Читать книгу Todesspirale - Susan Andersen - Страница 5

Kapitel 2

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Sasha schlug die Augen auf und fand sich in einem Hotelzimmer wieder, das genauso aussah wie hundert andere, in denen sie aufgewacht war, und eine Sekunde wusste sie nicht, in welcher Stadt sie war. Hm. Sie blinzelte schläfrig und rieb sich mit einem Finger über die Lippen, wollte den pelzigen Geschmack auf ihrer Zunge vertreiben. Sacramento, oder? Ja, sicher, natürlich. Sacramento.

Sie rollte aus dem Bett, streckte sich ausgiebig und schlenderte ins Badezimmer. Als sie einige Minuten später wieder auftauchte, fühlte sie sich schon deutlich wacher. Sie zog eine Strumpfhose und ein Trikot an, eine alte Trainingshose und ein dickes Sweatshirt mit Kapuze. Sobald sie vorsichtig ihre dicken dunklen Locken entwirrt hatte, fasste sie ihr Haar oben auf dem Kopf mit einem stoffbezogenen Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammen. Durch das Gewicht neigte er sich gefährlich zur Seite, sobald sie ihn losließ. Aber da es ihr sowieso nicht auf schickes Aussehen ankam, ignorierte sie die Schräglage. Sie nahm ihre Handtasche und den Schlittschuhkoffer und verließ das Hotelzimmer.

Auf der Taxifahrt zum Stadion blickte Sasha nach draußen und ließ das Durcheinander der letzten paar Tage Revue passieren. Henry Chambers, der Geschäftsführer, hatte plötzlich die Follies verlassen. Ohne vorherige Ankündigung, was ganz und gar nicht seine Art war, war er einfach abgefahren. Gerüchten zufolge war von irgendwelchen Notfällen in der Familie die Rede, aber sein unerwarteter Aufbruch hatte große Verwirrung gestiftet. Zum Beispiel gab es ein allgemeines Gerangel um die Hotelzimmer gestern ohne Henry mit seinem allgegenwärtigen Klemmbrett in der Hand, um sie wie üblich nach Ankunft in einem neuen Hotel freundlich und effizient einzuweisen.

Glücklicherweise hatte sich bereits ein Nachfolger gefunden; er sollte heute Nachmittag Henrys Platz einnehmen. Die Chancen, dass er auch nur halb so nett war wie der liebe und bescheidene Henry, waren ziemlich gering, aber Sasha wäre schon über einen nur halb so Fähigen glücklich.

Und Henry, der Gute, hatte sie nicht mal mitten in seiner eigenen Krise vergessen. Bevor er verschwunden war, hatte er mit jemandem verabredet, dass sie die Eisfläche in Sacramento inspizieren konnte, auf der die heutige Abendveranstaltung stattfand. Er hatte ihr eine Notiz hinterlassen, dass ab neun Uhr morgens der diensthabende Wachmann sie erwartete.

Henry verstand, wie wichtig es Sasha war, das Eis jeder neuen Eisbahn zu prüfen, bevor sie vor Tausenden von Menschen auftrat. Und effizient wie eh und je hatte er sie nicht im Stich gelassen. Ein Wachmann, der auf sie wartete, ließ sie ein, als sie pünktlich um neun Uhr in der Arco Arena eintraf. Damit blieben ihr zwei Stunden zum Trainieren, bevor die Karawane von fünf Trucks plus Anhängern mit der gesamten Bühnenausstattung und der Mannschaft, die sie montierte, eintraf.

Es war kalt und dunkel im Innern, und als sie dem Wachmann durch mehrere Korridore folgte, hallte das hohle Echo ihrer Schritte von der niedrigen Betondecke der Flure wider. In dem Moment, wo sie das Stadion erreichten, erhoben sich ihre Stimmen, hallten wider von den leeren Sitzreihen und stiegen zu dem hohen Dach des Stadions auf.

Die Begleitung des Wachmanns endete direkt hinter dem Eingang ins Stadion, und innerhalb weniger Augenblicke nach dem Geräusch betätigter Lichtschalter ging die Deckenbeleuchtung nach und nach an. Sasha zog ihre Trainingshose aus, setzte sich auf einen Sitzplatz, öffnete ihren Schlittschuhkoffer und holte ihre Schlittschuhe heraus.

Sie schlüpfte aus ihren Straßenschuhen und beugte sich vor, um die Schlittschuhe anzuziehen. Es war ihr zur zweiten Natur geworden, die Schuhbänder gleichmäßig festzuziehen, und kurz darauf hatte sie sie zugebunden und stand auf den Füßen, machte erst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein Lockerungsübungen. Sie betrat das Eis, bückte sich, um die Gummischoner abzunehmen, die die scharfen Kufen schützten, und legte sie auf die Balustrade, die die Eisbahn von der Tribüne trennte.

Sie begann, langsam ihre Kreise um die Bahn zu ziehen, wärmte ihre Beinmuskeln auf und entwickelte ein Gefühl für das Eis. Jede Eisbahn war anders, und das Eis immer unterschiedlich. Als sie zum Ende ihrer Aufwärmübungen kam, begann Sasha allmählich, das Tempo zu erhöhen.

Sie lief in die Mitte der Bahn, bremste ab und nahm ihre Eröffnungsposition ein. Mit der Phantommusik im Kopf absolvierte sie ihre erste Nummer, und als die gut lief, ging sie zur nächsten über. Aus irgendeinem Grund gelang ihr heute der Doppelaxel nicht so richtig, und frustriert konzentrierte sie sich noch einmal und verwendete alle Energie darauf, ihn richtig auszuführen.

Der Axel ist der einzige Sprung, den ein Eiskunstläufer vorwärts einspringt. Sasha beugte ihr linkes Knie, Arme gestreckt nach hinten. Mit einer einzigen Bewegung riss sie die Arme nach vorn, zog ihr rechtes Knie eng an den Körper und sprang in die Luft. Sie presste die Arme an den Körper, kreuzte die Schlittschuhe für die Geschwindigkeit und machte zweieinhalb Umdrehungen. Sie kickte ihr rechtes Bein zurück, landete sicher und lief in einem kleinen Bogen aus.

Okay, gut. Sie versuchte es noch einmal. Der Sprung gelang ihr wieder ohne Schwierigkeiten. Jetzt übermütig geworden, versuchte sie einen Dreifachsprung.

Und landete auf dem Hintern.

Lachend stand sie wieder auf. Egal, ihre Nummer enthielt sowieso keinen Dreifachaxel; sie hatte nur sehen wollen, ob sie ihn immer noch konnte. Sie versuchte es erneut, und es ging ziemlich glatt, obgleich sie an der Landung noch etwas feilen müsste.

Sashas Gedanken schweiften ab, während sie ihre Nummer durchprobierte. Profi-Eislaufen verlangte nicht denselben technischen Schwierigkeitsgrad wie die Amateurturniere es von ihren Teilnehmern forderten, wenn sie sie bewerteten, und wenn man nicht ständig übte, konnte man alles leicht verlernen. Sasha versuchte, sich in Spitzenform zu halten, ihre Technik zu verfeinern. Gleichzeitig leugnete sie nicht, dass es eine ungeheure Erleichterung war, nur für Publikum zu laufen, dessen Anerkennung in der Regel unkritisch war.

Die Amateurturniere waren ihrer Erfahrung nach alles andere als flexibel, aber die Follies waren eine andere Geschichte, und sie liebte sie. Im Gegensatz zu einigen anderen der großen Eisshows ermutigten die Follies ihre Mitwirkenden, neue Nummern mit innovativen Ideen zu entwickeln, ein Konzept, das sie, als eine Eiskunstläuferin, deren Individualität auf dem Eis sich häufig eher als hinderlich erwiesen hatte bei Wettkämpfen, sehr begrüßte. Sie hatte allein dafür, anders zu sein, viele Punkte eingebüßt in ihren Turniertagen, aber jetzt war sie nicht länger der Gnade irgendwelcher Juroren ausgesetzt, die, bevor ihr Programm auch nur begann, eine vorgefasste Meinung darüber hatten, was es enthalten sollte. Und das war wundervoll.

Eislaufen war ihr Leben seit... mein Gott, seit ewig, wie ihr schien. Es hatte ihr ermöglicht, Kells Crossing zu verlassen.

Es war der Hauptgrund, dass ihr Leben dort so schwierig gewesen war.

Sie war auf der falschen Seite des Flusses aufgewachsen, an einem Ort, wo solche Dinge eine Rolle spielten. Es gab eine strikte soziale Rangordnung in Kells Crossing, an die man sich gewissenhaft zu halten hatte. Du stammtest entweder aus der Stadt mit einem großen S, oder du kamst von der ärmeren Westseite. Eislaufen und Sashas Verbindung zu Ivan Petralahti hatten sie irgendwo dazwischen eingestuft.

Das war im günstigsten Fall eine wenig beneidenswerte Position, und besonders hart war sie für einen Teenager. Sie und Lon Morrison, jedenfalls schien es damals so zu sein, waren die einzigen beiden Menschen in Kells Crossing, die nie recht wussten, wohin sie gehörten. Weder Fisch noch Fleisch, nirgends passten sie richtig hin. Nur auf das Eis.

Sie hatte Lonnie kennengelernt, als sie zehn Jahre alt war. Sie stammten beide von der Westseite, waren Kinder von Mühlenarbeitern, aber ihre Wege hatten sich bisher nie gekreuzt.

Was nicht sonderlich überraschend war. Lon war ein Jahr älter als Sasha und wohnte in der State Street. Sie wohnte unweit des Flusses in der Fifth. Sie nahmen denselben Schulbus, gingen aber in verschiedene Klassen. Er war ein Junge, sie war ein Mädchen; ihre Interessen waren bis zu dem Tag, an dem sie sich trafen, grundverschieden. Aber dann öffnete eines Sonnabendnachmittags Ivan Petralahti seine Eislaufbahn auch den Mühlenarbeiterkindern, und für Sasha und Lonnie tat sich eine brandneue Welt auf.

Sie veränderte ihr Leben.

Das gesellschaftliche Leben in Kells Crossing war größtenteils durch wirtschaftliche Strukturen definiert. Doktoren, Anwälte, Kaufleute, Mühlenbesitzer und die leitenden Angestellten der Mühlen lebten auf der Ostseite des Flusses in der Stadt, und die Wohlhabendsten lebten in den großen Häusern auf dem Hügel. Die Bewohner dieser riesigen, verzierten Häuser wurden als ziemlich dicke Fische in dem kleinen Teich, der Kells Crossing ausmachte, betrachtet.

Aber Ivan Petralahti kam dem, was einen Prominenten ausmachte, am nächsten.

Ivan Boris Petralahti war Osteuropäer, ein sehr bekannter und sehr respektierter in der Welt des internationalen Eiskunstlaufs. Natürlich immer noch ein Fremder genau genommen – zumindest nach der engstirnigen Auffassung von Kells Crossings ersten Familien – was die Gesellschaftslöwen aber nicht davon abhielt, ihn zu jedem gesellschaftlichen Anlass einzuladen, den der Hügel zu bieten hatte. Trotz angeborener Vorurteile überbot man sich förmlich darin, den anderen immer um eine Nasenlänge voraus zu sein.

Schließlich trainierte Petralahti Weltmeister- und Olympiamedaillengewinner in diesem privaten Komplex am Stadtrand, der ihm gehörte und in dem ständig wichtige Leute ein und aus gingen, wie man wusste. Gastgeberinnen wetteiferten um das Privileg, ihn bei sich begrüßen zu dürfen. Wenn Petralahti bei einer Soiree auftauchte, wurde das als gesellschaftlicher Coup gewertet, besonders da er die vielen Einladungen, die er erhielt, ebenso häufig abzusagen wie anzunehmen pflegte. Ivan interessierte sich nur fürs Eislaufen und betrachtete die Sozialstrukturen in Kells Crossing als kleinkariert und provinziell.

Sasha Miller, das Kind eines Mühlenarbeiters, hätte nie erwartet, diesem Mann auch nur zu begegnen. Und in Wahrheit war sie viel zu jung, um sich darüber Gedanken zu machen. Sein Prominentenstatus sagte ihr nichts; alles, was sie von dem Mann wusste, war, dass er zurückgezogen lebte, einen komischen Akzent hatte und ihm eine private Eislaufbahn gehörte.

Letzteres war das Einzige, was sie interessierte.

Sasha liebte das Eislaufen. Sie lebte für die Winter, wenn erst Swensons Teich und dann der Fluss zufroren und sie ihre alten, geerbten Schlittschuhe anziehen konnte. Auf dieses Jahr freute sie sich besonders, weil sie das erste Mal nicht die Schlittschuhstiefel mit Mamas ältesten Nylonstrümpfen ausstopfen musste, damit sie ihr passten. Von dem Augenblick an, als sie von der Gelegenheit hörte, auf einer Kunsteisbahn zu laufen – etwas, was sie noch nie getan hatte – konnte sie nicht mehr ruhig schlafen.

Genau wie Weihnachten schien der große Tag nie zu kommen. Schließlich kam er natürlich doch, und Sasha war unter den Allerersten an der Methodisten Kirche in der Seventh Street, wo der Bus wartete, der sie zu Mr. Petralahtis Eisbahn fahren sollte. Sie stieg ein und musste quälend lange warten, bis der Rest der Kinder eintrudelte. Als der letzte Nachzügler endlich in den Bus stieg, hätte sie vor Ungeduld platzen können.

Zu aufgeregt, um sich mit irgendjemandem zu unterhalten, schwieg sie auf der kurzen Fahrt über den Fluss zu den Außenbezirken der Stadt und starrte aus dem Fenster, während sie im Stillen den klapprigen Bus anspornte, schneller zu fahren.

Die Eisbahn war alles, wovon sie geträumt hatte, und mehr. Das Eis war spiegelglatt, glatter als alle anderen Eisflächen, auf denen sie je Schlittschuh gelaufen war. Und sicher. Es war der reine Spaziergang, nicht ständig nach dünnem Eis Ausschau zu halten, nicht auf gefährliche Stellen zu achten, die man vermeiden musste. Freudig erregt flitzte sie immer wieder um die Bahn, fädelte sich ein und bei den vorsichtigeren Läufern wieder aus.

Ein Junge in der Mitte der Eisfläche fiel ihr sofort auf. Er probierte Figuren, die sie auch versucht hatte auf Swensons Teich letzten Winter, und war dabei ungefähr genauso geschickt wie sie. Als sie sah, wie er sich zum dritten Mal aufrappelte, lief sie zu ihm. Schweigend bemühten sich die beiden, ihre Schlittschuhe auf eine Weise synchron zu bewegen, die sie nicht benennen konnten, weil ihnen die Erfahrung fehlte. Als ihre Kufen nicht gehorchen wollten und sich stattdessen ineinander verhakten und sie entweder auf den Knien oder auf ihrem Allerwertesten landeten, grinsten sie, standen wieder auf und versuchten es erneut.

Es war der schönste Tag in Sashas Leben.

Und er ging viel zu schnell vorüber. Bevor sie sichs versah, war sie schon wieder zu Hause, pellte Kartoffeln für das Abendessen und schwärmte ununterbrochen von ihrem Tag auf dem Eis. Sie hatte bereits zwanzig Minuten ohne Pause geplappert, als es klingelte und ihr aufgeregter Monolog unterbrochen wurde.

»Ich gehe schon«, sagte ihre Mutter mit einem liebevollen Lächeln für ihre euphorische Tochter.

Sasha schnippelte eine Kartoffel und tippte ungeduldig mit den Zehen auf den abgewetzten Linoleumboden. Sie hoffte, wer auch immer es war, dass er ihre Mutter nicht zu lange aufhalten würde, weil sie ihr noch sehr viel mehr zu erzählen hatte. Sie hatte ihr noch gar nichts von dem Jungen erzählt.

Sasha merkte in dem Moment, dass sie seinen Namen gar nicht kannte. Sie waren zusammen Schlittschuh gelaufen, hatten begeistert über drei Stunden ihre Geschicklichkeit ausprobiert. Aber sie hatten kaum zwei Worte miteinander gewechselt. Es war irgendwie seltsam, dass sie nicht reden mussten, beinahe so, als würden sie verstehen, was der andere probieren wollte, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

»Sasha?« Die Stimme ihrer Mutter, die irgendwie merkwürdig klang, unterbrach ihre Tagträumerei. Sasha blickte auf und sah sie in der Tür stehen. »Komm bitte mal. Hier ist jemand, der dich sehen möchte.«

Sasha folgte ihr ins Wohnzimmer und blieb erschrocken an der Schwelle stehen. In dem alten, ramponierten Sessel saß Ivan Petralahti.

Persönlich.

In ihrem Haus.

Ihr Mund öffnete und schloss sich mehrmals, aber sie brachte kein Wort heraus. Sie hielt sich am Türrahmen fest und brachte endlich quiekend seinen Namen heraus. »Mr. Petralahti!«

»’Allo Sasha.« Er erhob sich. »Ich bin gekommen zu reden mit dir über Skating«, sagte er.

»Mit mir?« Sie machte große Augen. »Sie möchten mit mir reden?«

»Ja. Ich dich sehen laufen heute, und ich sehen etwas... etwas Besonderes. Kein Training. Roh, du verstehen. Aber du es lieben, ja?«

»Oh ja! Mehr als alles andere.«

»Dann du wirst sein meine Schülerin. Kommen Montag auf die Eisbahn pünktlich nach Schule. Ich dich erwarten nicht später als vier Uhr.« Er bewegte sich auf die Tür zu.

»Mr. Petralahti«, meldete sich Sashas Mutter ängstlich zu Wort, die fürchtete, dass er irgendwie die Ärmlichkeit ihres Hauses übersehen hatte, »wir können uns das schlicht nicht leisten –«

»Isst eine Stipendium«, drehte sich Petralahti beruhigend zu ihrer Mutter um. »Ich geben zwei, und eins bekommen Sasha auf Probe. Wenn sie es so gut macht, wie ich erwarten, wird es sein von Dauer. Das zweite ich geben einem jungen Mann. Name ist Lon Morrison.« Er drehte sich leise lächelnd zu Sasha um. »Ich denken, du ihn kennen, hm? Vier Uhr«, wiederholte er streng. »Nicht kommen zu spät.« Und genauso abrupt, wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden.

Sasha blinzelte ihre Mutter verwundert an. »Mr. Petralahti wird mein Lehrer?« Sie lachte plötzlich, dieses tiefe, ansteckende Lachen, das sie schon als Kleinkind hatte, und fasste ihre Mutter an den Händen und wirbelte sie herum. Mitten in ihrer dritten Drehung löste sie sich plötzlich von ihrer Mutter und sah sie fragend an. »Aber wieso sagte er, dass ich ihn kenne, Mama? Ich kenne niemanden, der Lon Morrison heißt.«

Aber sie tat es doch. Mehr oder weniger. Denn das Erste, was sie am Montag erfuhr, als sie die große, scheunenartige Anlage von Ivan Petralahti betrat und ihn über das Eis sausen sah, war, dass Lon Morrison der Junge war, den sie in der Mitte der Eisfläche gesehen hatte.

Sie schüttelte den Kopf, fuhr erschrocken zusammen und zurück in die Gegenwart. Ach, du heiliger Strohsack. Woher kam das denn nur?

Als ob du das nicht weißt.

Sasha lief langsam an die Seite der Tribüne zurück, wo sie ihre warmen Sachen und den Schlittschuhkoffer abgestellt hatte. Sie sollte sich lieber auf den Weg machen. Diese kleine Erinnerungsreise war ja gut und schön... aber das Leben ging weiter.

Dann hob sie den Kopf, stur und stolz zugleich. Nein, bleib bei der Wahrheit, verlangte sie von sich selbst. Es war absolut nicht gut und schön, genau genommen war es ziemlich beunruhigend. Es brachte Erinnerungen zurück, die sie so schnell wie möglich hatte vergessen wollen, und während der Gedanke an Ivan nur erfreulich war, war der an Lonnie nur schmerzlich.

Sie hatte es so satt. Aber ihre Verbindung zu Lon Morrison schien ständig etwas Schmerzhaftes an sich zu haben.

Sasha zog ihre Schlittschuhe aus, trocknete die Kufen, legte die Schoner wieder an und verstaute sie. Sie zog ihre Trainingshose und die Straßenschuhe über und machte sich auf die Suche nach dem Büro, um ein Taxi zu rufen und den Wachmann zu informieren, dass sie ging. Zehn Minuten später befand sie sich auf dem Weg zum Hotel.

Eine Gruppe Follies-Künstler kam gerade aus dem Café, als sie die Lobby betrat. Connie war unter ihnen, und als sie Sasha erblickte, löste sie sich von der Gruppe und kam auf sie zu. »Hi! Wo warst du?«

»Habe das Eis geprüft im Arco-Stadion.«

»Sasha, Sasha, Sasha.« Connie schüttelte den Kopf in gespielter Verzweiflung. »Ich muss dir unbedingt zeigen, wie man ein bisschen Spaß haben kann.« Sie nickte in Richtung Café. »Bist du hungrig?«

»Am Verhungern«, gab Sasha zu. »Ich habe das Frühstück übersprungen.«

Connie fasste sie am Arm und steuerte mit ihr das Restaurant an. »Na, dann komm«, befahl sie. »Ich leiste dir Gesellschaft, während du isst.«

Connie hüpfte regelrecht auf und ab vor Aufregung, während Sasha ihre Bestellung aufgab. »Heiße Neuigkeiten«, sagte sie, sobald die Kellnerin sie allein ließ. »Der neue Manager ist angekommen, während du weg warst.« Sie strich die Tischdecke glatt. »Warte nur, bis du ihn in Augenschein genommen hast, Sasha.« Sie machte einen Kussmund, verdrehte die Augen zur Decke und wedelte mit der Hand. »Hmmm.«

Absolut ungläubig sah Sasha ihre Freundin über den Rand ihres Wasserglases an, das sie langsam auf den Tisch stellte. »Das ist nicht dein Ernst«, staunte sie. »Eine Zuckerschnitte? Wir haben tatsächlich einen Manager, der gut aussieht, der heiß ist? Gibt es nicht ein Gesetz gegen so etwas?« Gott segne Connie, das war genau das, was sie brauchte. Es verscheuchte ihr Grübeln über Lon. Nakamura war einfach spitze, wenn es um etwas Albernes, Frivoles und Lustiges ging.

Aber ihre Freundin hatte sich Sashas Beschreibung durch den Kopf gehen lassen, hatte sie tatsächlich ernsthaft von allen Seiten betrachtet. »Der gut aussieht?«, murmelte sie zweifelnd. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. So würde ich ihn nicht gerade beschreiben.«

Sasha schnaubte: »Wenn er nicht gut aussieht, was ist es dann, Connie?« Sie schürzte die Lippen, verdrehte die Augen, schüttelte die Finger, als habe sie sich verbrannt. »Ich dachte, du wolltest mir zu verstehen geben, dass die Follie-Manager tatsächlich ein richtiges Schätzchen für uns engagiert haben.«

»Haben sie ja.« Connie grinste. »Nur dass der Typ nicht übermäßig gut aussieht, das ist alles. Aber warte, bis du ihn gesehen hast, Sasha. Er ist« – sie suchte nach den richtigen Worten, um den Eindruck, den der Mann auf sie gemacht hatte, zu beschreiben, gab aber schließlich auf – »männlich«, sagte sie. »Sehr, sehr männlich.«

»Okay«, nickte Sasha weise. »Männlich ist gut.«

»Du weißt noch nicht mal die Hälfte, Kindchen. Worte werden diesem Kerl nicht gerecht.« Connie schwieg, während die Kellnerin Sashas Bestellung servierte. Sobald sie gegangen war, fuhr sie fort: »Negativ zu vermerken ist allerdings, dass er die heilige Karen bereits ernsthaft beleidigt hat.«

»Du liebe Güte.« Sashas Sandwich verharrte auf halbem Weg zwischen Teller und Mund, und ihre Miene spiegelte reine Bewunderung wider. »Er war erst – wie lange? – maximal drei Stunden auf dem Gelände, oder?«

»Versuche es mal mit eineinhalb Stunden.«

»Oh, noch besser. Wie hat er es geschafft, jemanden so schnell zu beleidigen?«

»Nicht irgendjemanden, Sasha... Karen. Und es waren Flüche. Er hat wild geflucht.«

Sie grinsten sich gegenseitig an. »Das wird dafür sorgen, dass sie ihre Hände für mindestens eine gute Woche aus seiner Hose lässt«, kommentierte Sasha trocken.

Karen Corselli war ihre Kollegin und ein wandelndes Rätsel. Blond und trügerisch zart von Erscheinung, trug sie als charakteristisches Markenzeichen immer Silber bei ihren Vorführungen, sah aus wie ein Engel und bevorzugte Nummern mit einem christlichen Thema. Sie war bekannt dafür, rüden Sprachgebrauch absolut nicht zu tolerieren und stattdessen zu beten.

Und dennoch...

Wenn man den Gerüchten Glauben schenken wollte, mochte sie Männer sehr. Wirklich sehr. Es gab welche, die darauf bestanden, dass sie eine richtige Schlampe war.

Ein so interessanter Gegensatz war Quelle endloser Spötteleien und Spekulationen für Sasha und Connie. Sie sahen nur die eine Seite von ihr. Zu ihnen, wie auch zu den anderen Frauen innerhalb der Truppe, war sie im Grunde genommen recht nett, wenn auch ein wenig distanziert und sehr spießig. Offen gesagt, kam sie ihnen prüde vor. Eine predigerhafte Prüde, und sie konnten sich Karen bei aller Liebe einfach nicht anders vorstellen.

Jedoch laut der männlichen Teilnehmer der Follies on Ice, zumindest des heterosexuellen Teils, war sie nicht prüde. Und wenn sie bei ihnen Gottes Namen anrief, dann bestimmt nicht zum Gebet, schworen sie.

»Ich habe immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich so über sie rede«, gab Sasha jetzt zu. »Ich habe nie gesehen, dass sie sich anders als absolut tugendhaft verhält. Ich meine, es hat einen gewissen Unterhaltungswert, sich vorzustellen, dass sie tut, was die Männer ihr unterstellen, aber ich weiß nicht, Connie; es ist und bleibt schwer vorstellbar. Ich kenne sie jetzt seit Jahren. Wir sind vielleicht keine Freundinnen – sie ist so verschlossen, dass ich bezweifle, dass überhaupt irgendjemand sie richtig kennt – aber wir haben bei denselben Amateurturnieren mitgemacht. Die Sache ist die, dass sie immer so sauber wirkt.«

»Ich weiß, was du meinst. Und die meisten Kerle, die behaupten, dass sie sie auf die gute alte biblische Art und Weise erkannt haben, quatschen sowieso nur blöd daher«, gab Connie ihr recht. »Aber... alle, Sasha? Jeder verdammte Heterosexuelle dieses Ensembles? Künstler, Beleuchter, Fahrer, Bühnenarbeiter? Das sind sehr viele Männer, die alle das Gleiche behaupten.«

Sasha sah ihre Freundin über den Tisch hinweg an. »Weißt du, was mich dazu bringt, dir zu glauben?«

»Henry«, konstatierte Connie grinsend.

»Ja, Henry.« Sasha erwiderte das Lächeln etwas verlegen. »Als ich hörte, dass er mit ihr zusammen gewesen sein soll, habe ich ihn ohne Umschweife gefragt, aber er hat kein Wort von sich gegeben – er ist eben ein netter Mann. Aber, du liebe Güte, Connie, er ist so rot geworden, dass ich schon einen Schlaganfall befürchtete.« Sie lachte plötzlich, ein spontaner, kräftiger Laut, der von ganz unten aus ihrem Zwerchfell kam. Wie immer brachte das die Umsitzenden dazu, sie anzusehen und instinktiv mitzulächeln. »Mann, wenn das wahr ist und sie Henry verführt hat, dann muss sie schon etwas Besonderes sein.«

Connie grinste immer noch. »Macht einen irgendwie sprachlos, nicht wahr?«

»Das kannst du laut sagen.« Sasha blickte ihre Freundin an. »Also, was ist nun los mit dem neuen Manager? Was genau hat er gesagt, um sie gegen sich aufzubringen?«

Connie wiederholte die Kette von Flüchen und Sasha saß mit offenem Mund da, so schockiert war sie. »Also, um Karen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der Typ hat wirklich ein loses Mundwerk. Ich war irgendwie überrascht, als er sich als der neue Manager vorstellte, denn du weißt ja, wie viel Wert die Unternehmensleitung auf das Familienimage der Follies legt. Deine Nummer geht so gerade noch als jugendfrei durch. Und zu Micks Verteidigung muss ich sagen, dass er es genau genommen nicht zu ihr gesagt hat. Ich bin ein bisschen spät dran gewesen zum Lunch –«

»Oh, das ist aber eine Überraschung.«

»Du kannst mich mal gern haben.« Connie hatte viel Übung darin, Sashas Frotzeleien zu überhören. »Wie auch immer, ich stieß mit Karen zusammen, die gerade zurück in ihr Zimmer wollte und Gott weiß woher kam. Ich sagte ihr, dass alle im Café seien, und sie beschloss, mich zu begleiten. Mick, das ist der Name unseres neuen Managers, wie dir bestimmt inzwischen klar ist, stand vor seinem Zimmer. Er versuchte, beladen mit seinem gesamten Gepäck, die Tür zu öffnen, und wir gingen gerade vorbei, als die Hälfte davon zu Boden fiel. Er begann zu fluchen, und du musst zugeben, er war ziemlich kreativ.« Connie zuckte die Achseln. »Du kennst ja Karen. Sie blieb stehen und gab ihm unmissverständlich zu verstehen, dass derartige Kraftausdrücke nicht tolerabel seien.«

»Und blickte er ihr nur ein Mal in die großen braunen Augen und konnte sich gar nicht schnell genug entschuldigen?« Sie hatte diese Reaktion mehr als einmal beobachtet.

»Er war ganz kurz davor, ihr zu sagen, dass sie sich verp... soll«, erwiderte Connie lachend. »Er hat es nicht wörtlich gesagt, aber es war überdeutlich, dass ihm die Worte schon auf der Zunge lagen. Er ist einer der ganz wenigen Männer, die nicht auf einen Zentimeter mit Hut zusammenschrumpfen, nachdem sie ihnen die Leviten gelesen hat.«

Connie sah schweigend zu, als Sasha ihr Sandwich aß. Dann lockerte sie die Schultern und fuhr fort: »Aber irgendwie war es schon merkwürdig, Sasha. Eben noch ganz der arrogante Macho, von dem du nie und nimmer denken würdest, dass er einen Rückzieher macht, und gleich darauf sieht er erst sie und dann mich genauer an... und es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht. Er hat zwar auch dann nicht gerade eine Kehrtwendung gemacht, aber er lächelte, und du kannst mir glauben, das war nicht von schlechten Eltern.« Sie grinste. »Es hat mich glatt umgehauen. Er sagte dann, ›Karen Corselli‹, als kenne er sie schon ewig, und mir nickte er zu. Na ja, ich bin keine Solistin, so dass er meinen Namen nicht kennt. Aber das war der Moment, als er sich als der neue Manager vorstellte. Und dann hat er sich entschuldigt... und eine hübsche kleine Rede war das.« Connie schüttelte den Kopf. »Mann. Das ist ein Typ. Ich sage dir, Sasha, er hat etwas echt Umwerfendes an sich.«

Sasha studierte die Miene ihrer Freundin. Sie und Connie rissen oft Witze, die ein Außenstehender wahrscheinlich so interpretiert hätte, dass sie sexsüchtig wie Klosterschülerinnen waren und zweimal so viel Lust hatten. Aber in Wahrheit wussten sie voneinander, dass es zum größten Teil heiße Luft war, was sie auch gern zugaben. Connie betrachtete Männer und Beziehungen im Allgemeinen mit Humor und einem Anflug von Zynismus. Sashas Haltung glich der ihrer Freundin, was den Humor betraf, war aber durchsetzt mit etwas anderem. Etwas... Dunklerem.

Weshalb Connies Gesichtsausdruck Sashas Neugier weckte. Weil er den gewöhnlichen Humor zeigte wie auch den ihr bekannten Zynismus. Aber da war noch etwas. Anziehung vielleicht, und wenn, dann war das ein ebenso abschreckender wie verlockender Reiz.

»Puh.« Sasha stützte das Kinn in die Hand, schluckte den letzten Bissen ihres Sandwichs hinunter und musterte ihre Freundin. »Ich wünschte, du könntest dein Gesicht sehen«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ich dich schon mal so gesehen habe.« Sie ließ den Blick auf ihr ruhen. »Im Ernst, Connie«, sagte sie schließlich nachdenklich. »Wenn er so eine Reaktion bei dir hervorruft, bin ich wirklich neugierig darauf, diesen Typen kennenzulernen.«

Todesspirale

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