Читать книгу Todesspirale - Susan Andersen - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеVor dem Hotel lief der Motor des großen Busses bereits im Leerlauf, als Sasha Miller ihren Zimmerschlüssel an der Rezeption abgab. Sie hielt inne, schenkte sich noch einen Becher von dem Gratiskaffee ein und jonglierte ihn zusammen mit ihrer Handtasche, ihrem Reisekoffer und ihrer Reisetasche nach draußen.
Das Gepäckfach stand sperrangelweit offen, ein schwarzes Loch direkt unter dem silbernen, kursiven Schriftzug FOLLIES ON ICE an der Seite des dunkelblauen Busses. Sasha stellte ihre Reisetasche neben dem Fahrer ab. »Guten Morgen, Jack.« Sie nippte an ihrem Kaffee und sah ihn über den Rand des Pappbechers an, während er das Gepäck verstaute.
»Morgen, Sasha.« Er blickte lächelnd auf, runzelte aber leicht die Stirn, als er ihr Gepäck musterte. »Wo ist dein Schlittschuhkoffer?«
»Ist schon okay, Jack«, versicherte sie ihm. »Nach der gestrigen Abendshow war mir einfach nicht danach, ihn in mein Zimmer zu schleppen, weil ich genau wusste, dass ich ihn heute Morgen schon wieder hinunterschleppen muss. Also, ob du es glaubst oder nicht, ich habe das verflixte Ding tatsächlich hier im Gepäckfach gelassen.« Sie wies mit dem Daumen auf den Bus und zuckte die Achseln, lächelte den Fahrer entschuldigend an. »Ich weiß, ich weiß, das ist sonst nicht meine Art.«
»Na ja, Abwechslung macht das Leben interessanter, wie man so schön sagt.«
Sasha lachte. »Da kennst du dich bestimmt viel besser aus als ich, Jack. Wie ich gehört habe, hattest du ein ziemlich heißes Date gestern Abend.«
Er schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen«, meinte er nachsichtig. »In diesem Haufen gibt es wohl nicht viel, was unbemerkt bleibt, was?«
»Nicht viel«, gab sie ihm recht. »Und du weißt so gut wie ich, dass nichts unkommentiert bleibt. In dieser Hinsicht ähneln die Follies sehr stark dem Treiben der Einwohner einer Kleinstadt.« Sie waren nur verdammt viel toleranter, als die, in der sie aufgewachsen war. Sie und Lon...
Entschlossen verdrängte Sasha diesen Gedanken. Sie wollte heute nicht an Kells Crossing oder Lonnie denken. Der Himmel war blau, die Luft war klar; warum über Dinge nachdenken, die sie nur trübsinnig machten? »Also, sag schon«, forderte sie ihn stattdessen auf, »hat deine Verabredung Spaß gemacht? Hast du dich amüsiert?«
»Ja, war schon in Ordnung«, gab er zurück. »Sie war wirklich nett.«
»Nett? Oh Jack, mein Beileid. Es tut mir echt leid, das zu hören.«
»Raus hier, Miller.« Er tat, als wollte er sie wegschubsen, und musste ein Lächeln unterdrücken, als sie ihn provozierend angrinste und ihm geschickt auswich. »Verdammt frech sind die Gören heutzutage«, grummelte er. »Haben einfach keinen Respekt.«
»Hey, vielleicht hast du ja irgendwann mal mehr Glück«, rief sie ihm beim Einsteigen zu.
Sasha begrüßte die anderen Eiskunstläufer, als sie sich durch den engen Gang schob. Sie scherzte mit der Garderobiere und einigen ihrer Lieblingstechniker, die wie gewöhnlich ganz hinten im Bus versammelt waren, aber setzen tat sie sich zu keinem von ihnen. Stattdessen wählte sie eine leere Reihe in der Mitte.
Connie würde zweifellos wieder in allerletzter Sekunde auftauchen und wie immer erwarten, dass sie ihr einen Platz frei hielt. Sie setzte sich ans Fenster, verstaute ihre Handtasche unter dem Sitz, stellte den Schminkkoffer neben sich, öffnete ihn und begann, Make-up aufzulegen.
Als sie sich einige Minuten später die Hände mit einem Kosmetiktuch abwischte, hörte sie, wie die Bustüren sich mit pneumatischem Zischen schlössen. Alarmiert hob sie ruckartig den Kopf, drehte sich um und blickte zum Hoteleingang. Im selben Moment wurde die Tür aufgerissen, und Connie Nakamura eilte heraus, beladen mit diversen Reisetaschen, die um ihre Beine baumelten. Die Bustür öffnete sich wieder, als sie den Randstein erreichte.
»Ich muss den Zeitplan einhalten, Nakamura«, informierte Jack die zierliche Japanerin. »Ich werde das Gepäckfach nicht extra für dich öffnen.«
Sie kletterte atemlos an Bord. »Ich denke nicht mal im Traum daran, dich darum zu bitten, Jack.«
Mit verärgerter Miene schloss er die Tür hinter ihr, legte den ersten Gang ein und bog in die Hotelausfahrt, bevor sie ihren Sitzplatz erreichte. Connie schwankte, als der Bus anfuhr, fand aber ihr Gleichgewicht wieder und arbeitete sich durch den Gang nach hinten. Die größte ihrer Reisetaschen verstaute sie im Gepäcknetz über den Sitzen, dann grinste sie Sasha an.
»Das war echt knapp«, meinte diese, nahm ihren Schminkkoffer von Connies Sitzplatz und stellte ihn auf den Boden. »Eines Tages wird Jack dich nicht mehr mitnehmen.«
»Nee«, widersprach ihre Freundin. »Niemals. Dann hätte er ja niemanden mehr, den er anmeckern kann, und das wäre doch langweilig, oder?« Sie verzog ironisch die Mundwinkel. »Mann, stell dir bloß mal vor: jeder ist immer pünktlich und parat, und das Tag für Tag? Jack wäre innerhalb einer Woche verrückt vor Langeweile. Ich halte ihn auf Trab. Na ja, ich und die eine oder andere Witwe, die er zum Essen ausführt.« Connie setzte sich, stellte ihren rechten Fuß auf den Sitz und band sich den Schnürsenkel zu. Sie fragte: »Also, wohin zum Teufel bist du gestern Nachmittag verschwunden?«
Sasha überlegte blitzschnell. »Ich, ähem, ich war im Stadion.«
Connie warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Ja, richtig«, sagte sie skeptisch. Dann sah sie ihr direkt in die Augen und fügte sanft hinzu: »Ich war da draußen und habe nach dir gesucht, Sasha.«
Sasha horchte auf. »Warst du? Um wie viel Uhr?«
»Um vier.«
»Also, da hast du es. Ich war schon um Viertel vor vier fertig mit meinem Eistest. Wir haben uns wahrscheinlich ganz knapp verpasst.«
Connie musterte ihre Freundin nachdenklich. »Ich weiß nicht, was zum Teufel bei dir momentan los ist«, sagte sie leise. »Aber ich wünschte, du hättest genug Vertrauen, um es mir zu sagen.«
Sasha wünschte sich dasselbe, machte jedoch eine beschwichtigende Geste und wechselte das Thema. Mehr als alles auf der Welt wünschte sie sich, das tun zu können, weil es wundervoll wäre, ihren Kummer mit jemand anderem zu teilen.
Aber, oh Gott, ich kann nicht, gestand sie sich ein. Ich liebe Connie, und ich vertraue ihr. Aber sie ist nicht so aufgewachsen wie Lon und ich, so dass sie es nicht verstehen würde.
Und sie würde es nie, nicht in Millionen von Jahren, billigen, rechtfertigte Sasha schweigend ihre Haltung. Das ist eine Tatsache.
* * *
Lon Morrison lag auf seiner Pritsche und versuchte, die Tag und Nacht vorhandenen Geräusche in dem abgeschlossenen Bereich seines Zellenblocks auszublenden. Er träumte mit offenen Augen vom Eislaufen. Es war der sicherste Weg, die Zeit totzuschlagen, einer, den er beinahe täglich nutzte, seit er vor einigen Jahren hinter Schloss und Riegel gebracht worden war.
Er dachte daran, wie er mit Sasha über das Eis glitt, dachte an die Hebefiguren und Sprünge. Eislaufen mit Sasha hatte immer etwas Telepathisches gehabt, es war ein unerklärliches Phänomen, das sie zu den heißesten jungen Talenten machte, die die Turnierveranstalter im Eiskunstpaarlauf seit Jahren gesehen hatten. Das und der Einsatz von Sex und Rockmusik zu einer Zeit, in der man immer noch sittsam zu den Klängen von Johann Strauß über das Eis gewalzert war.
Sie standen kurz vor dem ganz großen Erfolg, er und Sasha, aber dann hatte er alles vermasselt. Er war hungrig gewesen, nachdem er sein Leben lang auf der schlechten Seite gelebt hatte. Er hatte mehr gewollt; er hatte es sofort gewollt; und was er am Ende für seine Mühe bekommen hatte, war... nichts. Kein Geld, keinen Ruhm... nur das Gefängnis. Nicht unbedingt das, was er geplant hatte.
Sasha hatte weitergemacht im Einzellauf der Damen. Sie hatte nicht gerade viele Möglichkeiten gehabt – der Skandal wegen seines Hafturteils hatte die Welt des Eiskunstlaufs erschüttert, ihr Ruf war ebenfalls ruiniert worden, und sie galt ziemlich lange als keinen Deut besser als er. Demzufolge war sie nicht gerade die ideale Kandidatin für einen potenziellen neuen Partner. Wenn sie Eiskunstläuferin bleiben wollte, musste sie wieder dahin zurück, wo sie angefangen hatte... solo.
Aber, verdammt noch mal, alles in allem hatte sie das Richtige gemacht; er hatte ihre Karriere nicht zusammen mit seiner zerstört. Sie hatte sogar an der Olympiade teilgenommen und die Silbermedaille gewonnen.
Hörte man sie allerdings davon erzählen, bekam man den Eindruck, dass dieser Erfolg der tragischste Augenblick ihres Lebens war – abgesehen von dem Tag, an dem er angeklagt wurde. Und zugegeben, die Goldmedaille um lausige zwei Zehntel Punkte zu verfehlen, war schon der Hammer. Was aber die Jobangebote, die sie seit der Olympiade bekommen hatte, nicht im Geringsten beeinflusst hatte. Dass sie kein Gold mit nach Haus gebracht hatte, war allen total schnuppe. Sie konnte sich vor Angeboten kaum retten, und für eine Olympiateilnehmerin zahlte sich der Profi-Eiskunstlauf echt aus.
Es war ein verdammt weiter Weg gewesen von Kells Crossing.
Sasha schickte ihm die Zeitschrift Skate, so dass er sich auf dem Laufenden halten konnte, was Sache war in der Szene. Es hatte eine Menge Änderungen gegeben beim Eiskunstlauf, seit er nicht mehr dabei war. Du meine Güte, irgendein Kanadier sprang tatsächlich einen vierfachen Toeloop. Einen vierfachen. Wie er es schaffte, sich nicht den Fußknöchel zu brechen bei der Landung, war Lon zu hoch, aber es war die Gelegenheit, die ganz dicke Kohle einzufahren. Allein mit dieser Leistung hatte der Kerl sich an die Spitze katapultiert.
Tja, was soll’s. Lon dachte nicht daran, vor Neid zu platzen. Er wurde bald entlassen, und dann konnte auch er das schnelle Geld machen. Es war alles da draußen, wartete nur auf ihn.
Alles was er brauchte, war ein bisschen Insiderhilfe. Und dafür hatte er Sasha.
Schwer gelangweilt verfolgte Mick Vinicor die Aktivitäten um sich herum. Mit unglaublich gemischten Gefühlen. Die gute Nachricht war, dass eine Aktion erfolgreich beendet war. Diese Razzia war das Ergebnis mehrerer Wochen verdeckter Ermittlungen gewesen, und es war klasse, dass sie zur Verhaftung mehrerer hochrangiger Lieferanten und Dealer sowie eines Top-Drogenbarons geführt hatte.
Die schlechte Nachricht war, dass er nun von Führungskräften umlagert wurde. Und wie die meisten Agenten, die im Außendienst arbeiteten, verachtete er hohe Tiere.
Aber den Beleidigten zu spielen und andere Leute seine Arbeit machen zu lassen, brachte auch nichts. Mick zupfte die Manschetten seines Seidenhemds zurecht, schnipste einen nicht vorhandenen Fussel von seinem Zweitausenddollarjackett, konsultierte seine unverschämt teure Rolex und stand auf.
Sofort wurde er wieder in die Sofakissen gedrückt, und das nicht eben sanft. »Bleib sitzen, Arschloch«, knurrte ihn der Anzugträger an. »Ich sag dir, wann du dich in Bewegung setzen sollst.«
Die Grenzen zwischen den guten Jungs und den bösen Jungs hatten sich kürzlich zunehmend verschoben in Micks Kopf, und er nahm sich nicht die Zeit zum Nachdenken, er reagierte nur. Bevor der Anzugträger wusste, wie ihm geschah, war der Mann, den er offensichtlich für einen der großen Drogendealer gehalten hatte, erneut auf den Beinen. Der Kopf des anderen Agenten wurde unsanft zurückgerissen, und er spürte den kalten Druck von blauem Stahl an der Halsschlagader unter seinem Kinn. Der Pistolenlauf behinderte seine Atmung, als er unwillkürlich schluckte.
»Für Sie immer noch Special Agent Arschloch, Sie Arschkriecher«, klärte Mick ihn auf, hielt dem Bürokraten seinen DEA-Ausweis vor die Nase und ließ ihn los. »Also wirklich«, beschwerte er sich bei dem Agenten, der in der Ecke stand und sich die allergrößte Mühe gab, nicht zu grinsen, »wo gabeln sie bloß diese Typen auf, im Epcot Center?«
Natürlich bekam er einiges zu hören von dieser Aktion, als er am nächsten Morgen im Hauptquartier eintraf. Was auch nicht sonderlich überraschte.
»Unterstehen Sie sich, einen Kollegen mit Ihrer Waffe zu bedrohen«, wetterte sein oberster Chef am Schluss seiner Tirade, während er vor Special Agent Vinicor auf und ab marschierte, der seine Hüfte gegen den abgeschrammten Holzschreibtisch lehnte und die Arme über dem T-Shirt verschränkte, während er zusah, wie sein Vorgesetzter den bereits abgewetzten Teppich noch mehr abwetzte.
Mick war der Strafpredigt mit einer gewissen zynischen Amüsiertheit gefolgt, aber diese Gemütsregung verschwand schnell, als das Wort an seine Ohren drang, das ihn echt wütend machte. »Kollege?«, knurrte er und richtete sich gerade auf. »Kein bleistiftanspitzender Bürokrat ist mein Kolle...« Er hielt inne, zwang sich, den Rest der Beleidigung hinunterzuschlucken wie ein Tonic Water. Er hinterließ einen säuerlichen Geschmack, der schwer zu verdauen war, aber seine Selbstmordgelüste hielten sich in gewissen Grenzen, wenn es um seine Karriere ging. Bleistiftanspitzende hohe Tiere zu schmähen vor McMahon, der der oberste Bleistiftanspitzer war, zählte wahrscheinlich nicht gerade zum Klügsten, was er tun konnte.
Mühsam schluckte er seinen Stolz hinunter und murmelte: »Das bedaure ich.« Meine Güte, tat das weh! Aber er hatte keine Lust, an einem Schreibtisch in Waaskooskie Peoria zu enden. Nach einigem Nachdenken brachte er noch ein widerwilliges »Sir«, heraus.
»Sie haben ihn Arschkriecher genannt, Vinicor!«
»Ja, na ja, das bedaure ich ebenfalls. Aber zu meiner eigenen Verteidigung, Sir, er hat mich Arschloch genannt. Also, Sie wissen genauso gut wie ich, Sir, dass man jeden Arschloch nennen darf, aber nicht jemanden von der DEA – und schon gar nicht jemanden von der DEA, der sich auf der Straße den Arsch aufreißt.« Vinicor grinste schief.
»Ach, hol’s der Teufel«, lenkte McMahon plötzlich ein. »Er war sowieso nur vom FBI.«
Mick unterdrückte ein Lachen. Sein Hintern war nur deswegen gerettet worden, weil er das große Glück hatte, einen FBI-Agenten, statt einen von der DEA bedroht zu haben. Die reine Lachnummer.
Zwischen der Drug Enforcement Agency und dem Federal Bureau of Investigation bestand eine Dauerrivalität. Entscheidend dafür war ein 1982 vom Generalstaatsanwalt erlassener Befehl, dass die DEA-Verwaltung dem Generalstaatsanwalt durch den Direktor des FBI Bericht erstatten sollte.
Ein Befehl, der nicht ein einziges Mal befolgt worden war, und den der Generalstaatsanwalt klugerweise für nicht existent erachtete. Er zog es sowieso vor, dass die Leiter beider Behörden ihm weiterhin direkt Bericht erstatteten, weil er auf die harte Tour gelernt hatte, dass alltägliche informelle Koordination viel besser funktionierte als jeder Versuch, sie zu formalisieren.
Der Vorgesetzte schob Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. Als er gefunden hatte, was er suchte, blickte er zu Mick auf. »Also. Sind Sie bereit für einen neuen Auftrag?«
Mick zögerte. In Wahrheit wusste er, dass er kurz vor einem Burn-out stand. Deep Cover erforderte von einem Agenten, sich mit Haut und Haaren in seine Rolle zu versetzen, gewissermaßen mit dieser Rolle zu schlafen, zu atmen, zu essen, und zwar vierundzwanzig Stunden täglich, so lange, bis der Auftrag abgeschlossen war. Ein verdeckt arbeitender Agent war da draußen ganz auf sich allein gestellt, ohne dass ihm jemand den Rücken frei hielt, und häufiger mit nicht mehr als einer Schwachsinnsgeschichte und seinen schauspielerischen Fähigkeiten bewaffnet.
Mit diesem Teil konnte Mick leben. Herrgott noch mal, seine eigene Mutter hatte einmal gesagt, dass er ein so guter Lügner war, dass er entweder als Schwindler oder als Politiker enden würde... und, wie sie hinzugefügt hatte, irgendwie sei ihr lieber, er entschiede sich für den Schwindler. Nein, was ihm dieser Tage wirklich zu schaffen machte, war, dass nach einer gerechtfertigt durchgeführten Razzia die hohen Tiere und Politiker ausnahmslos auf eine Gelegenheit zu warten schienen, seine harte Arbeit wieder zunichtezumachen. Micks Glaube, den Drogenkrieg tatsächlich beeinflussen zu können, nahm zunehmend ab.
Dann sagte McMahon allerdings: »Das ist undercover, Vinicor, nicht deepcover. Verdammt, es wird wie ein Tag am Strand sein für Sie.« Er schleuderte eine Akte auf den Schreibtisch.
Mick widerstand der Versuchung hineinzusehen, ungefähr fünfundvierzig Sekunden lang, bevor er nachgab und sie nahm, um einen Blick hineinzuwerfen. Ein lose beiliegender Schnappschuss glitt aus dem Ordner, und er hob ihn auf.
»Eiskunstläufer?« Mick blickte ungläubig von dem Foto auf seinen Vorgesetzten. »Sie wollen, dass ich ein paar eislaufende Kinder hopsnehme?« Er blickte wieder auf das Foto und fuhr mit dem Daumen über die abgebildete Frau. Eine echte Schönheit – zu schade, dass sie noch ein Kind war.
»Das sind Miller und Morrison«, sagte McMahon, ging um seinen Schreibtisch herum und stellte sich neben Mick. »Sasha Miller und Lon Morrison. Und sie sind heute keine Kinder mehr; das Bild wurde schon vor einiger Zeit aufgenommen.«
»Also, was ist das für eine Geschichte?«
»Vor einigen Jahren waren sie die Asse, die Sensation im Amateur-Eiskunstlauf-Circuit. Standen ständig an der Spitze und gewannen alle Turniere. Ich weiß zwar nicht mehr die exakten Daten, aber wenn Sie sie brauchen, hier drin finden Sie alles.« Er tippte auf die Akte, die Mick immer noch in den Händen hielt.
Mick riss seinen Blick von dem Gesicht der Frau auf dem Foto los und blickte auf zu McMahon. »Und was hat das mit mir zu tun?«
»Tja, etwas Merkwürdiges hat sich im Umkreis der Eisstadien ereignet, Mick. Wo auch immer Miller und Morrison an Wettkämpfen teilnahmen, tauchte hochklassiges Heroin in der Umgebung auf. Schnee so rein, dass Junkies reihenweise krepierten.« McMahon rieb sich die beginnende Glatze und runzelte die Stirn. »Wir haben Morrison bei einem Undercovereinsatz geschnappt und ihn wegen Dealerei drangekriegt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er von Quintero rekrutiert wurde, aber wir haben es nicht geschafft, den Jungen zum Reden zu bringen, nicht mal, als er mit zwei Morden konfrontiert wurde. Tatsächlich ist er, weil er absolut kein Vorstrafenregister hatte, letzten Endes ziemlich glimpflich davongekommen: sieben bis zehn Jahre Gefängnis. Das Mädchen war nie darin verwickelt und hat ohne ihn weitergemacht. Sie hat die Silbermedaille bei der Winterolympiade gewonnen, danach wechselte sie ins Profilager. Das sollte eigentlich das Ende der Geschichte sein.«
»Aber?«
»Aber es gab einige Kilo Heroin, deren Verbleib nie geklärt wurde, Vinicor, und jetzt taucht der Mist wieder auf. Muss dasselbe Zeug sein – es haut die Junkies um wie Tontauben auf dem Schießstand. Wir haben Berichte aus San Diego, Los Angeles, San Francisco, Fresno vorliegen. Nennen Sie jede beliebige einigermaßen große Stadt in Kalifornien, wir haben von dort gehört.«
»Sie wollen also, dass ich Morrison überprüfe.«
»Nein, Morrison wird zwar bald entlassen, aber im Moment sitzt er noch.« McMahon tippte wieder auf die Frau auf dem Schnappschuss. »Ich möchte, dass Sie Miller festnageln.«
Mick spürte einen Hauch von Erregung, den er aber sofort unterdrückte. »Wenn sich beim ersten Mal herausgestellt hat, dass sie sauber war«, sagte er und spielte absichtlich den Advocatus Diaboli, »wie kommen Sie darauf, dass sie jetzt irgendwas damit zu tun hat?«
McMahon reichte ihm eine ganzseitige Werbung aus Variety für die kommenden Vorstellungen von Follies on Ice. Er zeigte auf das Foto von Sasha Miller. Mick beugte sich vor und studierte es sorgfältig. Er las ihren fett und in Goldbuchstaben gedruckten Namen unter einer Ganzkörperaufnahme und darunter, in kleinerer Schrift, US Champion und olympische Silbermedaillengewinnerin.
»Und jetzt sehen Sie sich die Reiseroute an«, empfahl McMahon.
Mick blätterte um und überflog den Inhalt. »San Diego, Los Angeles, Bakersfield, Fresno, San Jose, San Francisco«, murmelte er. Er musterte seinen Vorgesetzten. »Ich nehme an, dass die toten Junkies zu den Terminen passen, an denen die Eisshow in diesen Städten stattfand.«
McMahon zielte mit dem Finger wie mit einer Pistole auf ihn und tat, als drücke er den Abzug: »Sie haben’s erfasst.«
»Wie viele Kilo sind im Spiel?«, erkundigte sich Mick.
Zum ersten Mal machte McMahon den Eindruck, als sei ihm unbehaglich. »Ähm... siebzehn.«
»Oh, zum...« Mick schmiss die Akte angewidert auf den Schreibtisch und sah der Werbeseite hinterher, die auf die Tischplatte niedersegelte. »Rufen Sie die örtlichen Drogenspezialisten an«, riet er ausdruckslos. Die DEA kümmerte sich um Fälle, bei denen es um Tonnen von Heroin oder Kokain ging. Es sprach nicht gerade für den amerikanischen Lebensstil, dass sie so weit gekommen waren seit den siebzig Kilo, die vor nur zwanzig Jahren in der French Connection sichergestellt wurden.
McMahon schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Die Show gastiert in jeder Stadt drei, vier Tage, bevor sie zur nächsten fährt. In den größeren Städten wie LA und San Francisco bleibt sie vielleicht eine Woche. Sie wird morgen in Sacramento erwartet, und wenn sie dort abfährt, fährt sie über die Grenze nach Oregon.«
»Dann soll das FBI sich darum kümmern.«
McMahon sah ihn stumm an, und Mick zuckte verlegen die Achseln. Das FBI versuchte immer, eine mit Drogen handelnde Organisation in einem einzigen Handstreich zu demontieren. Wenn die Hauptverantwortlichen identifiziert waren und genügend Beweismaterial vorlag, um sie anzuklagen, versuchten sie, alle Hauptakteure und Schlüsselfiguren auf einmal zu inhaftieren. Eine kleine unabhängige Eisläuferin interessierte nicht die Bohne, auch wenn deren Produkt Junkies schneller umbrachte als man Habeas Corpus aussprechen konnte. »Mist«, knurrte Mick sauer.
McMahon blickte auf das Foto von Sasha Miller auf dem Schreibtisch. »Mann, sie hat mich echt zum Narren gehalten«, gab er zu. »So rein wie neugefallener Schnee, würde man sagen.« Er runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. »Na ja, nein, das stimmt nicht ganz. Sie sollten dieses Mädchen laufen sehen, Vinicor. Die Kleine ist so heiß, dass es mich wundert, dass das Eis nicht schmilzt – verdammt, ich wusste gar nicht, dass so etwas erlaubt ist in einer Eisshow, die für die ganze Familie ist.«
Er schüttelte die Erinnerung ab und sah seinen Agenten an. »Aber ich sage Ihnen ehrlich, als es um den Betrug ging, hätte ich schwören können, dass sie aufrichtig war und wirklich nicht wusste, was ihr Partner so trieb. Seine Verhaftung schien sie echt umzuhauen.« Er fluchte leise und schüttelte wieder den Kopf. »Bestimmt alles nur Show, schätze ich. Es gibt eben keine größeren Narren als alte Narren.«
»Nehmen Sie es nicht so schwer«, riet Mick, der zum ersten Mal eine Spur Mitgefühl für ein hohes Tier aufbrachte. »Wir werden alle irgendwann mal reingelegt, und eine süße Kleine mit großen blauen Augen und den richtigen Sprüchen drauf ist ein besserer Grund als die meisten Entschuldigungen, die ich bisher von gelinkten Agenten gehört habe.«
Er rieb mit dem Daumen wieder und wieder über Sasha Millers Foto in der Variety-Anzeige auf dem Schreibtisch, verfolgte den hübschen Schwung ihrer Lippen mit dem Fingernagel. Dann wandte er sich seinem Vorgesetzten zu. »Ich verspreche Ihnen etwas«, gelobte er ausdruckslos. »Wenn diese Frau dafür verantwortlich ist, dass dieser verschnittene Schnee die gesamte Westküste rauf und runter im Umlauf ist, bringe ich Ihnen persönlich ihren Kopf. Serviert auf einem Tablett.«