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Sie griff erneut in die braune Papiertüte und holte eine Videokassette in einer neutralen Schachtel heraus, die sie auf die Schreibtischkante legte. »Vor etwa einem Monat hat uns jemand dieses Band geschickt«, sagte sie. »Ich weiß immer noch nicht, wer es war, und es ist mir ein Rätsel, warum jemand so etwas tut, außer um uns Kummer zu bereiten. Mace war nicht zu Hause. Es lag in einem ganz normalen braunen Umschlag ohne Absender in unserem Briefkasten. Ich habe es aufgemacht, weil unsere beiden Namen daraufstanden. Ich schob es gleich in den Videorecorder. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Eine Aufzeichnung irgendeiner Fernsehsendung oder der Hochzeit irgendwelcher Bekannten. Ich wäre beinahe gestorben, als ich es sah. Das Band war eine einzige Schweinerei, und dann war da Lorna, lebensgroß. Ich habe vor Entsetzen aufgeschrien. Ich schaltete es aus und warf es sofort in den Müll. Es war, als hätte ich mich verbrannt. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich mir die Hände waschen. Aber dann überlegte ich. Dieses Band konnte ja Beweismaterial sein. Es könnte etwas mit dem Grund zu tun haben, aus dem sie umgebracht wurde.«

Ich beugte mich vor. »Eines möchte ich genau wissen, bevor Sie weitersprechen. War es das erste Mal, daß Sie davon erfuhren? Sie hatten keine Ahnung, daß sie mit solchen Dingen zu tun hatte?«

»Absolut keine. Ich war sprachlos. Pornographie? Ausgeschlossen. Nachdem ich es gesehen hatte, fing ich natürlich an, mich zu fragen, ob jemand sie dazu gebracht hat.«

»Wie? Das verstehe ich nicht«, sagte ich.

»Sie könnte ja erpreßt worden sein. Sie könnte gezwungen worden sein. Was wissen wir denn schon – womöglich hat sie ja als verdeckte Ermittlerin für die Polizei gearbeitet, was sie sowieso nie zugeben würden.«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Zum ersten Mal hörte sie sich »daneben« an, und ich spürte, wie ich innerlich zurückwich und sie wachsam beäugte.

»Weil wir sie dann nämlich verklagen würden. Wenn sie in Ausübung ihrer Pflicht umgebracht wurde, würden wir ihnen massiv zusetzen.«

Ich saß da und starrte sie an. »Janice, ich habe selbst zwei Jahre lang bei der Polizei von Santa Teresa gearbeitet. Das sind seriöse Profis. Sie nehmen keine Dienste von Amateuren in Anspruch. Bei Ermittlungen in Sachen Pornographie? Ich finde das kaum glaubhaft.«

»Ich habe ja nicht gesagt, daβ sie es getan haben. Ich habe niemanden beschuldigt, weil das Verleumdung oder üble Nachrede oder dergleichen wäre. Ich sage Ihnen nur, was alles möglich ist.«

»Zum Beispiel?«

Sie schien zu zögern und darüber nachzudenken. »Na ja. Vielleicht wollte sie denjenigen verpfeifen, der den Film gemacht hat.«

»Zu welchem Zweck? Es ist heutzutage nicht mehr gesetzwidrig, einen Pornofilm zu drehen.«

»Aber könnte es nicht ein Deckmantel für etwas anderes sein? Irgendein anderes Verbrechen?«

»Natürlich, es könnte sein, aber lassen Sie uns noch einmal zurückgehen und mich den Advocatus Diaboli spielen. Sie haben gesagt, die Todesursache stünde nicht fest, was bedeutet, daß der amtliche Leichenbeschauer nicht mit Sicherheit sagen konnte, woran sie gestorben ist, stimmt’s?«

»Das stimmt«, räumte sie widerwillig ein.

»Woher wollen Sie wissen, daß sie kein Aneurysma hatte oder einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt? Bei den ganzen Allergien, die sie hatte, könnte sie auch an anaphylaktischem Schock gestorben sein. Ich sage gar nicht, daß Sie sich irren, aber Sie machen hier einen großen Sprung ohne den geringsten Beweis.«

»Das ist mir klar. Ich schätze, für Sie hört sich das verrückt an, aber ich weiß, was ich weiß. Sie ist ermordet worden. Da bin ich mir völlig sicher, aber niemand will mir glauben. Was soll ich also tun? Ich erzähle Ihnen noch etwas. Sie hatte ziemlich viel Geld, als sie starb.«

»Wieviel?«

»Fast fünfhunderttausend Dollar in Aktien und Wertpapieren. Einiges hatte sie auch in Festgeld angelegt, aber das meiste in Papieren. Außerdem besaß sie noch fünf oder sechs Sparbücher. Wo hatte sie das her?«

»Was glauben Sie, wo sie es her hatte?«

»Vielleicht hat ihr jemand Schweigegeld bezahlt. Damit sie etwas für sich behält.«

Ich musterte die Frau und versuchte einzuschätzen, wie klar sie denken konnte. Zuerst behauptete sie, ihre Tochter sei erpreßt oder unter Druck gesetzt worden. Nun mutmaßte sie, sie hätte selbst Bestechungsgelder verlangt. Ich schob die Angelegenheit vorübergehend beiseite und verlegte mich auf einen anderen Aspekt. »Wie hat die Polizei auf das Video reagiert?«

Schweigen.

»Janice?«

Sie sah trotzig aus. »Ich habe es ihnen nicht gezeigt. Ich habe es nicht einmal Mace zeigen wollen, weil es ihm so peinlich wäre, daß er sterben würde. Lorna war sein Engel. Er wäre nicht mehr der alte, wenn er wüßte, was sie getan hat.« Sie nahm das Video und steckte es wieder in die Papiertüte, wobei sie die Hülle sorgfältig zuklappte.

»Aber warum wollen Sie es nicht der Polizei zeigen? Es wäre zumindest eine neue Spur...«

Sie schüttelte bereits den Kopf. »Nein danke. Ausgeschlossen. Nie im Leben gebe ich denen das. Ich bin ja nicht dumm. Dann wäre es nämlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ich weiß, das klingt jetzt paranoid, aber ich habe schon von solchen Fällen gehört. Beweise, die ihnen nicht passen, lösen sich in Luft auf. Man zieht vor Gericht, und es ist auf unerklärliche Weise verschwunden. Punkt, Ende, Fall abgeschlossen. Ich traue der Polizei nicht. So ist es eben.«

»Warum trauen Sie mir? Woher wollen Sie wissen, daß ich nicht mit ihnen unter einer Decke stecke?«

»Irgend jemandem muß ich ja vertrauen. Ich will wissen, wie sie in diese... Sexfilmsache... geraten ist, falls das der Grund ist, aus dem sie umgebracht wurde. Aber ich habe keine Erfahrung. Ich kann keine Nachforschungen über die Vergangenheit anstellen und herausfinden, was tatsächlich passiert ist. Ich habe nicht die Möglichkeiten dazu.« Sie holte tief Luft und wechselte die Tonlage. »Jedenfalls habe ich beschlossen, daß ich das Video einem Privatdetektiv gebe, wenn ich einen engagiere. Ich schätze, jetzt muß ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, mir zu helfen, denn falls Sie das nicht sind, muß ich mir jemand anderen suchen.«

Ich überlegte kurz. Natürlich war ich interessiert. Ich wußte bloß nicht, wie groß meine Erfolgsaussichten waren. »Solche Ermittlungen werden vermutlich teuer. Sind Sie sich darüber im klaren?«

»Sonst wäre ich nicht hergekommen.«

»Und Ihr Mann ist einverstanden?«

»Er ist nicht gerade begeistert von der Idee, aber er weiß, daß ich fest dazu entschlossen bin.«

»In Ordnung. Lassen Sie mich erstmal ein bißchen herumschnüffeln, bevor wir irgendwelche Verträge unterzeichnen. Ich möchte sichergehen, daß ich Ihnen weiterhelfen kann. Sonst verschwenden wir nur meine Zeit und Ihr Geld.«

»Werden Sie mit der Polizei sprechen?«

»Das werde ich tun müssen«, sagte ich. »Zuerst vielleicht inoffiziell. Der Punkt ist, daß ich Informationen brauche, und wenn wir ihre Unterstützung bekommen können, spart Ihnen das einige Dollar.«

»Das ist mir klar«, sagte sie, »aber eines sollte auch Ihnen klar sein. Ich weiß, daß Sie die hiesige Polizei für kompetent halten, und das stimmt sicher auch, aber jeder macht mal einen Fehler, und es ist nur menschlich, wenn man ihn zu vertuschen sucht. Ich möchte nicht, daß Sie Ihre Entscheidung, ob Sie mir helfen können oder nicht, von der Polizei abhängig machen. Die halten mich wahrscheinlich für komplett verrückt.«

»Glauben Sie mir, ich bin durchaus in der Lage, mir selbst ein Bild zu machen.« Ich spürte, wie mein Nacken steif wurde und sah auf die Uhr. Zeit, Schluß zu machen, dachte ich. Ich fragte sie nach ihrer Adresse, ihrer Telefonnummer und der Nummer im Coffee Shop und notierte mir alles. »Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, sagte ich. »Können Sie mir die Sachen in der Zwischenzeit hierlassen? Damit ich mich einarbeiten kann. Der Zähler fängt erst zu ticken an, wenn wir einen Vertrag unterzeichnet haben.«

Sie sah auf die Papiertüte neben sich herunter, machte aber keine Anstalten, sie aufzuheben. »Na ja. Ich denke schon. Ich möchte nicht, daß irgend jemand anders das Band in die Finger bekommt. Es würde Mace und die Mädchen umbringen, wenn sie wüßten, was darauf ist.«

Ich schwor es ihr mit erhobener Hand. »Ich werde es unter Einsatz meines Lebens verteidigen«, sagte ich. Es erschien mir unnötig, sie darauf hinzuweisen, daß Pornographie ein alltägliches Geschäft ist. Vermutlich war das Band tausendfach in Umlauf. Ich steckte die Notizen in meine Aktentasche und klappte sie zu. Sie erhob sich zusammen mit mir und preßte die Tüte kurz an die Hüfte, bevor sie sie mir gab.

»Danke«, sagte ich. Ich nahm Jacke und Handtasche, legte beides oben auf die Tüte und jonglierte die Sachen auf dem Arm, während ich die Lichter ausschaltete. Sie folgte mir über den Flur und beobachtete mich unruhig beim Abschließen. Ich warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Sie werden mir vertrauen müssen, wissen Sie. Sonst hat es keinen Sinn, eine geschäftliche Beziehung einzugehen.«

Sie nickte, und einen Moment lang konnte ich die Tränen in ihren Augen blinken sehen. »Hoffentlich vergessen Sie nicht, daß Lorna in Wirklichkeit nicht so war, wie es aussieht.«

»Ich werde es nicht vergessen«, sagte ich. »Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich etwas weiß, und dann entwerfen wir einen Schlachtplan.«

»In Ordnung.«

»Eines noch. Sie werden Mace von dem Video erzählen müssen. Er muß es ja nicht sehen, aber er sollte von seiner Existenz wissen. Ich möchte, daß zwischen uns dreien absolute Offenheit herrscht.«

»In Ordnung. Ich konnte sowieso noch nie etwas vor ihm geheimhalten.«

Auf dem kleinen Parkplatz für zwölf Autos hinter dem Gebäude trennten wir uns, und ich fuhr nach Hause.

In meinem Viertel angekommen, mußte ich einmal um den Block kreisen, bevor ich eine halbe Häuserzeile entfernt einen einigermaßen legalen Parkplatz ergatterte. Ich schloß das Auto ab und ging zu meiner Wohnung, wobei ich die Papiertüte wie eine Einkaufstasche voller Lebensmittel schleppte. Die Nacht war samtig und weich. Bäume, deren nackte Zweige sich oben zu einem luftigen Baldachin verflochten, tauchten die Straße in Dunkelheit. Die wenigen Sterne, die zu sehen waren, strahlten wie Eissplitter, die über den Himmel gestreut waren. Eine halbe Häuserzeile entfernt plätscherte das Meer an den winterlichen Strand. In der unbewegten Nachtluft konnte ich das Salz riechen wie den Rauch eines Feuers. Vor mir sah ich im Fenster meines Lofts im ersten Stock einen Lichtschein, und die vom Wind zerzausten Kiefernzweige schlugen gegen die Scheibe. Ein Mann auf einem Fahrrad kam an mir vorbei. Er war dunkel gekleidet, fuhr schnell, und die Hacken seiner Radfahrerschuhe waren mit reflektierendem Klebeband markiert. Er verursachte keinerlei Geräusche, außer dem leisen Summen der Luft, die durch die Speichen zog. Ich merkte, wie ich ihm nachstarrte, als wäre er eine Erscheinung.

Ich drängte mich durch das Tor, das sich mit einem beruhigenden Quietschen wieder schloß. Im Hinterhof blickte ich automatisch zum Küchenfenster meines Vermieters, obwohl ich wußte, daß es dunkel war. Henry war nach Michigan gefahren, um seine Familie zu besuchen und sollte erst in zwei Wochen zurückkommen. Ich paßte auf sein Haus auf, holte die Zeitung herein, sortierte seine Post und schickte ihm alles nach, was wichtig aussah.

Wie üblich stellte ich erstaunt fest, wie sehr er mir fehlte. Ich hatte Henry Pitts vor vier Jahren kennengelernt, als ich nach einem kleinen Apartment suchte. Ich war überwiegend in Wohnwagenparks aufgewachsen, wo ich mit meiner unverheirateten Tante lebte, nachdem meine Eltern umgekommen waren, als ich fünf war. Zwischen zwanzig und dreißig war ich zweimal kurz verheiratet, was meinen Sinn für Beständigkeit nicht gerade gefördert hat. Nach Tante Gins Tod zog ich wieder in die tröstliche Enge ihres gemieteten Wohnwagens. Damals hatte ich bereits bei der Polizei von Santa Teresa aufgehört und arbeitete für den Mann, der mir vieles von dem beibrachte, was ich heute über private Ermittlungen weiß. Als ich die Lizenz und ein eigenes Büro hatte, bewohnte ich nacheinander eine Reihe von Einzel- und Doppelwohnwagen in verschiedenen Wohnwagenparks von Santa Teresa, zuletzt im Mountain View Mobile Home Estates draußen in Colgate. Vermutlich hätte ich noch ewig dort gelebt, wenn ich nicht mitsamt einem Teil meiner Nachbarn vertrieben worden wäre. Mehrere Anlagen in der Gegend, darunter auch Mountain View, hatten auf »Senioren ab 55« umgestellt, und die Gerichte prüften die ganzen Diskriminierungsklagen, die infolgedessen eingereicht worden waren. Ich brachte nicht die Geduld auf, auf ein Ergebnis zu warten, und so begann ich, Einzimmerapartments abzuklappern, die zu vermieten waren.

Mit Zeitungsanzeigen und Stadtplan bewaffnet fuhr ich von einem erbärmlichen Angebot zum nächsten. Die Suche war niederschmetternd. Alles in meiner Preislage (das ganze Spektrum von ganz billig bis äußerst bescheiden) lag entweder miserabel, war vollkommen verdreckt oder hoffnungslos heruntergekommen – von Eigenschaften wie Charme oder Charakter ganz zu schweigen. Ich stieß zufällig auf Henrys Angebot, das im Waschsalon aushing, und sah es mir nur an, weil es in der Nähe war.

Ich erinnere mich genau an den Tag, als ich meinen VW zum ersten Mal dort parkte und mir den Weg durch Henrys quietschendes Tor bahnte. Es war März, und ein leichter Regen hatte die Straßen mit einem matten Glanz überzogen und die Luft roch nach nassem Gras und Narzissen. Die Kirschbäume blühten, und der Gehsteig vor dem Haus war mit rosafarbenen Blütenblättern übersät. Das Apartment war früher eine Einzelgarage gewesen, die zu einer winzigen »Single-Wohnung« umgebaut worden war, und hatte fast genau die doppelte Fläche von dem, was ich gewohnt war. Von außen sah es nach rein gar nichts aus. Die Garage war mit dem Haus durch eine offene Passage verbunden, die Henry verglast hatte und in der er meistens riesige Klumpen Brotteig gehen ließ. Er war früher Bäcker und ist jetzt Rentner, steht aber nach wie vor früh auf und bäckt fast jeden Tag.

Sein Küchenfenster stand offen, und die Düfte von Hefe, Zimt und köchelnder Spaghettisoße wehten übers Sims hinaus in die milde Frühlingsluft. Bevor ich klopfte und mich vorstellte, wölbte ich am Fenster des Apartments die Hände und äugte hinein. Damals war es wirklich nur ein großer Raum von etwa fünfundzwanzig Quadratmetern und einer schmalen Nische mit einem kleinen Bad und einer kombüsenartigen Küche. Inzwischen ist der Raum um eine zweite Etage mit einer Schlafnische und einem zusätzlichen Badezimmer erweitert worden. Bereits damals, in seinem ursprünglichen Zustand, brauchte ich nur einen Blick, um zu wissen, daß ich zu Hause war.

Als Henry die Tür aufmachte, trug er ein weißes T-Shirt, Shorts, Gummischlappen an den Füßen und einen Lappen um den Kopf. Seine Hände waren von Mehl bestäubt, und seine Stirn zierte ein weißer Fleck. Ich nahm den Anblick seines schmalen, gebräunten Gesichts mit den weißen Haaren und den leuchtendblauen Augen in mich auf und fragte mich, ob ich ihn in einem früheren Leben schon einmal gekannt hatte. Er bat mich herein, und während wir sprachen, fütterte er mich mit der ersten von unzähligen hausgemachten Zimtschnecken, die ich seither in seiner Küche verzehrt habe.

Offenbar hatte er ebenso viele Bewerber gesprochen wie ich Hausbesitzer. Er suchte einen Mieter ohne Kinder, abstoßende Angewohnheiten oder einen Hang zu lauter Musik. Ich suchte einen Vermieter, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Henry war mir sympathisch, weil ich mir dachte, daß ich bei seinem Alter von über achtzig Jahren vor Nachstellungen sicher sein konnte. Ich gefiel ihm wahrscheinlich, weil ich eine Misanthropin war. Ich war zwei Jahre lang Polizistin gewesen und hatte weitere zwei Jahre damit zugebracht, die viertausend Stunden anzusammeln, die für die Erteilung einer Lizenz als Privatdetektiv erforderlich waren. Ich hatte mir vorschriftsmäßig die Fingerabdrücke abnehmen lassen, war fotografiert, vereidigt und beglaubigt worden. Da die Tätigkeit, mit der ich mir in erster Linie den Lebensunterhalt verdiente, mich mit der Schattenseite der menschlichen Natur in Kontakt brachte, hielt ich schon damals andere Menschen auf Distanz. Mittlerweile habe ich gelernt, höflich zu sein. Ich kann mich sogar freundlich geben, wenn meine Zwecke es erfordern, aber ich bin nicht gerade für meine reizende, mädchenhafte Art bekannt. Als Einzelgängerin bin ich auch eine ideale Nachbarin: ruhig, zurückgezogen, unaufdringlich und oft nicht da.

Ich schloß meine Tür auf und machte das Licht im Erdgeschoß an, zog die Jacke aus, schaltete den Fernseher ein, drückte den Knopf für den Videorecorder und schob Lorna Keplers Band in das Gerät. Ich sehe wenig Sinn darin, nun jedes einzelne gräßliche Detail über den Inhalt wiederzugeben. Sagen wir einfach, daß die Handlung schlicht und eine Entwicklung der Figuren nicht vorhanden war. Darüber hinaus waren die schauspielerischen Darbietungen miserabel, und es kam jede Menge simulierter Sex vor, der allerdings eher lächerlich als lüstern wirkte. Vielleicht war es aber auch nur mein Unbehagen gegenüber dem Thema, das die ganze Sache laienhaft aussehen ließ. Der Abspann erstaunte mich, und ich spulte zurück und las alles noch einmal von Anfang an. Es gab einen Produzenten, einen Regisseur und einen Cutter, deren Namen allesamt real klangen: Joseph Ayers, Morton Kasselbaum und Chester Ellis. Ich hielt das Band an und schrieb sie ab, dann drückte ich erneut auf die Taste und ließ es weiterlaufen. Ich vermutete, daß die Darsteller Pseudonyme benutzten, wie etwa Biff Mandate, Cherry Ravish oder Randi Bottoms, doch Lorna Kepler kam vor, daneben zwei andere – Russell Turpin und Nancy Dobbs, deren recht alltägliche Namen ich nebenbei notierte. Es schien keinen Drehbuchautor zu geben, aber ich vermute, daß pornographische Filme kein großartiges Drehbuch benötigen. Als Geschichte hätte es sowieso eine seltsame Lektüre abgegeben.

Ich fragte mich, wo der Film gedreht worden war. Angesichts der Höhe, die ich für das Budget eines Pornofilms ansetzte, würde wohl niemand besondere Räumlichkeiten anmieten oder sich um Drehgenehmigungen bemühen. Der Film bestand zum größten Teil aus Innenaufnahmen, die überall gedreht worden sein konnten. Der Hauptdarsteller, Russell Turpin, war wohl aufgrund gewisser persönlicher Attribute engagiert worden, die er von allen Seiten präsentierte. Er und Nancy, die offenbar ein Ehepaar darstellten, räkelten sich nackt auf ihrem Wohnzimmersofa, schwangen obszöne Reden und unterwarfen einander verschiedenen sexuellen Demütigungen. Nancy wirkte verlegen, und ihr Blick schweifte immer wieder zu einem Punkt links von der Kamera, wo ihr offensichtlich jemand mit lautlosen Lippenbewegungen signalisierte, was sie sagen sollte. Auf manchen Grundschulaufführungen habe ich schon größere Begabungen gesehen. Jegliche Leidenschaft, die sie mimte, schien sie in anderen Pornofilmen gesehen zu haben, und ihre wichtigste darstellerische Leistung bestand darin, sich lasziv über den Mund zu lecken, was meiner Meinung nach eher aufgesprungene Lippen als Erregung zur Folge hatte. Ich nahm an, daß sie engagiert worden war, weil sie im Zeitalter der Strumpfhose als einzige echte Strapse besaß.

Lorna war die Hauptattraktion, und ihr Erscheinen sollte die größtmögliche Wirkung erzielen. Sie schien gar nicht an die Kamera zu denken. Ihre Bewegungen waren graziös und lässig, und sie verbarg ihre Erfahrenheit nicht. Sie wirkte elegant, und in den ersten Momenten ihres Auftritts war es schwer, sich die Obszönitäten vorzustellen, die bald folgen sollten. Anfangs gab sie sich unbeteiligt und schien sich insgeheim zu amüsieren. Später war sie schamlos, beherrscht und ernsthaft, vollkommen auf sich und ihre Gefühle konzentriert.

Zu Beginn des Films wollte ich eigentlich im Schnellvorlauf sämtliche Szenen übergehen, in denen sie nicht vorkam, aber das wirkte bald komisch – The Perils of Pauline mit ständig hin- und herflatternden Geschlechtsteilen. Ich versuchte ebenso unbeteiligt zu sein, wie ich es an Mordschauplätzen bin, doch die Taktik schlug fehl, und ich merkte, wie unangenehm es mir wurde. Ich nehme die Erniedrigung von Menschen nicht auf die leichte Schulter, insbesondere dann nicht, wenn sie nur als Mittel zur Bereicherung anderer dient. Ich habe gehört, daß die Pornoindustrie größer sei als die Platten- und Filmindustrie zusammen und daß im Namen von Sex schwindelnde Beträge den Besitzer wechseln. Wenigstens kam in diesem Video fast keine Gewalt vor, und es gab auch keine Szenen mit Kindern oder Tieren.

Während die Handlung nicht der Rede wert war, hatte der Regisseur zumindest einen Versuch unternommen, Spannung zu schaffen. Lorna spielte eine dämonische, sexuelle Erscheinung, die sowohl Ehemann als auch Ehefrau verfolgte, welche splitternackt durchs Haus rannten. Außerdem fiel sie noch über einen Klempner namens Harry her, der in einer der Szenen auftauchte, die ich beim ersten Mal übersprungen hatte. Lornas Auftritte wurden häufig von Rauchwolken angekündigt, und eine Windmaschine blies ihr durchsichtiges Gewand nach oben. Als es zur Sache ging, kamen viele Nahaufnahmen, liebevoll gestaltet von einem Kameramann mit einer Leidenschaft für sein Zoomobjektiv.

Ich stellte das Band aus und untersuchte die Verpackung. Die Produktionsfirma nannte sich Cyrenaic Cinema und hatte eine Adresse in San Francisco. Cyrenaic? Was hieß denn das? Ich zog mein Lexikon aus dem Regal und sah unter dem Stichwort nach. »Cyrenaic: nach der griechischen Philosophenschule, gegründet von Aristipp von Kyrene, der das sinnliche Vergnügen des Individuums als höchstes Gut ansah.« Gut, irgend jemand war also gebildet. Ich rief die Telefonauskunft für das Gebiet mit der Vorwahl 415 an. Eine Telefonnummer war nicht eingetragen, aber vielleicht kam ich mit der Adresse weiter. Auch wenn Janice und ich uns einig wurden, war ich mir nicht sicher, ob sie eine Fahrt nach San Francisco finanzieren wollte.

Ich ging die Papiere durch, die sie mir gegeben hatte und sortierte sie nach Zeitungsausschnitten und Polizeiberichten. Den Autopsiebericht las ich mit besonderer Aufmerksamkeit und übersetzte die technischen Einzelheiten in mein laienhaftes Verständnis. Die grundlegenden Tatsachen waren in etwa so abstoßend wie der Film, den ich gerade gesehen hatte, wurden allerdings nicht durch abgedroschene Dialoge aufgelockert. Als Lornas Leiche entdeckt wurde, war der Verwesungsprozeß praktisch bereits abgeschlossen. Eine erste Untersuchung ergab äußerst wenig Bedeutsames, da sämtliches weiche Gewebe zu einer schmierigen Masse zusammengefallen war. Maden hatten rasch alles weitere erledigt. Die Untersuchung des Körperinneren bestätigte das Fehlen sämtlicher Organe, und es waren nur geringe Gewebereste von Gastrointestinaltrakt, Leber und Blutkreislauf übriggeblieben. Auch die Gehirnmasse hatte sich vollständig verflüssigt oder ganz aufgelöst. Das Knochengerüst zeigte weder Anzeichen stumpfer Gewalteinwirkung noch Stich- oder Schußwunden, Ligaturen oder zerschmetterte oder gebrochene Knochen. Zwei alte Brüche waren vermerkt, aber offensichtlich hatte keiner etwas mit ihrem Tod zu tun. Die Labortests, die noch machbar waren, konnten weder Drogen noch Gift in ihrem Körper nachweisen. Beide Zahnreihen wurden komplett entnommen und mitsamt den zehn Fingern aufbewahrt. Die zweifelsfreie Identifikation wurde aufgrund zahnärztlicher Unterlagen und einem Rest des rechten Daumenabdrucks vorgenommen. Fotografien lagen nicht bei, aber ich nahm an, daß die bei ihrer Akte im Polizeirevier zu finden wären. Hochglanzabzüge von der Autopsie hätte man wohl kaum an ihre Mutter weitergegeben.

Es war nicht möglich gewesen, Tag oder Zeitpunkt ihres Todes festzulegen, aber anhand mehrerer Umweltfaktoren konnte eine grobe Schätzung vorgenommen werden. Unzählige Personen waren befragt worden und bezeugten ihre Vorliebe fürs Nachtleben. Außerdem gehörte es angeblich zu ihren Gewohnheiten, kurz nach dem Aufstehen zu joggen. Soweit es die Ermittlungsbeamten noch feststellen konnten, hatte sie wie gewöhnlich am Samstag, dem 21. April, ausgeschlafen. Dann hatte sie ihren Jogginganzug angezogen und war laufen gegangen. Die Zeitung vom Samstagmorgen befand sich in der Wohnung, ebenso die Post, die später am Vormittag gekommen war. Sämtliche Post sowie Zeitungen, die nach dem 21. eingetroffen waren, stapelten sich unberührt. Beiläufig fragte ich mich, warum sie nicht wie geplant am Donnerstag abend zu ihrer Reise aufgebrochen war. Vielleicht hatte sie noch die ganze Woche bis einschließlich Freitag gearbeitet und wollte am Samstag vormittag aufbrechen, nachdem sie sich geduscht und angezogen hatte.

Die Fragen waren offenkundig, aber es war nutzlos, ohne konkrete Anhaltspunkte zu spekulieren. Da die Todesursache unbekannt war, hatte die Polizei anhand der Annahme ermittelt, daß sie von einer oder mehreren unbekannten Personen niedergeschlagen worden war. Lorna hatte allein und ungewöhnlich isoliert gelebt. Falls sie um Hilfe gerufen hatte, so war niemand in Hörweite gewesen. Ich lebe selbst allein, und obwohl Henry Pitts direkt neben mir wohnt, fühle ich mich manchmal unsicher. Meine Arbeit bringt gewisse Gefahren mit sich. Ich bin schon mehrmals angeschossen, niedergeschlagen, verprügelt und beschimpft worden, aber meistens habe ich Mittel und Wege gefunden; meine Angreifer auszuschalten. Der Gedanke an Lornas letzte Momente behagte mir nicht.

Der Ermittlungsbeamte, der die ganze Kleinarbeit erledigt hatte, war ein Mann namens Cheney Phillips, der mir ab und zu über den Weg lief. Zuletzt hatte ich von ihm gehört, daß er von der Mordkommission ins Sittendezernat übergewechselt war. Ich weiß nicht genau, wie die Polizeibehörden in anderen Städten arbeiten, aber bei der Polizei von Santa Teresa ist es üblich, daß die Beamten alle zwei oder drei Jahre auf einen anderen Posten versetzt und mit den verschiedensten Aufgaben betraut werden. Das gewährleistet nicht nur eine ausgewogene Polizeitruppe, sondern ermöglicht auch Beförderungen, ohne daß die Beamten auf den Tod oder die Pensionierung von Kollegen warten mußten, die bestimmte Abteilungsposten blockierten.

Wie viele Polizisten unserer Stadt konnte man auch Phillips oft in einer Kneipe namens CC’s finden, in der Strafverteidiger und eine Reihe von Kriminalbeamten Stammgäste waren. Sein Vorgesetzter im Fall Lorna war Lieutenant Con Dolan gewesen, den ich sehr gut kannte. Ich zweifelte daran, daß Lornas Mitwirkung in einem drittklassigen Film etwas mit ihrem Tod zu tun hatte. Andererseits war mir aber auch klar, warum Janice Kepler das gern glauben wollte. Was soll man auch sonst denken, wenn sich herausstellt, daß die verstorbene Lieblingstochter ein Pornostar gewesen ist?

Ich war unruhig, ja fast überreizt durch eine Überdosis Koffein. Im Lauf des Tages hatte ich schätzungsweise acht bis zehn Tassen Kaffee getrunken, die letzten beiden davon während meiner Unterredung mit Janice. Nun tanzten mir die aufputschenden Stoffe wie Seifenblasen im Kopf herum. Manchmal haben Unruhe und Koffein die gleiche Wirkung.

Ich sah erneut auf die Uhr. Inzwischen war es nach Mitternacht, und ich sollte eigentlich schon längst im Bett liegen. Ich zog das Telefonbuch heraus und suchte die Nummer von CC’s. Der Anruf kostete mich nicht einmal fünfzehn Sekunden. Der Barkeeper sagte mir, daß Cheney Phillips im Lokal sei. Ich nannte ihm meinen Namen und bat ihn, Cheney auszurichten, daß ich unterwegs sei. Beim Auflegen hörte ich noch, wie er Cheney über das Kneipengetöse hinweg meine Nachricht zurief. Ich griff mir Jacke und Schlüssel und verließ das Haus.

Frau in der Nacht

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