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Ich fuhr in östlicher Richtung den Cabana hinab, einen breiten Boulevard, der am Strand entlang verläuft. Bei Vollmond ähnelt die Szenerie Filmaufnahmen, die, bei Tag gedreht, Nacht simulieren. Die Landschaft ist dann so stark beleuchtet, daß die Bäume richtige Schatten werfen. Heute befand sich der Mond im letzten Viertel und stand noch tief am Himmel. Von der Straße aus konnte ich das Meer nicht sehen, aber ich hörte das endlose Rollen der Wellen, die die Flut herantrugen. Der Wind war gerade stark genug, um die Palmen in leichte Bewegung zu versetzen, und ihre struppigen Häupter neigten sich wie in einer Art geheimem Gespräch einander zu. Ein Auto fuhr in entgegengesetzter Richtung an mir vorüber, jedoch waren keine Fußgänger zu sehen. Zu so später Stunde bin ich selten unterwegs, und ich empfand es als merkwürdig belebend. Am Tag sieht Santa Teresa aus wie jede andere südkalifornische Kleinstadt. Kirchen und Geschäfte klammern sich – stets von Erdbeben bedroht – an den Boden. Die Dächer sind niedrig, und die Architektur ist in erster Linie spanisch beeinflußt. Die weißen Fassaden und die roten Ziegeldächer haben etwas Solides und Beruhigendes an sich. Die Rasenflächen sind gepflegt und die Sträucher sorgfältig zurechtgeschoren. Nachts wirken all diese Merkmale grell und dramatisch, voller Schwarzweißkontraste, die die Silhouetten intensiv zur Geltung bringen. Der Nachthimmel ist in Wirklichkeit überhaupt nicht schwarz. Er ist von einem weichen Anthrazitgrau, das durch die vielen Lichtquellen beinahe kalkig wirkt, während die Bäume wie Tintenflecken auf einem nachgedunkelten Teppich aussehen. Sogar der Wind fühlt sich anders an, leicht wie eine Daunendecke auf blanker Haut.

Das CC’s heißt eigentlich Caliente Café und ist ein billig verpachtetes Lokal in einer ehemaligen Tankstelle nahe der Eisenbahngleise. Die alten Zapfsäulen und Treibstofflager darunter sind schon vor Jahren entfernt und der verseuchte Boden mit einer Asphaltschicht bedeckt worden. Nun beginnt die schwarze Oberfläche an heißen Tagen aufzuweichen, und ein giftiger Sirup sickert heraus, eine teerartige Flüssigkeit, die sich rasch in Rauchschwaden verflüchtigt und den Anschein erweckt, als stünde der Belag kurz davor, in Flammen aufzugehen. Im Winter bekommt der Asphalt von der trockenen Kälte Risse, und ein schwefliger Geruch weht über den Parkplatz. CC’s ist nicht der ideale Ort zum Barfußlaufen.

Ich parkte vor dem Lokal unter einem sirrenden roten Neonschild. Draußen roch die Luft nach in Schmalz gebackenen Maistortillas, drinnen nach Salsa und gequirltem Zigarettenrauch. Ich hörte das hohe Jaulen eines Mixers, der schon zu lange lief und Eis und Tequila für die Margaritas rührte. Das Caliente Café nennt sich selbst eine »authentische« mexikanische Cantina, was heißt, daß die »Deko« aus über die Türen genagelten mexikanischen Sombreros besteht. Schlechte Beleuchtung macht jeglichen weiteren Aufwand überflüssig. Alle Gerichte wurden dem amerikanischen Geschmack angeglichen und tragen niedliche Namen wie: Ensanada Ensalada, Pasta Pequeño, Linguini Bambini. Die Musik, ausschließlich aus der Konserve, ist meistens so laut wie eine Mariachi-Gruppe, die angeheuert wurde, damit sie sich um den Tisch schart, während man zu essen versucht.

Cheney Phillips saß an der Bar und blickte in meine Richtung. Meine Bitte um eine Unterredung hatte ihn zweifellos neugierig gemacht. Cheney war vermutlich Anfang Dreißig. Er war weiß und besaß einen zerzausten Wust dunkelbraunen, lockigen Haars, dunkle Augen, ein markantes Kinn und einen stacheligen Zweitagebart. Er hatte die Art von Gesicht, wie man sie in einem Modemagazin für Männer findet oder auf der Klatschseite der Lokalzeitung an der Seite einer wie eine Braut herausgeputzten Debütantin. Er war schlank und mittelgroß und trug ein tabakbraunes, seidenes Sportsakko über einem weißen Hemd, dazu cremefarbene Gabardinehosen mit Bügelfalte. Seine selbstsichere Ausstrahlung ließ auf Geld mit einschüchterndem Hintergrund schließen. Alles an ihm roch nach Wertpapieren, Privatschulen und lässigem Westküstenadel. Das ist natürlich reine Projektion von meiner Seite, und ich habe keine Ahnung, ob es stimmt. Ich habe ihn nie gefragt, wie er eigentlich dazu kam, Polizist zu werden. Nach allem, was ich weiß, könnte er ebenso Kriminalbeamter in der dritten Generation sein, während sämtliche Frauen in der Familie als Gefängniswärterinnen arbeiten.

Ich ließ mich auf den Barhocker neben ihm gleiten. »Hallo, Cheney. Wie geht’s? Danke, daß du gewartet hast. Nett von dir.«

Er zuckte die Achseln. »Ich bin sowieso meistens hier, bis sie schließen. Kann ich dich auf einen Drink einladen?«

»Gern. Ich bin von Kaffee dermaßen aufgeputscht, daß ich womöglich nie mehr einschlafe.«

»Was möchtest du?«

»Chardonnay, wenn’s recht ist.«

»Kein Problem«, sagte er. Er lächelte und enthüllte dabei erstklassige kieferorthopädische Arbeit. Niemand konnte ohne langwierige, teure Korrekturen derart gerade Zähne besitzen. Cheney gab sich meist als Verführer, und das erst recht in einer Umgebung wie dieser.

Der Barkeeper hatte unseren Wortwechsel mit übertriebener, nächtlicher Geduld beobachtet. In Bars wie CC’s war das die Stunde, in der sich die sexuell Ausgehungerten in letzter Minute um Anschluß bemühten. Nun war genug Alkohol geflossen, um potentielle Partner, die früher am Abend als unwürdig abgewiesen worden waren, erneut in Betracht zu ziehen. Vermutlich nahm der Barkeeper an, daß wir über ein einmaliges Abenteuer verhandelten. Cheney bestellte Wein für mich und sich selbst noch einen Wodka Tonic.

Er blickte über die Schulter und taxierte rasch die anderen Barbesucher ab. »Man muß die ganzen Polizisten, die außer Dienst sind, im Auge behalten. Nach dem letzten Drink gehen wir auf den Parkplatz hinaus und lassen ein Alkoholtestgerät kreisen wie einen Joint, um sicherzugehen, daß wir noch nüchtern genug sind, um selbst nach Hause zu fahren.«

»Ich habe gehört, daß du nicht mehr bei der Mordkommission bist.«

»Stimmt. Seit sechs Monaten bin ich bei der Sitte.«

»Na, das paßt ja«, sagte ich. »Gefällt’s dir?«

»Klar, großartig. Es ist eine Ein-Mann-Abteilung. Derzeit bin ich der Fachmann für Glücksspiel, Prostitution, Drogen und organisiertes Verbrechen, soweit es das in Santa Teresa gibt. Und du? Was treibst du so? Du hast dich vermutlich nicht hierher bemüht, um mit mir über meine Karriere bei der Kripo zu sprechen.« Er sah auf, als der Barkeeper sich näherte, und wir warteten mit der Fortsetzung des Gesprächs, bis unsere Drinks vor uns standen.

Als er mich wieder ansah, sagte ich: »Janice Kepler möchte mich engagieren, damit ich den Tod ihrer Tochter untersuche.«

»Viel Glück«, sagte er.

»Du hast doch damals die Ermittlungen geleitet, oder?«

»Dolan und ich und hin und wieder noch ein Kollege. Der Fall liegt so«, sagte er und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Die Todesursache konnte nicht festgestellt werden. Wir sind uns immer noch nicht ganz sicher, an welchem Tag es passiert ist, geschweige denn zu welcher Uhrzeit. Es gab kaum verwertbare Spuren, keine Zeugen, kein Motiv und keine Verdächtigen...«

»Und keine Anklage«, ergänzte ich.

»Du sagst es. Entweder war es überhaupt kein Mord, oder der Täter hatte einen Glücksstern.«

»Aha.«

»Machst du es?«

»Weiß ich noch nicht. Ich dachte, ich rede erst mal mit dir.«

»Hast du ein Bild von ihr gesehen? Sie war eine Schönheit. Völlig kaputt, aber umwerfend. So was von zwiespältig, mein Gott.«

»Inwiefern?«

»Sie hatte einen Teilzeitjob als Bürohilfe und Schreibkraft in der Wasseraufbereitungsanlage. Du weißt schon, sie telefoniert ein bißchen, legt Akten ab, vielleicht vier Stunden am Tag. Allen erzählt sie, daß sie sich ihr Studium am College verdient, was in gewisser Weise auch stimmt. Ab und zu besucht sie einen Kurs, aber das ist nur die halbe Geschichte. In Wirklichkeit verdient sie sich ihr Geld nämlich als Luxushure. Sie hat 1500 Dollar pro Kunde genommen. Als sie starb, besaß sie ein beträchtliches Vermögen.«

»Für wen hat sie gearbeitet?«

»Für niemanden. Sie war unabhängig. Sie hatte angefangen, als Callgirl zu inserieren. Exotischer Tanz und Massage. Typen rufen unter ihrer Nummer an, die bei den Kleinanzeigen steht, und sie geht zu ihnen ins Hotelzimmer und wackelt mit Hüften und Po, während sie sich einen runterholen. Die Sache ist nämlich die, daß man offen nichts mehr vereinbaren darf – verdeckte Ermittler haben immer wieder angerufen und es versucht, bis alle Bescheid wußten –, aber wenn sie erst einmal bei ihrem Kunden ist, kann sie über sämtliche Dienstleistungen verhandeln, die der Kunde wünscht. Dann ist es eine Vereinbarung nur zwischen den beiden.«

»Für die sie wieviel bezahlt bekommt?«

Cheney zuckte die Achseln. »Hängt davon ab, was sie macht. Normaler Sex kostet vermutlich hundertfünfzig Mäuse, die sie dann noch mit dem Management teilen muß. Ziemlich schnell ist ihr klargeworden, daß sie mehr rausholen kann, und so läßt sie die billigen Bumsereien sausen und macht sich ans große Geld heran.«

»Hier in der Stadt?«

»Zum größten Teil. Soweit ich weiß, wurde sie oft in der Bar des Edgewater Hotels gesehen. Außerdem hat sie sich im Bubbles in Montebello herumgetrieben, das vergangenen Juli geschlossen wurde, wie du wahrscheinlich gehört hast. Sie hatte einen Hang zu den Lokalen, wo sich die Geldsäcke herumtrieben.«

»Hat ihre Mutter davon gewußt?«

»Aber sicher. Auf jeden Fall. Lorna ist sogar einmal festgenommen worden, weil sie sich im Bubbles einem V-Mann von der Sitte angeboten hat. Wir wollten die Sache ihrer Mutter nicht auf die Nase binden, aber sie wußte mit Sicherheit Bescheid.«

»Vielleicht begreift sie es erst jetzt«, sagte ich. »Jemand hat ihr ein Band von einem Pornofilm zugeschickt, in dem Lorna ganz groß herauskam. Offensichtlich hat ihr das den Anstoß dazu gegeben, mich aufzusuchen. Sie glaubt, Lorna sei entweder durch Erpressung dazu gezwungen worden oder hätte als verdeckte Ermittlerin gearbeitet.«

»Ach ja, natürlich«, sagte er.

»Ich berichte dir nur von ihren Mutmaßungen.«

Cheney schnaubte verächtlich. »Sie macht sich unheimlich was vor. Hast du das Band selbst gesehen?«

»Ich habe es mir erst heute abend angesehen. Es war ziemlich obszön.«

»Tja, nun, ich weiß nicht, ob das noch viel ausmacht. Bei den Geschichten, die sie getrieben hat, wundert mich das wirklich nicht. Aber was hat das mit der ganzen Sache zu tun? Das verstehe ich noch nicht.«

»Janice meint, daß Lorna kurz davor stand, jemanden zu verpfeifen.«

»O Mann, die Lady hat wohl zu viele schlechte Fernsehkrimis gesehen. Wen denn verpfeifen und weswegen? Diese Leute bewegen sich im Rahmen des Gesetzes... gewissermaßen. Wahrscheinlich sind es miese Typen, aber das ist in diesem Staat kein Vergehen. Sieh dir nur die ganzen Politiker an.«

»Das habe ich ihr auch gesagt. Auf jeden Fall versuche ich herauszufinden, ob es genügend Anhaltspunkte gibt, um zu rechtfertigen, daß ich den Auftrag annehme. Wenn ihr schon nichts gefunden habt, wie soll ich dann etwas entdecken?«

»Vielleicht hast du ja Glück. Ich gehöre zu den unerschütterlichen Optimisten. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen, aber wir haben seit Monaten keinen Furz mehr aufgetrieben. Wenn du dir die Akten ansehen willst, läßt sich das vermutlich arrangieren.«

»Das wäre gut. Was ich vor allem gerne sehen würde, sind die Fotos vom Tatort.«

»Ich werde versuchen, das mit Lieutenant Dolan abzuklären, aber ich glaube nicht, daß er etwas dagegen hat. Hast du gehört, daß er im Krankenhaus liegt? Er hatte einen Herzinfarkt.«

Ich war so erschrocken, daß ich eine Hand auf mein eigenes Herz preßte und dabei beinahe mein Glas umgeworfen hätte. Ich konnte es gerade noch abfangen, bevor es umkippte, aber ein kleiner Schluck Wein schwappte heraus. »Dolan hatte einen Herzinfarkt? Das ist ja entsetzlich! Wann denn?«

»Gestern hat er direkt nach der Einsatzbesprechung Schmerzen in der Brust bekommen, und mit einem Schlag war er in ganz übler Verfassung. Er sah miserabel aus und kriegte keine Luft mehr. Im nächsten Moment verlor er schon das Bewußtsein. Alle sind herumgesaust und haben sich an Wiederbelebungsmaßnahmen versucht. Die Sanitäter haben ihn dann unter die Lebenden zurückgeholt, aber es war wirklich haarscharf.«

»Wird er wieder gesund?«

»Wir hoffen es. Zuletzt ging es ihm besser. Er liegt drüben im St. Terry’s auf der Herzstation und führt sich natürlich auf wie ein Wilder.«

»Klingt ganz nach ihm. Ich werde sehen, daß ich ihn so bald wie möglich besuchen kann.«

»Da wird er sich freuen. Mach das nur. Ich habe heute morgen mit ihm gesprochen, und er ist nahe daran durchzudrehen. Er behauptet, er wolle nicht schlafen, weil er Angst davor hat, nicht mehr aufzuwachen.«

»Das hat er zugegeben? Ich habe Lieutenant Dolan noch nie über etwas Persönliches sprechen hören«, sagte ich.

»Er hat sich verändert. Er ist ein ganz neuer Mensch. Verblüffend«, meinte Cheney. »Du mußt es dir selbst ansehen. Er wäre begeistert von deinem Besuch und würde dir vermutlich die Ohren vollquatschen.«

Ich brachte das Gespräch wieder auf Lorna Kepler. »Und was ist mit dir? Hast du eine Theorie über Lornas Tod?«

Cheney zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, daß jemand sie umgebracht hat, falls es das ist, worauf du aus bist. Die rauhe Branche, ein eifersüchtiger Liebhaber. Vielleicht hat irgendeine andere Hure befürchtet, Lorna würde ihr das Territorium streitig machen. Lorna Kepler liebte das Risiko. Sie war der Typ, der gern bis an die äußerste Grenze ging.«

»Hatte sie Feinde?«

»Soweit wir wissen nicht. Seltsamerweise schienen alle sie sehr zu mögen. Ich sage ›seltsamerweise‹, weil sie anders war, deutlich anders als andere Leute. Manche bewunderten sie beinahe, weil sie dermaßen abgehoben war, verstehst du? Sie hat sich nicht an die Regeln gehalten, sondern das Spiel nach ihren Wünschen gespielt.«

»Ich nehme an, ihr habt bei euren Ermittlungen viele Möglichkeiten überprüft.«

»Das stimmt, aber es ist nicht viel dabei herausgekommen. Frustrierend. Jedenfalls ist alles noch vorhanden, falls du einen Blick darauf werfen willst. Ich kann Emerald bitten, die Akten anzufordern, wenn Dolan grünes Licht gegeben hat.«

»Dafür wäre ich dir dankbar. Lornas Mutter hat mir ein paar Unterlagen gegeben, aber sie hatte nicht alles. Sag mir einfach Bescheid, und ich komme kurz im Revier vorbei und sehe mir die Akten durch.«

»Klare Sache. Wir können uns danach wieder unterhalten.«

»Danke, Cheney. Du bist ein Schatz.«

»Ich weiß«, sagte er. »Vergiß bloß nicht, uns auf dem laufenden zu halten. Und keine krummen Dinger. Wenn du auf etwas stößt, wollen wir nicht, daß es vor Gericht abgelehnt wird, weil du Beweismaterial verfälscht hast.«

»Du unterschätzt mich«, sagte ich. »Seit ich in Lonnie Kingmans Büroräumen arbeite, bin ich ein Engel unter den Frauen. Ein Ausbund an Tugend.«

»Das glaube ich dir«, meinte er. Er hörte nicht auf zu lächeln, und in seinen Augen leuchtete ein nachdenkliches Funkeln. Ich dachte, daß ich wahrscheinlich genug gesagt hatte. Dann machte ich einen Schritt nach hinten, drehte mich um und winkte ihm beim Hinausgehen zu.

Draußen sog ich die Ruhe der kalten Nachtluft in mich ein und nahm den schwachen Geruch von Zigarettenrauch wahr, der von irgendwo weiter vorn zu mir herwehte. Ich hob den Kopf und sah gerade noch einen Mann, der um die Straßenkurve verschwand und dessen Schritte langsam verhallten. Es gibt Männer, die nachts umherlaufen und mit hochgezogenen Schultern und gesenkten Köpfen ein einsames Ziel verfolgen. Im allgemeinen halte ich sie für harmlos, aber man kann nie wissen. Ich sah ihm nach, bis ich sicher sein konnte, daß er weg war. In der Ferne war eine tiefliegende Wolkendecke an die andere Seite der Berge gedrückt worden und quoll nun herüber.

Sämtliche Parkplätze waren besetzt. Die Wagen glänzten unter der harten Beleuchtung wie auf einem Markt für Gebrauchtwagen der Luxusklasse. Mein Uralt-VW wirkte ausgesprochen fehl am Platze, ein gemütlicher, blaßblauer Buckel unter all den flachen, schnittigen Sportmodellen. Ich schloß die Tür auf und ließ mich auf den Fahrersitz gleiten. Dann blieb ich einen Moment lang mit den Händen auf dem Lenkrad sitzen und überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Das Glas Weißwein hatte wenig dazu beigetragen, meinen überreizten Zustand zu dämpfen. Ich wußte, wenn ich jetzt nach Hause führe, würde ich bloß auf dem Rücken liegen und auf das Oberlicht über meinem Bett starren. Ich ließ den Wagen an und fuhr am Strand entlang bis zur State Street. Dann bog ich nach rechts in Richtung Norden ab.

Als ich die Eisenbahngleise überquerte, fing das Radio zu plärren an. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß ich das verdammte Ding angelassen hatte. Es funktionierte mittlerweile kaum noch, aber hin und wieder konnte ich ihm Geräusche entlocken. Manchmal schlug ich mit der Faust auf das Armaturenbrett und bekam mißtönende Nachrichten oder Werbespots zu hören. Ein andermal schnappte ich einen verblüffenden Ausschnitt aus dem Wetterbericht auf. Es lag wahrscheinlich an einem losen Draht oder einer fehlerhaften Sicherung, aber das sind nur Vermutungen meinerseits. Ich weiß nicht einmal, ob Radios heutzutage noch Sicherungen haben. Momentan war der Empfang jedenfalls vollkommen klar.

Ich drückte einen Knopf und schaltete nahtlos von AM auf FM um. Dann drehte ich vorsichtig den Zeiger und ging einen Sender nach dem anderen durch, bis ich die Klänge eines Tenorsaxophons hörte. Ich hatte keine Ahnung, wer da spielte, aber der leidende Bläsersatz paßte perfekt zu dieser späten Stunde. Das Stück endete, und eine männliche Stimme füllte die Stille. »Das war Gato Barbieri am Saxophon mit einem Stück namens ›Picture in the Rain‹ aus dem Film Der letzte Tango in Paris. Komponist war gleichfalls Gato Barbieri, die Aufnahme stammt von 1972. Und ich bin Hector Moreno, hier auf K-SPELL, und bringe Ihnen an diesem ganz frühen Montagmorgen die Magie des Jazz.«

Seine Stimme klang angenehm, sie war volltönend und ausgewogen und vermittelte lässige Selbstsicherheit. Sie gehörte einem Mann, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdiente, daß er die ganze Nacht aufblieb, über Interpreten und Plattenfirmen sprach und für Schlaflose CDs abspielte. Ich stellte mir einen Mann Mitte Dreißig vor, dunkel, kräftig gebaut, vielleicht mit Schnurrbart, der das lange Haar nach hinten gekämmt und mit einem Gummiband zusammengehalten trug. Er genoß bestimmt sämtliche Privilegien einer lokalen Berühmtheit und hatte sicher bei zahlreichen Wohltätigkeitsveranstaltungen als Conferencier mitgewirkt. Radiomoderatoren müssen nicht einmal das gewohnt gute Aussehen eines durchschnittlichen Fernsehansagers mitbringen, dennoch besaß sein Name Wiedererkennungswert, und vermutlich hatte er auch einen Haufen Verehrerinnen. Nun nahm er Hörerwünsche entgegen. Ich merkte, wie meine Gedanken sich überstürzten. Janice Kepler hatte erwähnt, daß Lorna sich bei ihren nächtlichen Streifzügen mit irgendeinem DJ getroffen hatte.

In den verlassenen Straßen suchte ich nach einer Telefonzelle. Ich kam an einer nachts geschlossenen Tankstelle vorbei und entdeckte an der Vorderseite des dazugehörigen Parkplatzes eine der letzten echten Telefonzellen, ein richtiges, aufrecht stehendes Modell mit Falttür. Ich ging hinein und ließ den Motor laufen, während ich meine Notizen durchblätterte und die Telefonnummer von Frankie’s Coffee Shop suchte. Ich warf einen Vierteldollar in den Schlitz und wartete.

Als sich in Frankie’s Coffee Shop eine weibliche Stimme meldete, fragte ich nach Janice Kepler. Der Hörer knallte auf den Tresen, und ich hörte, wie ihr Name dröhnend durch den Raum gerufen wurde. Im Hintergrund vernahm ich leises Gemurmel, vermutlich die Nachtausgabe der Kaffee-und-Kuchen-Typen, die ihrem Laster frönten. Janice meldete sich etwas mißtrauisch, fand ich. Vielleicht befürchtete sie schlechte Nachrichten.

»Hallo, Janice? Kinsey Millhone. Ich hoffe, ich störe nicht. Ich brauche eine Information, und ich hielt es für einfacher anzurufen, als den ganzen Weg dort hinauf zu fahren.«

»Ach, du meine Güte. Was machen Sie denn so spät noch? Sie haben doch schon ganz erschöpft ausgesehen, als wir uns auf dem Parkplatz getrennt haben. Ich hätte gedacht, Sie schliefen schon tief und fest.«

»Das hatte ich auch vor, aber ich kam nicht dazu. Ich war viel zu aufgeputscht vom Kaffee, und da dachte ich, ich könnte ebensogut ein paar Dinge erledigen. Ich habe mit einem der Kriminalbeamten gesprochen, die Lornas Fall bearbeitet haben. Ich bin immer noch unterwegs und würde gern mehr Informationen sammeln, wenn ich schon dabei bin. Haben Sie nicht erwähnt, daß Lorna mit dem DJ eines lokalen Senders befreundet war?«

»Das stimmt.«

»Können Sie irgendwie herausfinden, wer das war?«

»Ich kann es versuchen. Moment mal.« Ohne die Sprechmuschel zuzuhalten, beriet sie sich mit einer anderen Kellnerin. »Perry, wie heißt denn diese Jazzsendung, die die ganze Nacht läuft, oder vielmehr der Sender?«

»K-SPELL, glaube ich.«

Das wußte ich bereits. Um mir Zeit zu sparen, sagte ich: »Janice?«

»Und der Discjockey? Weißt du, wie der heißt?«

Im Hintergrund hörte ich etwas undeutlich, wie Perry sagte: »Welcher? Da gibt es zwei.« Geschirr klirrte, und die Lautsprecher gaben eine Version von »Up, Up and Away« mit Streichern von sich.

»Der, mit dem Lorna befreundet war. Ich hab’ dir doch von ihm erzählt.«

Ich unterbrach Janice. »He, Janice?«

»Perry, warte mal. Was denn?«

».Könnte es Hector Moreno sein?«

Sie stieß einen kleinen Schrei des Erkennens aus. »Genau. Der ist es. Ich bin mir fast sicher, daß er es ist. Warum rufen Sie ihn nicht an und fragen, ob er sie gekannt hat?«

»Das werde ich tun«, sagte ich.

»Lassen Sie es mich auf jeden Fall wissen. Und wenn Sie danach immer noch in der Stadt herumflitzen, kommen Sie doch vorbei und trinken Sie eine Tasse Kaffee auf meine Rechnung.«

Beim Gedanken an noch mehr Kaffee machte mein Magen einen Satz. Die Tassen, die ich intus hatte, ließen mein Hirn bereits vibrieren wie eine aus dem Gleichgewicht geratene Waschmaschine. Sowie sie aufgelegt hatte, drückte ich kurz auf die Gabel und ließ das Freizeichen ertönen, während ich das mit einer Kette befestigte Telefonbuch hochwuchtete und darin blätterte. Sämtliche Radiosender waren am Beginn des Buchstabens K aufgeführt. K-SPL war zufälligerweise nur sechs oder acht Häuserblocks weit entfernt. Hinter mir, aus dem Auto, konnte ich die ersten Takte des nächsten Jazz-Titels hören. Unten in meiner Handtasche fand ich noch einen Vierteldollar und rief beim Sender an.

Das Telefon klingelte zweimal. »K-SPELL. Hector Moreno am Apparat.« Sein Tonfall war geschäftsmäßig, aber es war auf jeden Fall der Mann, den ich im Radio gehört hatte.

»Hallo«, sagte ich. »Mein Name ist Kinsey Millhone. Ich würde gerne mit Ihnen über Lorna Kepler sprechen.«

Frau in der Nacht

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