an. Ich versuche, einen Mann aufzuspüren, der seit siebzehn Jahren verschwunden ist, und ich möchte mir gern ein paar Hintergrundinformationen von seiner Familie besorgen.«

»Ich lade dich zum Essen ein, wenn du noch nichts gegessen hast, oder wir können ausgehen und etwas trinken. Ich möchte dir wirklich nicht zur Last fallen.«

»Das können wir später besprechen. In der Zwischenzeit brauchst du aber einen Schlüssel.«

»Das wäre gut. Dann kann ich noch duschen, bevor ich mich auf die Socken mache, und abschließen, wenn ich gehe.«

Ich zog die Krimskrams-Schublade in der Küche auf, nahm den Ersatzschlüssel, der an seinem eigenen Ring hin, heraus und schob ihn über den Tresen.

»Ist dir das auch recht? Ich weiß, daß du nicht gern belagert wirst. Ich kann mir auch ein kleines Zimmer auf dem Cabana nehmen, wenn du lieber Ruhe und Frieden möchtest.«

»Momentan ist es mir recht. Wenn es mir zuviel wird, sage ich es. Laß uns einfach improvisieren«, sagte ich. »Ich hoffe, du magst den Kaffee schwarz. Es gibt weder Milch noch Zucker. Tassen sind da oben.«

Er steckte den Schlüssel in die Tasche. »Ich weiß, wo die Tassen sind. Bis später.«

Malek Construction bestand aus einer Reihe miteinander verbundener Wohnwagen, die wie Dominosteine angeordnet waren und in einer Sackgasse in einem Industriepark standen. Hinter den Büros befand sich eine asphaltierte Fläche voller roter Fahrzeuge: Lieferwagen, Zementmischer, Kipper und Straßenbaumaschinen, alle mit dem weiß-roten Firmenlogo. Eine zweistöckige Werkstatt aus Wellblech erstreckte sich entlang der Rückseite des Grundstücks, offenbar angefüllt mit Wartungs-und Reparaturwerkzeug für den immensen Fuhrpark der Firma. Auch Zapfsäulen standen bereit. Auf der einen Seite sah ich vor einem Gewirr von Büschen sechs leuchtendgelbe Kettenschlepper und zwei John-Deere-Planierraupen stehen. Männer mit Helmen und roten Overalls gingen ihrer Arbeit nach. Die Ruhe wurde vom Rumpeln näher kommender Schwerfahrzeuge, einem gelegentlichen schrillen Pfeifton und dem ständigen Piep-piep-piep, wenn ein Fahrzeug rückwärts fuhr, durchbrochen.

Ich parkte auf der anderen Seite auf einem Besucher-Parkplatz neben Jeeps, Cherokee Rangers und zerbeulten Pickups. Auf dem kurzen Weg zum Eingang konnte ich den Verkehr vom nahen Freeway sowie das Brummen eines Kleinflugzeugs hören, das auf den im Westen gelegenen Flughafen zuflog. Die Inneneinrichtung des Büros zeugte von einer vernünftigen Mischung aus gutem Geschmack und Sinn fürs Praktische: glänzende Walnußpaneele, stahlblauer Teppichboden, dunkelblaue Aktenschränke und dazu passende dunkelrote Tweed-Polstermöbel. Bei den männlichen Angestellten bestand die Standardkluft offenbar aus Krawatte, Hemd und Hose ohne Anzugjacke. Die Schuhe sahen aus, als könnte man mit ihnen gut über Sand und Kies gehen. Die Kleiderordnung für Frauen schien weniger strikt zu sein. Es herrschte eine angeregte Atmosphäre. Polizeireviere haben die gleiche Ausstrahlung; jeder ist in die Arbeit vertieft.

Im Vorraum, wo ich wartete, lagen nur branchentypische Zeitschriften, Exemplare von Pit & Quarry, Rock Products, Concrete Journal und Asphalt Contractor. Ein kurzer Blick genügte, um mich davon zu überzeugen, daß es hier um Themen ging, die mir nicht mal im Traum eingefallen wären. Ich las kurz über Ovalloch-Hohlformen und Mehrzweck-Beimischungen, motorgetriebene ausziehbare Betonrutschen und fahrbare Betonrecyclinganlagen. Mannomannomann! Manchmal mußte ich über die Abgründe meiner Unwissenheit staunen.

»Kinsey? Ich bin Donovan Malek«, sagte jemand.

Ich sah auf, legte die Zeitschrift beiseite und stand auf, um ihm die ausgestreckte Hand zu schütteln. »Nennt man Sie Don oder Donovan?«

»Donovan ist mir lieber, wenn es Ihnen recht ist. Meine Frau kürzt es zwar manchmal zu Don ab, aber ich lasse es nur ihr ab und zu durchgehen. Danke, daß Sie so pünktlich sind. Kommen Sie mit nach hinten in mein Büro, dann können wir uns unterhalten. « Malek hatte helles Haar und war frisch rasiert. Sein Gesicht war breit und von Falten durchzogen, er trug eine Hornbrille und hatte dunkelbraune Augen. Ich schätzte ihn auf einsachtzig und vielleicht hundert Kilo. Er trug Chinos und ein kurzärmliges, milchkaffeefarbenes Hemd. Er hatte seine Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet wie ein Mann, der keine Einschränkungen mag und an chronischer Überhitzung leidet. Ich folgte ihm durch eine Hintertür und über eine Veranda aus Holzbohlen, die mehrere Wohnwagen von doppelter Breite verband. Die Klimaanlage in seinem Büro summte gleichmäßig, als wir hereinkamen.

Der Wohnwagen, in dem er residierte, war in drei gleich große Büros unterteilt, die sich eines hinter dem anderen vom Vorderteil des Wagens bis zu seiner Rückseite erstreckten. Lange Leuchtstoffröhren warfen ein kaltes Licht über die weißen Resopalplatten der Schreib- und Zeichentische. Breite Ablageflächen waren übersät mit technischen Handbüchern, Projektberichten, Baubeschreibungen und Entwürfen. Stabile Bücherregale aus Metall, die mit Aktendeckeln vollgestopft waren, säumten fast überall die Wände. Donovan schien in seiner Umgebung keine Privatsekretärin zu haben, und ich mußte vermuten, daß eine der Frauen in den vorderen Räumen seine Anrufe beantwortete und ihm die Schreibarbeit abnahm.

Er bot mir einen Stuhl an und setzte sich selbst auf einen hochlehnigen Ledersessel hinter seinen Schreibtisch. Dann beugte er sich zur Seite und zog aus einem Bücherregal ein Jahrbuch von einer High School in Santa Teresa, das er auf einer mit einer Büroklammer markierten Seite aufschlug. Er streckte den Arm aus und reichte es mir herüber. »Guy mit sechzehn. Wer weiß, wie er heute aussieht.« Er lehnte sich zurück und wartete meine Reaktion ab.

Der Junge, der mir aus dem Foto entgegenblickte, hätte einer meiner Klassenkameraden sein können, obwohl er einige Jahre älter war als ich. Das Schwarzweißfoto im Format fünf mal fünf Zentimeter zeigte ihn mit relativ langem, hellem und lockigem Haar. Auf seinen Zähnen saß eine Zahnspange, die durch die leicht geöffneten Lippen glitzerte. Er hatte einen unreinen Teint, störrische Augenbrauen und lange blonde Koteletten. Sein Hemd war aus einem Stoff mit wildem Blumenmuster. Ich hätte auf ausgestellte Hosen und einen breiten Ledergürtel gewettet, obwohl nichts davon auf dem Bild zu sehen war. Meiner Meinung nach sollten sämtliche High-School-Jahrbücher eingesammelt und verbrannt werden. Kein Wunder, daß wir alle unter mangelndem Selbstwertgefühl litten. Was waren wir doch für ein Haufen von Spinnern! Ich sagte: »Er sieht genauso aus wie ich in seinem Alter. In welchem Jahr hat er seinen Abschluß gemacht?«

»Er hat keinen gemacht. Er wurde sechsmal vom Unterricht ausgeschlossen und ist schließlich abgegangen. Soweit ich weiß, hat er nicht einmal sein letztes Zeugnis abgeholt. Er hat mehr Zeit in der Besserungsanstalt als zu Hause verbracht.«

»Tasha hat von strafbaren Handlungen gesprochen. Können Sie mir davon erzählen?«

»Sicher, wenn mir einfällt, wo ich anfangen soll. Erinnern Sie sich noch an das Gerücht, man könne von Aspirin und Coca-Cola high werden? Er ist sofort losgezogen und hat es ausprobiert. Der Junge war schwer enttäuscht, als es keinerlei Wirkung zeigte. Damals war er in der achten Klasse. Wenn ich all die sogenannten ›harmlosen Streiche‹, die er sich damals geleistet hat, außer acht lasse, würde ich sagen, daß seine ersten gravierenden Gesetzesverstöße noch in seiner Schulzeit lagen, als er zweimal wegen Marihuanabesitz festgenommen wurde. Er hing dick in der Drogenszene drin: Gras, Speed, Uppers, Downers. Wie hieß das Zeug damals noch? Reds und Yellow Jackets und irgend etwas namens Soapers. LSD und Halluzinogene kamen ungefähr zur selben Zeit auf. Damals nahmen Teenager weder Heroin noch Kokain, und von Crack hatte noch kein Mensch was gehört. Das ist wohl eine neuere Entwicklung. Eine Zeitlang hat er Klebstoff geschnüffelt, aber er sagte, daß ihm die Wirkung nicht behagte. Der Junge war ein Connaisseur, wenn es darum ging, high zu sein«, sagte er verächtlich. »Um für den Stoff zu bezahlen, hat er praktisch alles geklaut, was nicht niet-und nagelfest war. Autos hat er gestohlen und schwere Maschinen von Daddys Baustellen. Sie können sich bestimmt ein Bild davon machen.«

»Die Frage mag Ihnen seltsam erscheinen, aber war er beliebt?«

»Das war er in der Tat. Das Foto macht nicht viel her, aber er war ein gutaussehender Junge. Er war zwar unverbesserlich, aber er besaß eine Art von trotteliger Freundlichkeit, die andere Leute offenbar anziehend fanden, vor allem die Mädchen.«

»Warum? Weil er gefährlich war?«

»Ich kann es wirklich nicht erklären. Er gab sich als schüchterne, tragische Figur, so als könnte er gar nicht anders. Er hatte nur einen Freund, einen Jungen namens Paul Trasatti.«

»Wohnt der noch hier in der Gegend?«

»Klar. Er und Jack spielen zusammen Golf. Bennet ist auch mit ihm befreundet. Sie können ihn fragen, wenn Sie mit ihm sprechen. An andere Freunde kann ich mich jetzt aus dem Stegreif nicht erinnern.«

»Sie selbst sind damals nicht mit Guy herumgezogen?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden ließ«, sagte er. »Ich bemühte mich, soviel Distanz wie möglich zwischen uns zu schaffen. Es wurde so schlimm, daß ich die Tür zu meinem Zimmer abschließen mußte, damit er nicht alles davontrug. Er hat geklaut, was ihm zwischen die Finger kam. Stereoanlagen und Schmuck. Manches des Geldes wegen und manches nur, um Ärger zu machen. Nachdem er achtzehn geworden war, ließ er sich ein bißchen mehr einfallen, da das Risiko höher war. Dad sagte ihm schließlich klipp und klar, daß er ihn gnadenlos zur Sau machen werde, wenn er noch einmal Scheiße baute. Entschuldigen Sie meine krasse Ausdrucksweise, aber ich rege mich immer noch auf, wenn ich an diese Geschichte denke.«

»Hat er daraufhin das Haus verlassen?«

»Daraufhin hat er sich eine andere Taktik zugelegt. Oberflächlich betrachtet machte er reinen Tisch und fing an, hier draußen zu arbeiten, in der Wartungswerkstatt. Er war schlau, das muß ich ihm lassen. Wußte mit seinen Händen umzugehen und hatte was auf dem Kasten. Er muß diese Firma als Erfüllung seiner Wünsche gesehen haben. Er hat Schecks auf Dads Konten gefälscht. Er hat die Firmenkreditkarte benutzt, um Waren zu bezahlen, und das Zeug dann verkauft. Dad, Gott segne ihn, hat ihn immer noch gedeckt. Ich habe ihn gebeten, Guy fallen zu lassen, aber er konnte sich einfach nicht dazu durchringen. Guy hielt ihn hin, indem er eine Lüge nach der anderen erzählte.

Was soll ich Ihnen sagen? Dad wollte ihm glauben. Er stellte ihn zur Rede. Ich meine, es hatte den Anschein, als würde er diesmal wirklich hart durchgreifen, aber wenn es wirklich zur Sache ging, gab er regelmäßig nach und bot ihm noch ›eine letzte Chance‹ an. Herrgott, ich hatte die Schnauze voll davon, ihn das sagen zu hören. Ich tat, was ich konnte, um die Hintertürchen zuzumachen, aber damit kam ich auch nicht besonders weit.« Donovan tippte sich gegen die Schläfe. »Bei dem Jungen war eine Schraube locker. Ihm hat wirklich ein wichtiges Zahnrädchen in der Moralabteilung gefehlt. Jedenfalls war das letzte Ding, das er gedreht hat – das kam allerdings erst raus, als er schon ein paar Monate weg war –, eine Gaunerei, bei der er eine arme alte Witwe um ihren Notgroschen gebracht hat. Das brachte das Faß zum Überlaufen. Dad hatte ihn zwar bereits vor die Tür gesetzt, aber wir saßen nun trotzdem mit dem Scherbenhaufen da.«

»Wo waren Sie damals? Sie haben ja vermutlich schon für Ihren Vater gearbeitet.«

»O ja. Ich hatte damals bereits meinen College-Abschluß gemacht, war in Vietnam gewesen und wieder zurückgekommen und arbeitete hier als Bergbauingenieur. Ich habe an der Colorado School of Mines studiert. Mein Dad war Bauingenieur. Er hat Malek Construction 1940 gegründet, im selben Jahr, in dem ich zur Welt kam, und 1943 hat er sich seine erste Kiesgrube zugelegt. Zuerst waren wir eine Baufirma, und schließlich gehörten uns all unsere Rohstoffe selbst. Ja, wir haben die Firma auf dieser Grundlage aufgebaut, weil uns das einen Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Es gibt eine Menge Baufirmen hier in der Gegend, die nicht über eigene Rohstoffe verfügen, und die kaufen dann bei uns. Ich bin der einzige der Söhne, der in den Familienbetrieb eingestiegen ist. Ich habe erst mit fünfunddreißig geheiratet.«

»Ich habe gehört, daß Ihre Mutter in dem Jahr gestorben ist, als Guy das Haus verlassen hat«, sagte ich.

»Das stimmt. Etwa zehn Jahre zuvor war bei ihr Lungenkrebs diagnostiziert worden. Hat gekämpft wie eine Straßenkatze und trotzdem verloren. Das ganze Theater hat ihr bestimmt auch nicht gutgetan. Dad hat nie wieder geheiratet. Er schien es einfach nicht übers Herz zu bringen. Das einzige, woran ihm noch etwas lag, war die Firma, und deshalb war ich auch so erstaunt über das Testament. Meiner Meinung nach kann er nicht einmal 1965 gewollt haben, daß Guy auch nur einen Nickel aus seinem Nachlaß bekommt.«

»Vielleicht findet ja noch jemand das zweite Testament.«

»Das würde mich freuen, aber ich habe schon das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Im Safe war nichts dergleichen. Mir graut schon davor, was passieren wird, wenn Guy wieder auftaucht.«

»Soll heißen?«

»Er wird in irgendeiner Form Ärger machen. Das garantiere ich Ihnen.«

Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er sich geändert. Manchmal kommen die Leute zur Vernunft.«

Donovan machte eine ungeduldige Geste. »Klar, und manchmal gewinnt man im Lotto, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen. So ist es eben, und ich schätze, wir werden damit leben müssen.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Nein. Und ich liege auch nachts nicht wach und grüble darüber nach. Offen gestanden macht es mich ganz irre, wenn ich mir vorstelle, daß er zurückkommt, um sich hier niederzulassen. Mir ist klar, daß er von Gesetzes wegen Anspruch auf seinen Anteil am Nachlaß hat, aber ich finde, er sollte Anstand beweisen und die Finger davon lassen.« Er nahm einen Zettel und schob ihn mir herüber. »Geburtsdatum und Sozialversicherungsnummer. Sein zweiter Vorname ist David. Was kann ich Ihnen sonst noch sagen?«

»Wie lautet der Mädchenname Ihrer Mutter?«

»Patton. Brauchen Sie das zur Feststellung der Identität?«

»Genau. Wenn ich ihn finde, hätte ich gern etwas in der Hand, das mir bestätigt, daß es sich tatsächlich um Guy handelt.«

»Sie denken an einen Schwindler? Das kann ich mir nur schwer vorstellen«, sagte er. »Wer möchte denn schon der Ersatzmann für einen solchen Versager sein?«

Ich lächelte. »So weit hergeholt ist das nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber es ist alles schon dagewesen. Sie wollen doch nicht am Ende einem Wildfremden Geld geben.«

»Da haben Sie recht. Ich bin ganz und gar nicht davon angetan, ihm das Geld zu geben. Leider liegt die Entscheidung nicht bei mir. Gesetz ist Gesetz«, sagte er. »Jedenfalls überlasse ich das Ihnen. Er hat schon wüst gelebt und wüst gesoffen, bevor er einundzwanzig wurde. Über seinen momentanen Aufenthaltsort weiß ich auch nicht mehr als Sie. Brauchen Sie sonst noch etwas?«

»Das wäre für den Moment alles. Ich spreche noch mit Ihren Brüdern, und dann sehen wir ja, wie weit wir kommen.« Ich erhob mich, und wir schüttelten uns über dem Tisch die Hände. »Danke, daß Sie Zeit für mich hatten.«

Donovan kam hinter seinem Schreibtisch hervor und brachte mich zur Tür.

Ich sagte: »Tasha hat ja sicher die entsprechenden Anzeigen in die Lokalzeitung setzen lassen. Womöglich bekommt Guy Wind davon, falls er nicht bereits im Bilde ist.«

»Wie das?«

»Vielleicht hat er noch Kontakt zu irgend jemandem, der hier lebt.«

»Hm. Das ist wohl möglich. Ich weiß nicht, zu wieviel Aufwand wir noch verpflichtet sind. Wenn er nicht auftaucht, vermute ich, daß sein Anteil am Nachlaß eine gewisse Zeit lang auf einem Treuhandkonto bereitgehalten werden muß. Aber danach, wer weiß? Jedenfalls besteht Tasha darauf, daß wir die Geschichte klären, und mit ihr will sich schließlich niemand anlegen.«

»Wohl nicht«, sagte ich. »Außerdem ist ein Abschluß immer etwas Schönes.«

»Kommt darauf an, worum es geht.«

Goldgrube

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