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Moreno hatte die schwere Tür zum Studio offenstehen lassen. Als ich hineinging, fiel sie hinter mir zu, und das Schloß schnappte ein. Ich stand in einem dämmrig beleuchteten Vorraum. Rechts von mehreren Aufzugtüren wies ein Schild, auf dem K-SPL stand, mit einem Pfeil eine Metalltreppe hinab. Ich ging hinunter, wobei meine Gummisohlen auf den Metallstufen hohl klangen. Die Rezeption war menschenleer, die Wände und der schmale Flur dahinter waren in tristem Blau und seltsamem Algengrün gestrichen, Farben wie auf dem Grund eines Teichs. »Hallo«, rief ich.

Keine Antwort. Von irgendwoher erklang Jazz, offenbar das Programm, das der Sender selbst ausstrahlte.

»Hallo?«

Ich zuckte die Achseln und ging den Korridor entlang. Im Vorübergehen sah ich in jede Kabine hinein. Moreno hatte mir gesagt, er arbeite im dritten Studio auf der rechten Seite, aber als ich dort ankam, fand ich den Raum leer. Ich konnte nach wie vor leisen Jazz aus den Lautsprechern strömen hören, doch offenbar war er kurz hinausgegangen. Das Studio war klein und übersät von leeren Fast-Food-Behältern und Limobüchsen. Auf dem Mischpult stand eine halbvolle Tasse Kaffee, die noch warm war. An der Wand hing eine Uhr, so groß wie ein Vollmond, deren Sekundenzeiger hektisch zuckte. Klick. Klick. Klick. Klick. Das Vergehen von Zeit war mir noch nie so konkret und unerbittlich vorgekommen. Die Wände waren mit gewelltem, dunkelgrauem Schaumstoff schalldicht gemacht worden.

Zur Linken hingen zahllose Karikaturen und Zeitungsausschnitte an einer Pinnwand aus Kork. Den größten Teil der Wand nahmen allerdings Regalbretter ein, auf denen reihenweise CDs, Platten und Kassetten standen. Ich prägte mir rasch alles ein wie bei einem Konzentrationsspiel. Kaffeebecher. Lautsprecher. Ein Klammerapparat und Tesafilm. Mehrere leere Flaschen Designer-Mineralwasser: Evian, Sweet Mountain und Perrier. Auf dem Mischpult konnte ich den Schalter für das Mikrofon erkennen, daneben Bandmaschinen, Leuchtknöpfe in allen Regenbogenfarben, auf einem stand »Zweispur mono«. Ein Licht leuchtete grün, ein anderes rot. Ein Mikrofon, das von einem Galgen herabhing, sah aus wie ein großer Eiszapfen aus grauem Schaumstoff. Ich stellte mir vor, wie ich mich so weit vorbeugte, daß ich es mit den Lippen berühren konnte, und mit meiner verführerischsten Stimme sagte: »Hallo, ihr Nachteulen. Hier ist Kinsey Millhone und spielt für euch zur übelsten Nachtzeit den besten Jazz...«

Hinter mir hörte ich, wie sich im Flur etwas polternd näherte, und ich blickte neugierig hinaus. Es war Hector Moreno, ein Mann Anfang Fünfzig, der an zwei Krücken ging. Sein schütteres Haar war grau, die braunen Augen so weich wie Karamelbonbons. Sein Oberkörper war massig, während sein Unterleib zu den spindeldürren, kurzen Beinen hin immer schmächtiger wurde. Er trug einen dicken schwarzen Baumwollpullover, Röhren-Jeans und Leinenschuhe. Neben ihm trottete ein großer, rötlich-gelber Hund mit schwerem Kopf, breitem Brustkorb und kräftigen Schultern, der – nach seinem Teddybärgesicht und der buschigen Halskrause zu urteilen – wahrscheinlich zum Teil von einem Chow-Chow abstammte.

»Hi, sind Sie Hector? Ich bin Kinsey Millhone«, sagte ich. Das Fell des Hundes sträubte sich, als ich die Hand ausstreckte.

Hector Moreno stützte sich auf eine Krücke, um mir die Hand zu schütteln. »Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. »Das ist Beauty. Sie braucht ein wenig Zeit, um sich zu entscheiden, ob sie Sie mag oder nicht.«

»Verständlich«, meinte ich. Von mir aus konnte sie den Rest ihres Lebens darüber nachdenken.

Der Hund hatte zu knurren begonnen, aber es war weniger ein Grollen als vielmehr ein Brummen, so als sei irgendwo tief in seinem Brustkasten eine Maschine in Betrieb gesetzt worden. Hector schnippte mit den Fingern, und er verstummte. Zwischen Hunden und mir herrschte noch nie besondere Zuneigung. Erst eine Woche zuvor war ich einem männlichen Welpen vorgestellt worden, der allen Ernstes das Bein gehoben und auf meinen Schuh gepinkelt hatte. Seither besaß ich einen Reebok-Schuh, der nach Hundepisse roch, was Beauty nicht verborgen geblieben war und nun ihre Aufmerksamkeit fesselte.

Hector schwang sich an seinen Krücken vorwärts ins Studio. Dabei beantwortete er mir die Frage, die ich aus Höflichkeit nicht zu stellen gewagt hatte. »Mit zwölf hatte ich einen Zusammenstoß mit einigen Felsbrocken. Ich erforschte gerade eine Höhle in Kentucky, als der Tunnel einbrach. Wegen meiner Stimme im Radio erwarten die Leute etwas anderes. »Setzen Sie sich.« Er warf mir ein Lächeln zu, und ich lächelte zurück. Ich folgte ihm, während er seine Krücken beiseite stellte und sich auf den Hocker hievte. Ich holte mir einen zweiten aus der Ecke und stellte ihn dicht neben seinen. Mir fiel auf, daß Beauty sich so postierte, daß sie zwischen uns saß. »Sie vertraut nicht vielen Menschen. Ich habe sie aus dem Tierheim, aber sie muß geschlagen worden sein, als sie noch klein war.«

»Haben Sie sie immer bei sich?« wollte ich wissen.

»Ja. Sie ist eine angenehme Gesellschaft. Ich arbeite spät in der Nacht, und wenn ich aus dem Studio komme, ist die ganze Stadt menschenleer. Abgesehen von den Verrückten. Die sind immer auf Achse. Sie haben nach Lorna gefragt. Was haben Sie mit ihr zu tun?«

»Ich bin Privatdetektivin. Lornas Mutter ist heute am frühen Abend in mein Büro gekommen und hat mich gebeten, ihren Tod zu untersuchen. Sie war mit den polizeilichen Ermittlungen nicht besonders zufrieden.«

»Kunststück«, meinte er. »Haben Sie mit diesem Phillips geredet? Das war vielleicht ein Wichser.«

»Ich habe ihn gerade gesprochen. Er ist nicht mehr bei der Mordkommission, sondern bei der Sitte. Was hat er Ihnen denn getan?«

»Getan hat er überhaupt nichts. Es ist seine Art. Ich hasse Typen wie ihn. Kleine, aufgeblasene Gockel, die andere herumkommandieren. Moment mal bitte.« Er schob eine dicke Kassette in einen Schlitz und drückte einen Knopf auf dem Mischpult. Dann lehnte er sich vor und sprach mit einer Stimme, die so weich und samtig war wie Sahnetrüffel: »Gerade haben wir Phineas Newborn mit einem Klaviersolo gehört, einem Stück namens ›The Midnight Sun Will Never Set‹. Und ich bin Hector Moreno und bringe Ihnen hier auf Radio K-SPELL ein wenig Zauber in die Nacht. Vor uns liegen dreißig Minuten ununterbrochener Musik mit der unvergleichlichen Stimme von Johnny Hartman aus einer legendären Session mit dem John Coltrane Quartet. Die Zeitschrift Esquire nannte dies einmal die großartigste Platte, die je veröffentlicht wurde. Die Aufnahme stammt vom 7. März 1963 und ist auf Impulse erschienen. Es spielen John Coltrane, Tenorsaxophon, McCoy Tyner, Klavier, Jimmy Garrison, Baß, und Elvin Jones, Schlagzeug.« Er drückte einen Knopf, drehte die Lautstärke im Studio herunter und wandte sich wieder mir zu. »Was auch immer er über Lorna gesagt hat, Sie sollten nicht alles für bare Münze nehmen.«

»Er hat gesagt, sie hätte eine dunkle Seite gehabt, aber das war mir nicht neu. Ich habe mir noch nicht den richtigen Überblick verschafft, aber ich arbeite daran. Wie lang haben Sie sie gekannt, bevor sie starb?«

»Etwas über zwei Jahre. Direkt nachdem ich angefangen habe, diese Sendung zu moderieren. Zuvor habe ich in Seattle gewohnt, aber ich vertrug die Feuchtigkeit nicht. Über den Freund eines Freundes habe ich von diesem Job erfahren.«

»Arbeiten Sie schon immer beim Radio?«

»Medien allgemein«, antwortete er. »Rundfunk- und Fernsehproduktion; in gewissem Rahmen Video, obwohl mich das nie besonders interessiert hat. Ich stamme ursprünglich aus Cincinnati und habe dort einen Universitätsabschluß gemacht, aber ich habe schon überall gearbeitet. Auf jeden Fall habe ich Lorna gleich kennengelernt, als ich hierher kam. Sie war die geborene Nachteule und rief immer wieder mit Musikwünschen an. Zwischen den Titeln und den Werbespots haben wir manchmal eine Stunde miteinander geplaudert. Sie fing an, im Studio vorbeizukommen. Anfangs vielleicht einmal die Woche. Gegen Ende war sie fast jede Nacht hier. Um halb drei, drei Uhr brachte sie Doughnuts und Kaffee und Knochen für Beauty, wenn sie zuvor essen war. Mitunter glaube ich, daß es eigentlich der Hund war, den sie gern hatte. Sie hatten eine Art psychischer Affinität. Lorna hat immer behauptet, sie seien in einem früheren Leben ein Liebespaar gewesen. Beauty wartet immer noch darauf, daß sie wiederkommt. Um drei Uhr geht sie zur Treppe hinaus, bleibt einfach da stehen und schaut nach oben. Dann macht sie so ein leises Geräusch in der Kehle, das einem beinahe das Herz bricht.« Er schüttelte den Kopf und verdrängte das Bild mit merkwürdiger Ungeduld.

»Wie war Lorna?«

»Kompliziert. Für mich war sie eine schöne, gequälte Seele. Ruhelos, zerrissen, vermutlich depressiv. Aber das war nur die eine Seite. Sie war gespalten, widersprüchlich. Es war nicht alles düster.«

»Hat sie Drogen genommen oder getrunken?«

»Meines Wissens nicht. Sie war launisch. Manchmal war sie beinahe überdreht. Wenn Sie analytisch werden wollen, wäre ich versucht, sie als manisch-depressiv zu bezeichnen, aber das trifft es nicht ganz. Es war, als fechte sie einen Kampf aus, in dem die dunkle Seite schließlich die Oberhand gewann.«

»Die haben wir wohl alle in uns.«

»Ich auf jeden Fall.«

»Haben Sie gewußt, daß sie in einem Pornofilm mitgespielt hat?«

»Ich habe davon gehört. Ich habe ihn nie selbst gesehen, aber ich vermute, es hat sich herumgesprochen.«

»Wann ist er gedreht worden? Erst kurz vor ihrem Tod?«

»Darüber weiß ich nicht viel. Sie hat die Wochenenden oft woanders verbracht, in Los Angeles oder San Francisco. Es hätte bei einer dieser Kurzreisen gewesen sein können. Ich kann es wirklich nicht mit Gewißheit sagen.«

»Das gehörte also nicht zu den Dingen, über die Sie sprachen?«

Er schüttelte den Kopf. »Sie gab sich gern verschlossen. Ich glaube, das gab ihr ein Gefühl von Macht. Ich lernte, mich nicht in ihre Privatangelegenheiten einzumischen.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum sie den Film gemacht hat? Ging es um Geld?«

»Das bezweifle ich. Der Produzent kassiert vermutlich groß ab, aber die Schauspieler werden pauschal bezahlt. So habe ich es zumindest gehört«, sagte er. »Vielleicht hat sie es aus demselben Grund gemacht, aus dem sie alles andere tat. Lorna flirtete an jedem Tag ihres Lebens mit dem Untergang. Wenn Sie meine Theorie hören wollen, so war Angst das einzig echte Gefühl, das sie empfinden konnte. Gefahr war wie eine Droge für sie. Sie mußte die Dosis steigern. Sie konnte nichts dagegen tun. Es schien ihr gleichgültig zu sein, was irgend jemand sagte. Ich habe mir den Mund fußlig geredet, aber soweit ich weiß, hat es nie irgend etwas genützt. Das ist nur eine Beobachtung von mir, und ich kann mich auch furchtbar täuschen, aber Sie haben gefragt, und ich antworte. Sie tat, als hörte sie zu. Sie tat so, als wäre sie Wort für Wort ganz deiner Meinung, aber dann überkam es sie. Sie zog einfach los und tat es, egal, was es war. Sie war wie eine Süchtige, wie ein Junkie. Sie wußte, daß es kein gutes Leben war, aber sie konnte keinen Schlußstrich ziehen.«

»Hat sie Ihnen vertraut?«

»Das würde ich nicht sagen. Nicht richtig. Lorna hat überhaupt niemandem vertraut. In der Hinsicht war sie wie Beauty. Eventuell hat sie mir mehr vertraut als den meisten.«

»Warum das?«

»Ich habe sie nie angemacht, infolgedessen war ich keine Bedrohung. Keine sexuellen Investitionen, also konnte sie bei mir nichts verlieren. Sie konnte auch nichts gewinnen, aber das war uns beiden recht. Bei Lorna mußte man auf Distanz bleiben. Sie war die Art von Frau, bei der es in dem Moment, wo man sich engagierte, vorbei war. Es war das Ende. Man konnte nur mit ihr in Verbindung bleiben, indem man sie sich auf Armeslänge vom Leib hielt. Ich kannte die Regel, aber ich schaffte es nicht immer. Ich hing selbst an der Angel. Ich wollte sie retten, doch es war unmöglich.«

»Hat sie Ihnen erzählt, was in ihrem Leben vor sich ging?«

»Manches. Meist Nebensächlichkeiten, Alltagsgeschichten. Sie hat mir nie etwas Wichtiges anvertraut. Ereignisse ja, aber keine Gefühle. Wissen Sie, was ich meine? Jedenfalls bezweifele ich, ob sie jemals wirklich offen zu mir war. Ich wußte so manches, aber nicht unbedingt, weil sie es mir erzählt hatte.«

»Woher bekamen Sie Ihre Informationen?«

»Ich habe einige Kumpels in der Stadt. Ihr Verhalten frustrierte mich mit der Zeit. Sie schwor mir, sie sei aufrichtig, aber ich schätze, sie konnte es einfach nicht lassen. Hatte gleich wieder irgendwelche Typen aufgegabelt. Zu zweit, zu dritt, alles, was Sie wollen. Bekannte haben sie gesehen und mir absichtlich davon erzählt, weil sie befürchteten, ich könnte den Überblick verlieren.«

»Und taten Sie das?«

Sein Lächeln war bitter. »Damals war ich nicht der Meinung.«

»Hat das Gerede Sie gestört?«

»Verflucht, ja. Was sie gemacht hat, war gefährlich, und ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht. Es gefiel mir nicht, was sie tat, und es gefiel mir nicht, wenn die Leute hier hereingerannt kamen und hinter ihrem Rücken über sie redeten. Klatschmäuler. Widerlich. Ich wollte sie zum Schweigen bringen. Bei ihr habe ich versucht, den Mund zu halten. Es ging mich nichts an, aber ich wurde immer wieder hineingezogen. Andauernd sagte ich: ›Warum, Baby? Wozu?‹ Und sie schüttelte den Kopf. ›Sei froh, wenn du’s nicht weißt, Heck. Ich schwöre, es hat nichts mit dir zu tun.‹ In Wirklichkeit glaube ich, daß sie es nicht wußte. Es war ein Zwang – wie niesen. Es war ein gutes Gefühl, es zu tun. Wenn sie es unterdrückte, kitzelte es sie, bis sie fast verrückt wurde.«

»Wissen Sie, wer außer Ihnen in ihrem Leben eine Rolle spielte?«

»Ich habe keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Ich war eine Randfigur. Außer hier. Sie hatte einen Tagesjob, Teilzeit in der Wasseraufbereitungsanlage. Sie könnten mit denen reden, vielleicht können die Ihnen etwas sagen. Meistens habe ich sie vor drei Uhr morgens überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Womöglich hat sie ein völlig anderes Leben geführt, während die Sonne schien.«

»Ah ja. Stoff zum Nachdenken«, sagte ich. »Noch etwas, das ich wissen sollte?«

»Nichts, was mir spontan einfiele. Wenn ich auf etwas komme, kann ich mich ja bei Ihnen melden. Haben Sie eine Karte?«

Ich fischte eine heraus und legte sie auf das Mischpult. Er betrachtete sie kurz und ließ sie liegen, wo sie war.

»Danke für Ihre Zeit«, sagte ich.

»Hoffentlich habe ich Ihnen weiterhelfen können. Ich finde die Vorstellung entsetzlich, daß jemand ungestraft mit Mord davonkommt.«

»Es ist zumindest ein Anfang. Vielleicht komme ich irgendwann noch einmal.« Ich zögerte und sah die Hündin an, die immer noch zwischen uns lag. Sowie sie meinen Blick auf sich spürte, erhob sie sich, womit sich ihr Kopf auf gleicher Höhe mit dem Hocker befand, auf dem ich saß. Sie hielt den Blick unverwandt geradeaus gerichtet und starrte konzentriert auf das Fleisch auf meinen Hüften, womöglich in der Hoffnung auf einen kleinen Mitternachtsimbiß.

»Beauty«, murmelte er in fast unverändertem Tonfall.

Sie ließ sich auf den Boden sinken, aber ich wußte genau, daß ihr der Sinn immer noch nach einem Happen Glutaeus maximus stand.

»Nächstes Mal bringe ich ihr einen Knochen mit«, sagte ich. Vorzugsweise keinen von mir.

Ich fuhr durchs Geschäftsviertel nach Hause, an einer Reihe von Ampeln vorbei, die gerade von rot auf grün umschalteten und passierte einen schwarzgekleideten Fahrradfahrer. Inzwischen war es fast halb zwei Uhr morgens, Verkehr war kaum noch vorhanden, und die Kreuzungen wirkten weit und verlassen. Die meisten Bars in der Stadt hatten noch geöffnet, und in ungefähr einer halben Stunde würden die Betrunkenen herauswanken und sich auf den Weg zu den verschiedenen Parkhäusern der Innenstadt machen. Viele Gebäude lagen im Dunkeln. Obdachlose, im Schlaf zusammengekrümmt, blockierten die Eingänge wie umgestürzte Statuen. Für sie ist die Nacht wie ein riesiges Hotel, wo immer ein Zimmer frei ist. Der einzige Preis, den sie manchmal dafür bezahlen, ist ihr Leben.

Um Viertel vor zwei schälte ich mich endlich aus meinen Jeans, putzte mir die Zähne und machte das Licht aus. Dann kroch ich ins Bett, ohne mir noch die Mühe zu machen, T-Shirt, Unterhose und Socken auszuziehen. Diese Februarnächte waren zu kalt, um nackt zu schlafen. Als ich langsam in die Bewußtlosigkeit glitt, spielten sich vor meinem geistigen Auge immer wieder bestimmte Ausschnitte aus Lornas Film ab. Ach ja, das Leben einer alleinstehenden Frau in einer Welt, die von Geschlechtskrankheiten beherrscht wird. Ich lag da und versuchte, mich daran zu erinnern, wann ich zum letzten Mal Sex gehabt hatte. Ich wußte es nicht mehr, was Anlaß zu ernsthafter Besorgnis gab. Ich schlief ein und fragte mich, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Gedächtnisschwund und Enthaltsamkeit bestand. Offensichtlich, denn das war für die nächsten vier Stunden mein letzter bewußter Gedanke.

Als um sechs Uhr der Wecker klingelte, rollte ich mich aus dem Bett, bevor sich Widerstand regen konnte. Ich zog meinen Jogginganzug und die Laufschuhe an und ging ins Badezimmer, wo ich mir die Zähne putzte und es tunlichst vermied, in den Spiegel zu sehen. Ein unbedachter Blick hatte mir ein schlaftrunkenes Gesicht vorgeführt, eingerahmt von Haaren, die so steif und verfilzt waren wie die eines Penners. Ich hatte sie vor einem halben Jahr mit einer zuverlässigen, kleinen Nagelschere gestutzt, aber seither nicht mehr viel damit angestellt. Nun waren die Partien, die nicht nach oben abstanden, entweder platt oder völlig durcheinander. Ich mußte wirklich bald einmal etwas dagegen tun.

Angesichts der vier Stunden Schlaf ähnelte mein Lauftraining eher einer lustlosen Pflichtübung. Oft regt mich der Anblick des Strandes an, und ich lasse mich von Seevögeln und dem Tanggeruch dahintreiben. Joggen wird zu einer Meditation, die die Zeit in eine höhere Ordnung verwandelt. Doch heute war einer der Tage, an denen körperliche Anstrengung mich einfach nicht aufbauen konnte. Statt euphorisch zu werden, mußte ich mich mit dreihundert ausgeschwitzten Kalorien, schmerzenden Schenkeln und brennenden Lungen begnügen. Ich hängte noch fünfhundert Meter als Buße für meine Gleichgültigkeit an und ging dann in schnellem Schritt nach Hause zurück, um mich dabei abzukühlen. Ich duschte und schlüpfte in eine frische Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, über den ich einen dicken, grauen Baumwollsweater zog.

Ich setzte mich auf einen hölzernen Hocker an den Küchentisch und aß einen Teller Corn-Flakes. Eilig überflog ich die Lokalzeitung. Nichts Außerordentliches passiert. Während der Mittlere Westen von Überschwemmungen bedroht war, lagen die Niederschlagsmengen in Santa Teresa unter dem Durchschnittswert, und man befürchtete schon, daß eine weitere Trockenperiode im Anzug sein könnte. Januar und Februar waren normalerweise regenreiche Monate, aber das Wetter hatte sich launisch gezeigt. Stürme hatten sich der Küste genähert und waren dann über uns geschwebt, als wollten sie flirten, hatten uns jedoch den nassen Kuß ihrer Niederschläge verweigert. Hochdrucksysteme hielten jeglichen Regen fern. Der Himmel bewölkte sich und wurde düster, gab aber letztlich kein Wasser ab. Es war frustrierend.

Ich suchte nach erfreulicheren Artikeln und las, daß eine der großen Ölfirmen plante, irgendwo weiter südlich an der Küste eine neue Raffinerie zu bauen. Das würde eine hübsche Ergänzung des Landschaftsbildes abgeben. Ein Bankraub, ein Streit zwischen Grundstückseignern, die Land erschließen wollten, und der Verwaltungsbehörde. Ich überflog die Cartoons, während ich meinen Kaffee schlürfte, und fuhr anschließend ins Büro, wo ich die nächsten Stunden damit zubrachte, meine Steuerunterlagen zu sortieren. Lästig. Als ich fertig war, zog ich einen Vordruck des Standardvertrags hervor und füllte die Einzelheiten meiner Vereinbarung mit den Keplers aus. Den Rest des Tages arbeitete ich am Bericht über einen Fall, den ich gerade abgeschlossen hatte. Die Rechnung belief sich, inklusive Spesen, nur auf etwas über zweitausend Dollar. Viel war das nicht, aber es reichte für die Miete und meine Versicherung.

Um fünf Uhr rief ich bei Janice an, da ich annahm, daß sie nun aufgestanden sein mußte. Trinny, die jüngere der beiden Töchter, nahm den Hörer ab. Sie war eine richtige Plaudertasche. Als ich meinen Namen nannte, sagte sie, daß der Wecker ihrer Mutter jede Minute läuten müßte. Berlyn sei kurz auf die Bank gegangen, und ihr Vater sei auf dem Heimweg von einem Kunden. Damit waren alle abgehakt. Janice hatte mir die Adresse gegeben, aber Trinny erklärte mir den Weg und gab sich recht freundlich.

Ich holte mein Auto aus dem öffentlichen Parkhaus ein paar Häuserblocks weiter. Ein ständiger Strom Autos mit Menschen, die vom Einkaufen oder vom Büro nach Hause fahren wollten, bewegte sich spiralförmig die Rampe hinunter. Als ich den Capillo Hill hinauffuhr, wirkte die Luft geradezu grau vom Licht der Dämmerung. Die Straßenlampen gingen an wie eine Reihe von Papierlaternen, die man für ein Fest aufgehängt hatte.

Janice und Mace Kepler besaßen ein kleines Haus auf dem Steilufer, in einem Viertel, das Anfang der fünfziger Jahre für Kaufleute und Händler gebaut worden sein mußte. Viele Straßen boten eine Aussicht auf den Pazifik, und theoretisch hätten die Grundstücke in der Gegend teuer sein können, doch dafür war es zu neblig. Der Anstrich der Fassaden blätterte ab, Aluminiumverkleidungen wurden löchrig, und hölzerne Dachschindeln wellten sich in der ständigen Feuchtigkeit. Der Wind blies vom Ozean her und zerzauste die Rasenflächen. Die Siedlung selbst bestand fast ausschließlich aus Einfamilienhäusern, die in einer Zeit aus dem Boden gestampft worden waren, als das Bauen billig war und man Baupläne bei Zeitschriften per Post bestellen konnte.

Die Keplers hatten offensichtlich getan, was sie konnten. Die gelbe Farbe auf der seitlichen Holzverkleidung sah aus, als sei sie erst vor kurzem neu aufgetragen worden. Die Fensterläden waren weiß, und ein ebenso weißer Lattenzaun markierte die Grenzen des Grundstücks. Der Rasen hatte dichtem Efeu Platz gemacht, der überall zu wachsen schien und auch die Stämme der beiden Bäume im Vorgarten bis auf halbe Höhe bedeckte.

In der Einfahrt stand ein blauer Lieferwagen, der im Comic-Stil mit einem großen Wasserhahn bemalt war, von dem ein dicker, tränenförmiger Wassertropfen herabhing. MACE KEPLER INSTALLATIONEN · HEIZUNGEN · KLIMAANLAGEN stand in weißen Großbuchstaben auf der Karosserie. Ein kleines, rechteckiges Emblem wies darauf hin, daß Kepler Mitglied der PHCC war, des nationalen Verbands der Sanitär-, Heizungs- und Klimaanlagenfachleute. Seine staatliche Zulassungsnummer war ebenso aufgeführt wie der Vierundzwanzig-Stunden-Reparaturservice, den er anbot (bei Wasserrohrbrüchen, undichten Abflüssen, ausströmendem Gas und defekten Durchlauferhitzern) sowie die Kreditkarten, die er akzeptierte. Heutzutage offerieren nicht einmal Ärzte derart umfassende Dienstleistungen.

Ich bog in die Kieseinfahrt und parkte mein Auto hinter seinem. Ich ließ den Wagen unverschlossen und blickte kurz hinters Haus, bevor ich die flachen Betonstufen zur vorderen Veranda hinaufging. Irgend jemand in der Familie hatte eine Vorliebe für Obstbäume. Im hinteren Teil des Grundstücks war eine regelrechte Plantage für Zitrusfrüchte angelegt worden. Zu dieser Jahreszeit waren die Äste kahl, doch im Sommer würde sie wieder dichtes, dunkelgrünes Blattwerk bedecken, und dazwischen würden die Früchte hängen wie Christbaumschmuck.

Ich klingelte. Neben dem Fußabstreifer standen lehmbedeckte Arbeitsschuhe. Es dauerte nicht lange, bis Mace Kepler die Tür aufmachte. Vermutlich hatte man ihn dazu abgestellt aufzupassen, wann ich kam. Angesichts meiner unheilbaren Neigung zum Schnüffeln war ich froh, daß ich mich nicht damit aufgehalten hatte, seinen Briefkasten zu durchwühlen.

Wir machten uns bekannt, und er trat beiseite, um mich einzulassen. Sogar in seinen ledernen Pantoffeln maß er vermutlich einen Meter neunzig gegenüber meinen einsfünfundsechzig. Er trug ein kariertes Hemd und Arbeitshosen, war in den Sechzigern, ziemlich kräftig gebaut und hatte ein breites Gesicht mit einem zurückweichenden Haaransatz. Die Zeit hatte eine tiefe Spalte in sein Kinn gegraben, und eine Sorgenfalte stand wie ein Schrägstrich zwischen seinen Augen. Bei Aufträgen in besseren Wohngegenden heuerte er vermutlich jüngere, zierlichere Männer an, die sich in die engen Zwischenräume unter den Häusern zwängen mußten. »Janice steht unter der Dusche, aber sie müßte gleich fertig sein. Darf ich Ihnen ein Bier anbieten? Ich trinke selbst auch eins. Ich habe einen höllischen Tag hinter mir und bin gerade erst nach Hause gekommen.«

»Nein, danke«, sagte ich. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.« Ich wartete an der Tür, während er in die Küche trottete, um sich ein Bier zu holen.

»Keine Sorge. Das paßt schon«, sagte er. »Ich bin bloß noch nicht zum Abschalten gekommen. Das ist meine Tochter Trinny.«

Trinny sah mit einem flüchtigen Lächeln auf und setzte dann ihre Beschäftigung fort, nämlich eine kakaobraune Teigmasse in eine Kuchenform aus Aluminium zu gießen. Das Rührgerät, von dessen Knethaken immer noch braune Pampe tropfte, lag neben einer offenen Schachtel Duncan-Hines-Schokoladenkuchenmischung auf der Arbeitsfläche. Trinny schob die Form in den Ofen und stellte eine Küchenuhr, die wie eine Zitrone geformt war. Sie hatte bereits eine Schachtel mit fertiger Mischung für Karamelguß aufgemacht, und ich hätte darauf wetten können, daß sie schon einen Finger voll genascht hatte. Meine Tante hatte mir zwar nie Backen beigebracht, aber sie hatte mich wiederholt vor den schändlichen Fertigbackmischungen gewarnt, die in ihren Augen direkt neben Pulverkaffee und Knoblauchsalz in Gläschen rangierten.

Trinny war barfuß und trug ein übergroßes, weißes T-Shirt und eine ausgefranste, abgeschnittene Jeans. Nach dem Umfang ihres Hinterns zu schließen hatte sie sich bereits eine ganze Menge selbstgebackene Kuchen einverleibt. Mace machte den Kühlschrank auf und nahm ein Bier heraus. Er fand den Öffner in einer Schublade, hebelte die Flasche auf und warf den Kronkorken im Vorbeigehen in eine Mülltüte aus braunem Papier.

Trinny und ich murmelten einander ein »Hi« zu. Berlyn, die ältere Tochter, kam in schwarzen Strümpfen und einem weißen Herrenhemd darüber vom Flur herein. Mace stellte auch uns einander vor, und wir tauschten unverbindliche Floskeln ä la »Hallo, wie geht’s?« aus. Sie ging quer durch die Küche und war intensiv damit beschäftigt, ihre Ärmel hochzukrempeln. Neben Trinny blieb sie stehen und hielt ihr bittend den Arm hin. Trinny wischte sich die Hände ab und begann, Berlyns Ärmel aufzurollen.

Auf den ersten Blick konnte man sie irrtümlich für Zwillinge halten. Sie schienen nach ihrem Vater zu schlagen, waren groß und vollbusig und hatten schwere Beine und Schenkel. Berlyn hatte blond gefärbte Haare und große, von dunklen Wimpern eingerahmte Augen. Ihr Teint war makellos und blaß, und sie hatte breite, sinnliche Lippen, die sie mit einem glänzenden, leuchtendpinkfarbenen Lippenstift bemalt hätte. Trinny war bei ihrer natürlichen Haarfarbe geblieben, einem satten Karamelbraun – vermutlich derselbe Farbton, mit dem auch Berlyn zur Welt gekommen war. Beide besaßen leuchtendblaue Augen und dunkle Brauen. Berlyns Züge waren grober, aber vielleicht war es auch das gebleichte Haar, das sie ein wenig gewöhnlich wirken ließ. Hätte nicht Lornas fragile Schönheit einen Kontrast innerhalb der Familie gebildet, hätte ich gesagt, daß sie auf etwas vulgäre Art hübsch waren. Obwohl ich von Lornas zahlreichen Männerkontakten wußte, schien sie eine gewisse Klasse besessen zu haben, die den beiden anderen fehlte.

Berlyn ging zum Kühlschrank hinüber und holte sich eine Diätpepsi heraus. Sie riß die Dose auf und spazierte zur Hintertür hinaus auf eine hölzerne Veranda, die an der Rückseite des Hauses verlief. Durchs Fenster sah ich ihr dabei zu, wie sie es sich auf einer Liege aus geflochtenen Plastikstreifen bequem machte. Eigentlich war es zu kalt, um draußen zu sitzen. Ihr Blick streifte kurz meinen, bevor sie wegsah.

Mit dem Bier in der Hand ging Mace durch die Küche ins Fernsehzimmer und bedeutete mir, ihm zu folgen. Als er die Tür hinter uns schloß, stieg mir der chemische Geruch des Schokoladenkuchens aus dem Backofen in die Nase.

Frau in der Nacht

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