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Juristisch wird Mord definiert als die »vorsätzliche Tötung eines Menschen durch einen anderen«. Manchmal wird die Formulierung »aus niedrigen Beweggründen« hinzugefügt, um dadurch Mord von den zahlreichen anderen Gelegenheiten zu unterscheiden, bei denen Menschen sich gegenseitig umbringen – wobei einem als erstes Kriege und Hinrichtungen einfallen. Die »niedrigen Beweggründe« aus dem Gesetzbuch meinen nicht unbedingt Haß oder auch nur Böswilligkeit, sondern beziehen sich auf den bewußten Wunsch, einem anderen gravierende Verletzungen zuzufügen oder seinen Tod zu verursachen. Meist ist Mord eine intime, private Angelegenheit, da die meisten Mordopfer von nahen Verwandten, Freunden oder Bekannten umgebracht werden. Grund genug, Distanz zu wahren, wenn Sie mich fragen.

In Santa Teresa, Kalifornien, werden ungefähr fünfundachtzig Prozent aller Mordfälle aufgeklärt, was bedeutet, daß der Täter identifiziert und verhaftet wird und ein Gericht über seine Schuld oder Unschuld entscheidet. Die Opfer ungelöster Mordfälle stelle ich mir als widerspenstige Tote vor: Menschen, die sich in einem eigentümlichen Schwebezustand befinden, irgendwo zwischen Leben und Tod, ruhelos, unzufrieden und voller Sehnsucht nach Erlösung. Es ist eine wunderliche Vorstellung für jemanden, der im allgemeinen nicht zu Hirngespinsten neigt, aber ich denke mir, daß diese Seelen in einer beklemmenden Beziehung zu jenen stehen, die sie umgebracht haben. Ich habe mit Beamten vom Morddezernat gesprochen, die von ähnlichen Phantasien heimgesucht wurden, gehetzt von bestimmten Opfern, die noch unter uns zu weilen scheinen und hartnäckig an ihrem Wunsch nach Vergeltung festhalten. In dem Dämmerbereich, wo Wachen in Schlafen übergeht, in diesem bleiernen Moment, kurz bevor der Geist aus seinem bewußten Zustand sinkt, kann ich sie manchmal murmeln hören. Sie betrauern sich selbst. Sie singen das Wiegenlied der Ermordeten. Sie flüstern die Namen ihrer Angreifer, dieser Männer und Frauen, die nach wie vor frei herumlaufen, unerkannt, unbehelligt, ungestraft, reuelos. In solchen Nächten schlafe ich nicht gut. Ich liege wach, lausche, in der Hoffnung, eine Silbe, einen Satz aufzuschnappen, und strenge mich an, in dieser Liste von Verschwörern den Namen eines Mörders herauszuhören. Der Mord an Lorna Kepler hat mich jedenfalls in dieser Form bedrängt, obwohl ich die wahren Umstände ihres Todes erst Monate später herausfand.

Es war Mitte Februar an einem Sonntag, und ich arbeitete noch spät und ordnete tugendhaft die Belege meiner Ausgaben und Einnahmen für die Steuererklärung. Ich fand, daß es an der Zeit war, meine Angelegenheiten wie eine Erwachsene zu regeln, anstatt alles in eine Schuhschachtel zu stopfen und sie im letzten Moment meinem Steuerberater vorbeizubringen. Dieser Griesgram! Jedes Jahr bellt der Mann mich an, und dann muß ich schwören, mich zu bessern, ein Versprechen, das ich ernst nehme, bis es wieder Zeit für die Steuer ist und ich feststelle, daß meine Finanzen ein komplettes Chaos sind.

Ich saß an meinem Schreibtisch in der Anwaltskanzlei, wo ich ein Büro gemietet habe. Nach kalifornischen Maßstäben war es eine kalte Nacht; die Außentemperatur lag nämlich bei zehn Grad. Ich war allein in den Räumen, umfangen von einem warmen, schläfrig machenden Lichtschein, während die anderen Büros dunkel und still dalagen. Ich hatte gerade Kaffee aufgesetzt, um der Schlafsucht entgegenzuwirken, die mich bei Geldangelegenheiten befällt. Ich legte den Kopf auf die Schreibtischplatte und lauschte dem beruhigenden Gurgeln des Wassers, das durch die Kaffeemaschine lief. Nicht einmal der Duft des Mokkas reichte aus, um meine müden Geister in Schwung zu bringen. Noch fünf Minuten, und ich wäre weggedämmert, hätte sabbernd auf meinem Ordner gelegen und auf meiner rechten Wange hätten sich tintige Wortfetzen in Spiegelschrift abgebildet.

Ich hörte ein Klopfen am Seiteneingang, hob den Kopf und spitzte wie ein Wachhund ein Ohr in die entsprechende Richtung. Es war schon fast zehn Uhr, und ich erwartete keine Besucher. Trotzdem erhob ich mich, verließ den Schreibtisch und ging auf den Flur hinaus. Ich legte den Kopf an die Seitentür, die in die Vorhalle führte. Das Klopfen wiederholte sich, diesmal wesentlich lauter. »Ja?« sagte ich.

Eine erstickte, weibliche Stimme antwortete. »Ist da Millhone Investigations?«

»Wir haben geschlossen.«

»Was?«

»Moment, bitte.« Ich legte die Kette vor die Tür, öffnete sie einen Spalt weit und sah zu ihr hinaus.

Sie war weit in den Vierzigern und trug modische Western-Kleidung: Stiefel, ausgebleichte Jeans und ein grobes Wollhemd. Dazu hatte sie sich mit so viel schwerem Silber- und Türkisschmuck behängt, daß man fürchtete, sie würde gleich damit rasseln. Das dunkle Haar reichte ihr fast bis zur Taille, und sie trug es offen, leicht gekräuselt und rostrot gefärbt. »Entschuldigen Sie die Störung, aber unten steht, hier oben gäbe es einen Privatdetektiv. Ist er vielleicht noch da?«

»Ah. Na ja, mehr oder weniger«, sagte ich, »aber momentan sind eigentlich keine offiziellen Bürostunden. Könnten Sie eventuell morgen wiederkommen? Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen einen Termin zu geben, nachdem ich im Kalender nachgeschaut habe.«

»Sind Sie seine Sekretärin?« Ihr gebräuntes Gesicht bildete ein unregelmäßiges Oval, rechts und links ihrer Nase zogen sich zwei scharfe Falten nach unten, und vier Falten zeichneten sich zwischen ihren Augen ab, wo sie die Brauen fast restlos weggezupft und mit Schwarz nachgezogen hatte. Für den Lidstrich hatte sie den gleichen spitzen Stift benutzt, während sie – soweit ich sehen konnte – sonst kein Make-up trug.

Ich versuchte, nicht verärgert zu klingen, da der Irrtum häufiger vorkommt. »Ich bin der Detektiv«, sagte ich. »Millhone Investigations. Mein Name ist Kinsey Millhone. Haben Sie mir Ihren genannt?«

»Nein, Entschuldigung, habe ich nicht. Ich heiße Janice Kepler. Sie müssen mich für völlig beschränkt halten.«

Na ja, nicht völlig, dachte ich.

Sie streckte mir die Hand entgegen und merkte dann, daß der Türspalt nicht breit genug war, um Kontakt aufzunehmen. Sie zog die Hand zurück. »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Sie eine Frau sein könnten. Ich habe das Schild unten im Treppenhaus schon öfter gesehen. Einmal die Woche besuche ich eine Selbsthilfegruppe ein Stockwerk tiefer. Ich habe mir schon länger überlegt vorbeizukommen, aber ich schätze, ich habe mich einfach nicht getraut. Als ich heute abend rausging, sah ich vom Parkplatz aus, daß Licht brannte. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich bin auch auf dem Weg in die Arbeit und habe sowieso nicht viel Zeit.«

»Was für eine Arbeit?« fragte ich ausweichend.

»Schichtleiterin in Frankie’s Coffee Shop oben in der State Street. Von elf bis sieben, was es ganz schön schwierig macht, tagsüber Termine einzuhalten. Ich gehe meistens um acht Uhr morgens ins Bett und stehe erst am Spätnachmittag wieder auf. Aber wenn ich Ihnen mein Problem nur schildern dürfte, wäre es mir schon eine große Erleichterung. Wenn sich dann herausstellt, daß Sie so etwas nicht machen, können Sie mir vielleicht jemand anderen empfehlen. Ich kann wirklich Hilfe brauchen, aber ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll. Daß Sie eine Frau sind, könnte es leichter machen.« Die nachgezogenen Augenbrauen hoben sich zu zwei flehentlichen Bögen.

Ich zögerte. Selbsthilfegruppe, dachte ich. Alkohol? Drogen? Süchtiger Partner? Wenn die Frau eine Schraube locker hatte, wollte ich es lieber gleich wissen. Der Flur hinter ihr war leer und wirkte unter dem Deckenlicht stumpf und gelblich. Lonnie Kingmans Anwaltskanzlei nimmt die gesamte zweite Etage ein – abgesehen von den beiden öffentlichen Toiletten, auf denen M beziehungsweise F steht. Es war nicht auszuschließen, daß ein paar Verbündete der Sorte M im Waschraum lauerten, die auf ein Zeichen von ihr hervorspringen und mich überfallen würden. Aus welchem Grund konnte ich mir allerdings nicht vorstellen. Sämtliches Geld, das ich besaß, mußte ich sowieso den Haien vom Finanzamt überlassen. »Sekunde, bitte«, sagte ich.

Ich schloß die Tür, ließ die Kette aus ihrer Verankerung gleiten und machte die Tür wieder auf, damit ich sie hereinlassen konnte. Zögernd ging sie an mir vorbei, im Arm eine knisternde braune Papiertüte. Ihr Parfüm roch nach Moschus, und der Duft erinnerte mich an Sattelseife und Sägemehl. Sie schien sich nicht recht wohl in ihrer Haut zu fühlen, und ihr Verhalten war eine nervöse Mischung aus Besorgnis und Verlegenheit. Die braune Papiertüte enthielt offenbar irgendwelche Papiere. »Das war in meinem Auto. Ich möchte nicht, daß Sie denken, ich trüge es ständig mit mir herum.«

»Hier herein«, sagte ich. Die Frau folgte mir dicht auf den Fersen ins Büro. Ich wies auf einen Stuhl und sah ihr zu, wie sie sich setzte und die Papiertüte auf den Fußboden stellte. Dann zog ich mir selbst einen Stuhl heran. Ich fürchtete, wenn wir auf verschiedenen Seiten meines Schreibtisches säßen, würde sie studieren, was ich von der Steuer absetzen konnte, und das ging sie nichts an. Ich bin selbst Meisterin im Verkehrtrumlesen und zögere selten, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. »Was für eine Selbsthilfegruppe?« fragte ich.

»Für Eltern, deren Kinder umgebracht worden sind. Meine Tochter starb im vergangenen April. Lorna Kepler. Man hat sie in ihrer Hütte drüben bei der Mission gefunden.«

»Ah ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Aber soviel ich weiß, gab es da Unklarheiten wegen der Todesursache.«

»Nicht in meinen Augen«, sagte sie bissig. »Ich weiß zwar nicht, wie sie gestorben ist, aber ich weiß, daß sie ermordet wurde, so sicher wie ich hier sitze.« Sie hob den Arm und steckte sich eine lange, lose Haarsträhne hinters rechte Ohr. »Die Polizei hat nie einen Verdächtigen gefunden, und ich weiß nicht, welcher Zufall ihnen nach so langer Zeit noch helfen könnte. Jemand hat mir gesagt, daß die Chancen mit jedem Tag geringer werden, aber ich habe vergessen, um wieviel Prozent.«

»Das stimmt leider.«

Sie beugte sich vor, wühlte in der Papiertüte und holte eine Fotografie in einem Klapprahmen heraus. »Das ist Lorna. Vermutlich haben Sie das Bild damals in den Zeitungen gesehen.«

Sie hielt mir das Foto hin. Ich nahm es und starrte auf das Mädchen. Ein Gesicht, das man nicht vergaß. Sie war Anfang Zwanzig, hatte dunkles Haar, das sie glatt aus dem Gesicht gestrichen trug und das ihr bis zur Mitte des Rückens ging. Sie besaß leuchtendhaselnußbraune Augen, die beinahe asiatisch geschlitzt waren; dunkle, klar geschwungene Augenbrauen; einen breiten Mund und eine gerade Nase. Sie war schlank und trug eine weiße Bluse, einen langen, schneeweißen Schal, den sie mehrmals um den Hals geschlungen hatte, einen dunklen, marineblauen Blazer und ausgebleichte Jeans. Sie blickte direkt in die Kamera, lächelte leicht und hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt. Sie lehnte an einer Wand mit geblümter Tapete, auf der sich üppige, blaßrosa Kletterrosen auf einem weißen Hintergrund nach oben rankten. Ich gab das Bild zurück und fragte mich, was in aller Welt ich unter diesen Umständen sagen sollte.

»Sie ist sehr schön«, murmelte ich. »Wann ist das aufgenommen worden?«

»Ungefähr vor einem Jahr. Ich mußte sie dazu drängen, sich fotografieren zu lassen. Sie ist meine Jüngste. Gerade fünfundzwanzig geworden. Sie wollte gern Model werden, aber es hat nicht geklappt.«

»Sie müssen noch jung gewesen sein, als Sie sie bekommen haben.«

»Einundzwanzig«, antwortete sie. »Bei Berlyn war ich siebzehn. Wegen ihr habe ich geheiratet. Schon nach fünf Monaten war ich rund wie eine Tonne. Ich bin immer noch mit ihrem Daddy zusammen, was alle erstaunt hat, mich eingeschlossen, glaube ich. Bei meiner mittleren Tochter war ich neunzehn. Sie heißt Trinny und ist ein echter Schatz. Lorna, das arme Ding, ist diejenige, an der ich beinahe gestorben wäre. Bin eines Morgens, kurz vor dem Geburtstermin, aufgestanden und habe zu bluten angefangen. Ich begriff nicht, was los war. Überall Blut. Es war, als würde ein Fluß zwischen meinen Beinen entspringen. So etwas habe ich noch nie gesehen. Der Doktor hat befürchtet, er könnte keine von uns retten, aber wir haben’s geschafft. Haben Sie Kinder, Mrs. Millhone?«

»Nennen Sie mich Kinsey«, sagte ich. »Ich bin nicht verheiratet.«

Sie lächelte schwach. »Ganz unter uns, Lorna war, ehrlich gesagt, mein Liebling, wahrscheinlich, weil sie zeit ihres Lebens so problematisch war. Das würde ich natürlich den beiden Älteren nicht verraten.« Sie steckte das Foto weg. »Auf jeden Fall weiß ich, wie es ist, wenn einem das Herz aus dem Leib gerissen wird. Vermutlich sehe ich wie eine ganz normale Frau aus, aber ich bin ein Zombie, eine lebende Tote, vielleicht ein klein wenig übergeschnappt. Wir sind in diese Selbsthilfegruppe gegangen... jemand hat es vorgeschlagen, und ich dachte, es könnte vielleicht helfen. Ich war bereit, alles zu versuchen, um den Schmerz loszuwerden. Mace – das ist mein Mann – kam ein paarmal mit und ist dann ausgestiegen. Er hat die Geschichten nicht ausgehalten, konnte das ganze Leid nicht ertragen, das sich da in einem Raum ballte. Er will es aussperren, es loswerden, abschütteln. Ich glaube nicht, daß das möglich ist, aber es hat keinen Sinn, darüber zu streiten. Jedem das Seine, wie man so sagt.«

»Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es sein muß«, sagte ich.

»Und ich kann es auch nicht beschreiben. Das ist ja das Höllische daran. Wir sind nicht mehr wie gewöhnliche Menschen. Wenn einem ein Kind umgebracht wird, stammt man von dem Moment an von einem anderen Planeten. Man spricht nicht mehr dieselbe Sprache wie andere Leute. Sogar in dieser Selbsthilfegruppe sprechen wir anscheinend verschiedene Dialekte. Alle klammern sich an ihren Schmerz, als gäbe es eine spezielle Lizenz zum Leiden. Man kann nichts dagegen tun. Wir denken alle, unser Fall sei der schlimmste, von dem wir je gehört haben. Der Mord an Lorna ist nie aufgeklärt worden, also halten wir natürlich unser Leid deshalb für quälender. Bei einer anderen Familie wurde vielleicht der Mörder des Kindes gefaßt und mußte ein paar Jahre sitzen. Jetzt ist er wieder frei, und sie müssen damit leben – mit dem Wissen, daß da so ein Kerl herumläuft, Zigaretten raucht, Biere kippt und jeden Samstagabend einen draufmacht, während ihr Kind tot ist. Oder der Mörder ist nach wie vor im Gefängnis und bleibt auch bis ans Ende seiner Tage dort, aber er hat es warm und sicher. Er bekommt jeden Tag drei Mahlzeiten und die nötige Kleidung. Vielleicht sitzt er ja sogar im Todestrakt, aber er wird nicht tatsächlich sterben. Kaum einer stirbt, es sei denn, er bittet um seine Hinrichtung. Und warum auch? Die ganzen weichherzigen Anwälte machen sich ans Werk. Das System ist so eingerichtet, daß sie allesamt am Leben bleiben, während unsere Kinder für alle Zeiten tot sind.«

»Quälend«, sagte ich.

»Ja, das ist es. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, wie weh es tut. Ich sitze da unten in diesem Raum, höre mir die ganzen Geschichten an und weiß nicht, was ich tun soll. Es ist nicht so, daß es meinen Schmerz verringern würde, aber zumindest macht es ihn zu einem Teil von etwas. Ohne die Selbsthilfegruppe löst sich Lornas Tod einfach in Luft auf. Als wäre es allen egal. Die Leute reden nicht einmal mehr darüber. Wir sind alle tief verletzt, und deshalb fühle ich mich nicht so abgeschnitten. Ich bin nicht von ihnen isoliert. Unsere emotionalen Wunden treten nur in verschiedenen Formen auf.« Ihr Tonfall war die ganze Zeit nüchtern geblieben, und daher wirkte der dunkle Blick, den sie mir zuwarf, um so schmerzlicher. »Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie mich nicht für verrückt halten... jedenfalls nicht für verrückter, als ich wirklich bin. Wenn einem ein Kind ermordet wird, rastet man aus. Manchmal erholt man sich und manchmal nicht. Was ich damit sagen will, ist, daß ich weiß, daß ich besessen bin. Ich denke viel mehr über Lornas Mörder nach, als ich sollte. Wer immer das getan hat, soll dafür bestraft werden. Ich will die Sache bereinigt haben. Ich will wissen, warum er es getan hat. Ich will ihm ins Gesicht sagen, was er mit meinem Leben gemacht hat, als er ihres genommen hat. Die Psychologin, die die Gruppe leitet, sagt, ich muß einen Weg finden, um meine Kraft wiederzugewinnen. Sie sagt, es sei besser, wütend zu werden, als sich weiterhin verzweifelt und wehrlos zu fühlen. So. Deshalb bin ich hier. Genau darum geht es.«

»Etwas zu unternehmen«, sagte ich.

»Exakt. Nicht bloß reden. Das Reden habe ich restlos satt. Es führt zu nichts.«

»Sie werden noch ein bißchen mehr reden müssen, wenn Sie meine Hilfe wollen. Möchten Sie Kaffee?«

»Ich weiß. Gern. Am liebsten schwarz.«

Ich schenkte zwei Becher ein, goß Milch in meinen und wartete mit weiteren Fragen, bis ich wieder saß. Ich griff nach dem Notizblock auf meinem Schreibtisch und einem Stift. »Es widerstrebt mir, Sie die ganze Sache noch einmal durchleben zu lassen, aber ich brauche wirklich die Einzelheiten, zumindest soweit Sie sie kennen.«

»Verstehe. Vielleicht hat es deshalb so lange gedauert, bis ich es hierher geschafft habe. Ich habe diese Geschichte vermutlich schon sechshundertmal erzählt, aber es wird nie leichter.« Sie blies auf die Oberfläche ihres Kaffees und nahm einen Schluck. »Guter Kaffee. Stark. Ich hasse zu dünnen Kaffee. Schmeckt nach nichts. Lassen Sie mich überlegen, wie ich es sage. Ich glaube, was Sie an Lorna verstehen müssen, ist, daß sie ein unabhängiges junges Ding war. Sie machte alles auf ihre Art. Es war ihr egal, was andere Leute dachten, und sie war der Meinung, daß das, was sie tat, niemanden sonst etwas anging. Als Kind bekam sie Asthma, und mit der Zeit versäumte sie ziemlich viel in der Schule und war deshalb nie besonders gut. Sie hatte einen messerscharfen Verstand, aber sie hat die Hälfte der Zeit gefehlt. Die Ärmste war fast gegen alles allergisch. Sie hatte nicht viele Freunde. Sie konnte nicht bei jemand anderem übernachten, weil die anderen Mädchen offenbar alle Tiere oder Hausstaub oder Moder oder was weiß ich hatten. Vieles wuchs sich aus, als sie erwachsen wurde, aber sie nahm immer irgendwelche Medikamente gegen dieses und jenes. Ich betone das deshalb, weil es sich massiv auf ihre Entwicklung auswirkte. Sie war abweisend, dickköpfig und starrsinnig. Sie hatte einen Hang zum Trotz, glaube ich, weil sie daran gewöhnt war, allein zu sein und zu tun, was sie wollte. Und womöglich habe ich sie ein bißchen verwöhnt. Kinder spüren es, wenn sie die Macht haben, einem Kummer zu bereiten. Es macht sie in gewisser Weise zu Tyrannen. Lorna hatte keine Ahnung davon, wie man sich bei anderen Menschen beliebt macht, vom normalen Geben und Nehmen. Sie war ein anständiger Mensch, und sie konnte großzügig sein, wenn sie wollte, aber sie war nicht das, was man liebevoll oder fürsorglich nennen würde.« Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, wie ich darauf gekommen bin. Ich wollte auf etwas ganz anderes hinaus, falls es mir wieder einfällt.«

Sie runzelte die Stirn und blinzelte, und ich sah ihr an, daß sie ein inneres Notizbuch zu Rate zog. Eine Weile herrschte Schweigen, während ich meinen Kaffee trank und sie ihren. Schließlich setzte ihre Erinnerung wieder ein, ihre Miene hellte sich auf, und sie sagte: »Ach ja. Entschuldigen Sie bitte.« Sie verlagerte ihr Gewicht und fuhr in ihrer Schilderung fort. »Von den Asthmamedikamenten bekam sie manchmal Schlafstörungen. Jeder glaubt, daß man von Antihistaminika schläfrig wird, was natürlich auch der Fall sein kann, aber es ist nicht der tiefe Schlaf, den man zur Erholung braucht. Sie schlief nicht gern. Sogar als Erwachsene kam sie mitunter mit nur drei Stunden aus. Ich glaube, sie hatte Angst davor, sich hinzulegen. In flach ausgestreckter Lage schien sich ihre Atemnot noch zu verschlimmern. Und so gewöhnte sie sich an, nachts herumzuziehen, wenn alle Welt schlief.«

»Mit wem hat sie sich getroffen? Hatte sie Freunde oder war sie allein unterwegs?«

»Andere Nachteulen, schätze ich. Da gibt es so einen Radiodiscjockey, diesen Typ von dem Jazzsender, der die ganze Nacht läuft. Mir fällt jetzt sein Name nicht ein, aber vielleicht würden Sie ihn kennen, wenn ich ihn nenne. Dann war da noch eine Krankenschwester von der Nachtschicht im St. Terry’s. Serena Bonney. Lorna hat sogar in der Wasseraufbereitungsanlage für Serenas Mann gearbeitet.«

Das notierte ich mir. Ich würde beide befragen müssen, wenn ich beschloß, ihr zu helfen. »Was war das für eine Arbeit?«

»Es war nur ein Teilzeitjob... von eins bis fünf für die Stadt, Büroarbeiten. Sie wissen schon, tippen, Akten ablegen und Anrufe entgegennehmen. Sie war die halbe Nacht auf, und so konnte sie ausschlafen, wenn sie wollte.«

»Zwanzig Stunden in der Woche sind aber nicht viel«, sagte ich. »Wie konnte sie davon leben?«

»Tja, sie hatte ein eigenes, kleines Zuhause. So eine Hütte hinten auf dem Grundstück von jemandem. Es war nichts Besonderes, und die Miete war niedrig. Zwei Zimmer mit Bad. Vielleicht war es früher mal eine Art Gärtnerhäuschen. Ohne Isolierung. Sie hatte keine Zentralheizung und eigentlich keine richtige Küche, bloß einen Mikrowellenherd, zwei Kochplatten und einen Kühlschrank, der nicht größer war als eine kleine Kiste. Sie kennen ja die Dinger. Es gab Strom, fließendes Wasser und ein Telefon, und damit hatte sich’s in etwa. Sie hätte es sich richtig hübsch herrichten können, aber sie wollte sich nicht die Mühe machen. Einfach sei es ihr am liebsten, sagte sie, und außerdem sollte es ja nicht für immer sein. Die Miete war symbolisch, und das war offenbar das einzige, was sie interessierte. Sie wollte ihre Ruhe, und die Leute lernten, sie weitestgehend in Frieden zu lassen.«

»Klingt nicht gerade nach einer allergenfreien Umgebung«, bemerkte ich.

»Ja, ich weiß, und das habe ich ihr auch gesagt. Natürlich ging es ihr damals schon besser. Die Allergien und das Asthma waren eher saisonal bedingt als chronisch. Sie mochte hin und wieder nach körperlicher Anstrengung, wenn sie erkältet war oder unter Streß stand, einen Anfall haben. Der Punkt ist, daß sie nicht in der Nähe anderer Menschen leben wollte. Sie mochte das Gefühl, im Wald zu sein. Das Grundstück war gar nicht so groß... ein paar tausend Quadratmeter, und von der Rückseite führte ein schmaler, zweispuriger Kiesweg hin. Ich glaube, es gab ihr ein Gefühl von Abgeschiedenheit und Ruhe. Sie wollte nicht in einem Apartmenthaus leben, von allen Seiten umringt von anderen Mietern, die rumpeln und poltern und laute Musik laufen lassen. Sie war nicht freundlich. Lorna wollte nicht einmal im Vorübergehen grüßen. So war sie einfach. Sie zog in diese Hütte und blieb dort.«

»Sie haben gesagt, sie sei in der Hütte gefunden worden. Nimmt die Polizei an, daß sie dort auch umgekommen ist?«

»Ich glaube schon. Wie gesagt, sie wurde geraume Zeit nicht gefunden. Fast zwei Wochen, vermuten sie, nach dem Zustand zu urteilen, in dem sie sich befand. Ich hatte nichts von ihr gehört, mir aber nichts dabei gedacht. Ich hatte sie an einem Donnerstagabend gesprochen, und sie hatte mir erzählt, daß sie wegführe. Ich nahm an, sie meinte noch am selben Abend, aber direkt gesagt hat sie das nicht, zumindest nicht, soweit ich es noch weiß. Wenn Sie sich erinnern, letztes Jahr kam der Frühling spät, und der Pollenflug war stark, was bedeutete, daß ihre Allergien ausbrachen. Jedenfalls rief sie an und sagte, sie werde die Stadt für zwei Wochen verlassen. Sie hatte sich frei genommen und sagte, sie wolle in die Berge fahren und sehen, ob noch Schnee läge. Die Skigebiete waren ihr einziger Zufluchtsort, wenn sie unter den Allergien litt. Sie sagte, sie würde sich melden, wenn sie wieder da wäre, und das war das letzte Mal, daß ich mit ihr gesprochen habe.«

Ich hatte begonnen, mir Notizen zu machen. »An welchem Tag war das?«

»Am neunzehnten April. Die Leiche wurde am fünften Mai entdeckt.«

»Wohin wollte sie? Hat sie Ihnen den Ort genannt?«

»Sie hat von den Bergen gesprochen, aber sie hat nicht genau gesagt, wo. Glauben Sie, daß das wichtig ist?«

»Ich bin nur neugierig«, antwortete ich. »April ist schon recht spät für Schnee. Es hätte eine Ausflucht dafür sein können, daß sie woandershin wollte. Hatten Sie den Eindruck, daß sie etwas verbarg?«

»Oh, Lorna ist nicht der Typ, der einem Einzelheiten anvertraute. Wenn meine anderen zwei in Urlaub fahren, sitzen wir alle da und brüten über Reisekatalogen und Hotelprospekten. Wie zur Zeit, wo Berlyn sich das Geld für einen Urlaub zusammengespart hat und wir andauernd die eine Reise gegen die andere abwägen und oh und ah sagen. In meinen Augen ist die Vorfreude schon das halbe Vergnügen. Lorna hat immer gesagt, damit würde man nur eine Menge Erwartungen aufbauen, und die Wirklichkeit wäre dann enttäuschend. Sie hat nichts so gesehen wie andere Leute. Jedenfalls, als ich nichts von ihr gehört habe, nahm ich an, daß sie verreist ist. Sie war sowieso nicht der Typ, der oft anruft, und von uns hatte niemand einen Grund, zu ihrer Wohnung zu gehen, wenn sie nicht da war.« Verlegen stockte sie. »Ich weiß genau, daß ich mich schuldig fühle. Hören Sie sich bloß an, wie viele Erklärungen ich hier abgebe. Ich will einfach nicht, daß es so aussieht, als hätte ich mich nicht um sie gekümmert.«

»Es hört sich nicht so an.«

»Das ist gut, denn ich habe dieses Kind mehr geliebt als das Leben.« Fast reflexartig wallten Tränen in ihren Augen auf, und ich sah, wie sie sie durch Blinzeln zurückdrängen wollte. »Jedenfalls war es jemand, für den sie gearbeitet hat, der schließlich dorthin ging.«

»Wer war das?«

»Oh. Serena Bonney.«

Ich blickte auf meine Notizen. »Das ist die Krankenschwester?«

»Genau.«

»Was hat Lorna für sie gearbeitet?«

»Lorna ist zu ihr ins Haus gekommen und hat Mrs. Bonneys alten Vater versorgt. Soweit ich weiß, ging es dem alten Herrn gesundheitlich nicht gut, und Mrs. Bonney wollte ihn nicht allein lassen. Ich glaube, sie wollte Reisevorbereitungen treffen und sich mit Lorna besprechen, bevor sie etwas buchte. Lorna hatte keinen Anrufbeantworter. Mrs. Bonney rief mehrmals an und beschloß dann, an Lornas Haustür einen Zettel zu hinterlassen. Als sie zur Hütte kam, merkte sie, daß etwas nicht stimmte.« Janice unterbrach sich, nicht weil die Gefühle sie übermannt hätten, sondern aufgrund der unangenehmen Bilder, die sich zwangsläufig einstellten. Nachdem sie zwei Wochen lang nicht entdeckt worden war, mußte die Leiche in äußerst schlimmem Zustand gewesen sein.

»Woran ist Lorna gestorben? Konnte man die Todesursache bestimmen?«

»Tja, das ist genau der Punkt. Sie konnten es nicht feststellen. Man fand sie in ihrer Unterwäsche mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden, gleich daneben lag ihr Jogginganzug. Ich nehme an, daß sie vom Laufen zurückgekommen ist und sich zum Duschen ausgezogen hat, aber es sah nicht danach aus, als wäre sie überfallen worden. Es ist durchaus möglich, daß sie einen Asthmaanfall hatte.«

»Aber das glauben Sie nicht.«

»Nein, das glaube ich nicht, und die Polizei hat es auch nicht geglaubt.«

»Und sie hat Sport getrieben? Nach allem, was Sie mir bisher erzählt haben, überrascht mich das.«

»Oh, sie wollte eben in Form bleiben. Ich weiß, daß es Zeiten gab, in denen sie vom Training Atemnot bekam und zu keuchen begann, aber sie besaß so einen Inhalator, der anscheinend half. Wenn sie eine schlechte Phase hatte, schränkte sie das Training ein und nahm es wieder auf, wenn sie sich besser fühlte. Die Ärzte wollten auch nicht, daß sie sich wie eine Invalidin verhielt.«

»Was hat die Autopsie ergeben?«

»Der Bericht ist hier drin«, sagte sie und deutete auf die Papiertüte.

»Es gab keine Anzeichen von Gewalt?«

Janice schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich glaube, wegen der Verwesung waren sie anfangs nicht einmal sicher, daß sie es war. Sie wurde erst identifiziert, als man ihre Zähne mit den ärztlichen Unterlagen verglich.«

»Ich nehme an, der Fall wurde als Mord behandelt.«

»Ja, schon. Obwohl die Todesursache nicht feststand, wurde die Sache als verdächtig angesehen. Sie haben Mordermittlungen angestellt, aber es hat sich nichts ergeben. Nun sieht es so aus, als hätten sie die Untersuchung fallenlassen. Sie wissen ja, wie die das handhaben. Ein anderer Fall taucht auf, und sie konzentrieren sich auf den.«

»Manchmal gibt es in solchen Situationen nicht genug Anhaltspunkte, um etwas herauszufinden. Es bedeutet nicht, daß sie sich nicht jede erdenkliche Mühe gegeben haben.«

»Ja, das verstehe ich schon, aber ich kann es immer noch nicht akzeptieren.«

Mir fiel auf, daß sie keinen Blickkontakt mehr hielt, und ich merkte, wie mir das Flüstern der Intuition den Rücken hinaufkroch. Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und fragte mich, was ihre offenkundige Unruhe bewirkte. »Janice, gibt es da etwas, was Sie mir nicht erzählt haben?«

Ihre Wangen färbten sich dunkel, als ob eine Hitzewallung sie überkommen hätte. »Darauf wollte ich gerade kommen.«

Frau in der Nacht

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