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Das Wimmern von Countrymusic und der Geruch nach Zigarettenrauch und Bier trafen Veronica Davis wie ein Schlag an den Kopf, als sie sich durch die Tür der Honky Tonk Bar in der Baker Street schob. Die altbekannten Geräusche und Gerüche versetzten sie abrupt in die Vergangenheit zurück und bombardierten sie mit einer Unmenge von Erinnerungen.

Keinen sonderlich angenehmen.

Sie blieb gleich hinter der Tür im Eingang stehen und holte ein paar Mal tief und bewusst ruhig Atem, während sie beobachtete, wie ein dünner Rauchschleier in dem Luftzug, den sie beim Hereinkommen erzeugt hatte, an ihr vorbeischwebte. Der Rauch waberte und wirbelte durch den Raum, nahm die mehrfarbigen Schattierungen der Neonreklame für Whisky an, die in der matt erleuchteten Bar als Dekoration gelten konnte. Auf den Tischen flackerten Votivkerzen in Behältern, von denen Veronica hätte schwören können, dass es dieselben rauchfleckigen Gläser waren, die schon vor zwölf Jahren dort gestanden hatten.

Die Musik brach für einen kurzen Moment ab, während die Jukebox auf einen neuen Titel umschaltete. Stimmen hoben und senkten sich, Kugeln klickten auf dem Billardtisch in der Ecke, und Gläser klirrten leise, als eine Kellnerin leere Gläser von einem Tisch räumte und auf einem Tablett stapelte. Eine plötzliche Aufwallung von Panik nahm ihr fast den Atem, und sie musste sich nachdrücklich ins Gedächtnis rufen, dass sie lediglich kurz hereinschauen wollte, um sich mit dem neuen Barkeeper/Geschäftsführer bekannt zu machen, den Marissa eingestellt hatte, und sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie die Bar lief. Sie hatte zwar etliche Jahre hier gearbeitet, hatte aber bestimmt nicht vor, es jemals wieder zu tun; also gab es nicht die geringste Veranlassung, sich so zu fühlen, als müsste sie auf der Stelle kehrtmachen und die Flucht ergreifen.

Als die Kellnerin das Tablett mit den leeren Gläsern auf einer Hand balancierte und sich über den Tisch beugte, um verschüttetes Bier aufzuwischen, erinnerte Veronica sich nur zu deutlich daran, wie klebrig die Tische ständig zu sein schienen, ganz egal, wie oft man sie abwischte. Und als eine lärmende Gruppe von Männern an einem anderen Tisch anzügliche Bemerkungen über die Art machte, wie die Kellnerin ihre Jeans ausfüllte, erinnerte sich Veronica auch wieder an die nervenaufreibenden Kommentare, die sie damals ständig anhören musste.

O Gott! Angesichts der Umstände, die sie nach Fossil zurückgeführt hatten, hätte sie nicht gedacht, dass sich ihr Magen noch aufgewühlter anfühlen könnte, als es ohnehin schon der Fall war. Aber sie hatte sich geirrt. Obwohl sie nie vergessen hatte, wie es war, den ungeniert grapschenden Händen betrunkener Männer auszuweichen, war es doch schon lange her, dass sie damit hatte fertig werden müssen, und die magenaufwühlende Aktualität war längst verblasst.

Doch jetzt stürmte alles wieder auf sie ein, als sie zusah, wie einer der Männer den Umstand, dass die Kellnerin beschäftigt war, ausnutzte, um ihr Hinterteil zu tätscheln. Ein alter, vertrauter Geschmack ohnmächtiger Wut stieg in Veronicas Kehle auf, als der Mann seine Freunde angrinste und die wohl gerundete Pobacke der jungen Frau kräftig drückte. Erbost marschierte Veronica los.

Sie blieb jedoch wie angewurzelt stehen, als das voll beladene Tablett der Kellnerin plötzlich mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf die Tischplatte krachte. Es stieß gegen den Kerzenhalter, der über den Tisch schlitterte, aber glücklicherweise zum Stehen kam, ehe er über die Kante kippen und auf dem Fußboden zersplittern konnte.

»Jetzt reicht’s mir aber, verdammt noch mal!« Die wütende Stimme der Cocktailkellnerin war laut und deutlich in der plötzlich eingetretenen Stille zu hören. Sie langte blitzschnell hinter sich, kratzte mit langen, knallrot lackierten Fingernägeln über die Hand des Mannes und wirbelte zu ihm herum, als er sie ruckartig zurückzog.

Der Betrunkene schrie voller Empörung auf und sprang auf die Füße, sodass sein Stuhl scharrend über den Fußboden rutschte. »Du elendes Miststück!« Er starrte ungläubig auf die Blutstropfen, die aus den Kratzwunden auf seinem Handrücken hervorzuquellen begannen. Dann ballte er die Hand zur Faust und hob den Arm, als wollte er die Frau schlagen.

Mit einem erstickten Laut des Protests auf den Lippen versuchte Veronica, der Frau zu Hilfe zu kommen. Doch ehe sie sich an den Gästen vorbeidrängen konnte, die von ihren Plätzen aufgestanden waren, um einen besseren Blick auf den Tumult zu bekommen, donnerte eine tiefe Männerstimme durch den Raum.

»Schluss damit!«

Wie alle anderen hielt auch Veronica jäh inne, aufgehalten durch die reine, absolute Autorität, die eine ganze Bar mitten in der Bewegung hatte erstarren lassen.

Dann sah sie die Person, die dafür verantwortlich war, und konnte sie nur verblüfft anstarren.

Wow! Das musste Cooper Blackstock sein, der neue Barkeeper, den Marissa eingestellt hatte, damit er künftig die Bar führte.

Er war groß und kräftig und sah geradezu gefährlich aus mit diesen zu Schlitzen verengten, abschätzend dreinblickenden Augen, dem eigensinnigen Kinn, dem granitharten Körper und diesen hohen, ausgeprägten Wangenknochen, die so scharfkantig aussahen, als könnte man sich an ihnen schneiden. Und dann dieses Haar! Veronica konnte einfach nicht aufhören, auf sein Haar zu starren, als er hinter der Theke hervorkam, denn es war anders als alles, was sie jemals auf den Köpfen der Karrieremänner gesehen hatte, mit denen sie bislang ausgegangen war.

Du lieber Himmel, färbte er seine Haare etwa? Die erwachsenen Männer in dieser Kleinstadt im Osten Washingtons würden nicht im Traum daran denken, etwas so Weibisches zu tun, aber dieser Haarschopf hier musste ganz einfach gefärbt sein.

Kurz geschnitten, stachelig hochstehend wie bei einem Punkrocker, in einem hellen, nordischen Blond, das sich fast weiß von seinem Gesicht abhob, das für Januar erstaunlich gebräunt war. Dennoch waren seine kühn geschwungenen Augenbrauen und seine dichten, fransigen Wimpern schwärzer als die Seele des Teufels, seine Haut olivfarben und seine Augen von einem undurchdringlichen Zartbitterschokoladenbraun.

Fossil war eine konservative Stadt, und die Kundschaft des Tonk konnte gnadenlos sein mit jemandem, der so ungewöhnlich aussah wie dieser Typ hier, deshalb musste er wegen seines bizarren Aussehens schon öfters angeeckt sein. Aber wenn dieser Schert-euch-zum-Teufel-Blick in seinen Augen irgendetwas zu bedeuten hatte, dann dies, dass ihn keine Meinung außer seiner eigenen interessierte. Er marschierte mit einem aggressiven Ausdruck Marke »Ich bin, wie ich bin, und wenn euch das nicht passt, dann könnt ihr mich mal kreuzweise!« durch die Menge, und Leute, die sich keinen Fingerbreit von der Stelle gerührt hatten, als Veronica der Kellnerin zu Hilfe kommen wollte, wichen jetzt so bereitwillig zurück wie das Rote Meer vor Moses, als Blackstock näher kam.

Der Betrunkene streckte seine Hand zur Begutachtung aus, als der Barkeeper an seinem Tisch erschien. »Hier, sehen Sie sich bloß mal an, was sie mit mir gemacht hat!«, beschwerte er sich. Die spöttischen Bemerkungen seiner Saufkumpane, dass er sich von einer Frau hatte schlagen lassen, fachten seinen ohnehin schon brodelnden Zorn noch stärker an, und er blähte sich auf wie ein Zwerghahn. »Ich sollte ihren Arsch verklagen!«

»Sie sollten Ihre Finger von ihrem Arsch lassen und froh sein, wenn sie nicht Sie wegen sexueller Belästigung verklagt!« Cooper hob den umgekippten Stuhl auf und stellte ihn mit einem dumpfen Knall an den Tisch zurück. Er starrte den Mann durchbohrend an. »Sie schulden ihr eine Entschuldigung.«

»Ich soll mich bei ihr entschuldigen? Das soll ja wohl ein Witz sein! Hier, sehen Sie sich das doch mal an – sie hat mich blutig gekratzt!«

»Verdammt richtig, genau das habe ich getan«, stimmte die Kellnerin zu. »Ich habe nämlich die Nase gestrichen voll von diesen Idioten, die meine Titten und meinen Hintern für öffentliches Eigentum halten. Also, weißt du was, Kumpel?« Sie drängte sich an dem Barkeeper vorbei, um sich vor ihrem Widersacher aufzubauen. »Ich will deine lausige Entschuldigung nicht. Behalt’ sie für dich und steck sie dir von mir aus in den Arsch!«

Dann riss sie sich mit einer energischen Bewegung die weiße Schürze herunter, die sie um die Hüften trug, wandte sich wieder zu Cooper um und knallte ihm das Kleidungsstück mit solcher Wucht gegen den Magen, dass sich ein schwächerer Mann vor Schmerz gekrümmt hätte. »Ich kündige! Du zahlst mir nicht genug für diesen Scheiß hier.«

»Rosetta, warte! Tu mir das nicht an, bitte!« Er zerknüllte die Schürze hilflos in seiner großen Faust, als er zusah, wie sie hinter die Theke marschierte, einen Moment dahinter verschwand, als sie sich bückte, und dann mit ihrer Tasche in der Hand wieder auftauchte. »Nun komm schon. Wir kriegen das schon irgendwie geregelt –«

»Nein. Kriegen wir nicht! Mir stehen diese Schwachköpfe bis hier! Ich werd’ mir einen Job besorgen, wo ich mich nicht andauernd mit Typen herumärgern muss, die ihre Persönlichkeit auf dem Boden einer Flasche finden.«

In demonstrativer Solidarität trat Veronica aus dem Weg, als die Kellnerin an ihr vorbeistürmte und auf den Ausgang zustrebte. Als sie sah, wie die Tür hinter der Frau zuschwang, fühlte sie sich zum ersten Mal, seit sie aus Schottland nach Hause zurückgekehrt und mit der Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Schwester Crystal empfangen worden war, wieder ein klein wenig aufgemuntert. Gut gemacht, Rosetta! Veronica hatte schon gar nicht mehr zählen können, wie oft sie sich danach gesehnt hatte, genau wie Rosetta einfach alles hinzuwerfen und zu gehen. Aber ihr war nichts anderes übrig geblieben, als weiterzumachen, denn dies war Daddys Bar, und Daddy war ein Chauvinist der alten Schule gewesen, der von solchen Dingen nichts hatte hören wollen. Und ihre Liebe zu ihm hatte sie schlichtweg eingesperrt.

Sie war jetzt drauf und dran, sich ebenfalls abzuwenden und hinauszugehen. Der Barkeeper würde mit Sicherheit zu wenig Personal haben und wahrscheinlich stärker eingespannt sein als der Teilnehmer eines Sado-Maso-Festivals in seinen Ketten, während er versuchte, dafür zu sorgen, dass alle Gäste rasch bedient wurden. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass er überhaupt einen Moment Zeit haben würde, und schon überhaupt nicht dafür, ihr eine genaue Übersicht über die geschäftliche Lage der Bar zu geben.

Und dennoch ...

Wenn sie jetzt ginge, würde sie vielleicht nie mehr zurückkommen. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Crystal, die die Dauerparty, die das Tonk nun einmal war, immer in vollen Zügen genossen hatte, konnte Veronica sich nicht daran erinnern, sich jemals an diesem Ort wohl gefühlt zu haben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nie wieder einen Fuß in den Laden gesetzt.

Aber Crystal war nicht mehr da, und Veronica hatte einer Verpflichtung nachzukommen; es wurde also höchste Zeit, sich wie eine erwachsene Frau zu benehmen und die Sache durchzuziehen. Sie wappnete sich im Geiste und ging auf den Tresen zu.

Sie wartete eine Weile ab, bis sich das Gedränge der Gäste, die ihre leeren Gläser zum Nachfüllen hergebracht hatten, allmählich wieder aufzulösen begann. Dann, als der Barkeeper dem Letzten in der Schlange einen Drink einschenkte und das Glas über die Theke reichte, straffte Veronica ihre Schultern.

Er blickte auf, als sie vortrat, und musterte sie anerkennend von oben bis unten. »Sie sind neu in der Stadt, nicht wahr«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Ich würde mich an diese Haut erinnern, wenn ich sie schon einmal gesehen hätte.« Sein Blick schien jeden einzelnen Quadratzentimeter ihrer Haut abzutasten, bevor er schließlich aufsah, um ihr in die Augen zu blicken. »Was kann ich für Sie tun?«

Veronica blinzelte. Wow! Es wunderte sie, dass die Männer von Fossil ihre Frauen nicht hinter Schloss und Riegel hielten, wenn dieser Kerl frei herumlief, denn selbst sie konnte die geballte Sinnlichkeit spüren, die er in Wellen ausstrahlte, und dabei war er überhaupt nicht ihr Typ. »Sind Sie Mr. Blackstock?«, fragte sie.

»Ja, aber nennen Sie mich ruhig Coop«, erwiderte er einladend und schenkte ihr ein blitzendes Lächeln, das erstaunlich charmant war für jemanden mit so wachsamen Augen. »Ich bin nämlich immer versucht, mich nach meinem Dad umzusehen, wenn ich höre, wie mich jemand Mister nennt, und dabei ist mein Dad schon lange, lange tot.« Dann wurde er plötzlich ganz geschäftsmäßig. »Da Sie meinen Namen kennen«, sagte er, »nehme ich an, dass Sie wegen eines Jobs hier sind.«

»Nein!« Veronica wich hastig einen Schritt rückwärts und riss die Hände hoch, als könnte sie auf diese Weise schon die bloße Vorstellung abwehren. Nein, nein und nochmals nein! Nach ihrem Collegeabschluss hatte sie sich geschworen, dass sie Zeit ihres Lebens nie wieder einen Drink servieren würde.

Es war ein Schwur, den sie eisern gehalten hatte, und sie war fest entschlossen, ihn auch weiterhin zu halten, und zwar bis zu dem Tag, an dem man ihre Leiche in den kalten, harten Erdboden senken würde.

Als sie jetzt sah, wie Cooper Blackstocks dunkle Brauen bis zu seinem blonden Haaransatz hochschnellten, zwang sie sich, ihre abwehrend hochgezogenen Schultern zu entspannen und ihre Hände wieder sinken zu lassen. Herrgott noch mal, Davis, reg dich ab! Du solltest vielleicht mal versuchen, den Idiotenquotienten hier nicht künstlich in die Höhe zu treiben. »Es tut mir Leid, ich hätte mich wohl besser erst einmal vorstellen sollen.« Mit hoch erhobenem Kopf und einem verstohlenen Ziehen an ihrem eleganten Wollblazer, mit dem sie sich daran erinnern wollte, dass sie es immerhin ganz schön weit gebracht hatte, trat sie erneut an den Tresen. »Ich bin Veronica Davis. Ich wollte nur kurz hereinschauen, um zu sehen, wie der Laden läuft.«

Cooper Blackstock erstarrte. Oder zumindest glaubte sie, dass er das tat, doch der Augenblick kam und ging so schnell, dass sie sich fragte, ob sie sich das vielleicht nur eingebildet hatte, denn im nächsten Moment schien er wieder vollkommen entspannt, sein Lächeln genauso lässig und charmant, wie es noch eine Sekunde zuvor gewesen war. Sie stieß einen müden Seufzer aus. Es war ein sehr langer und anstrengender Tag gewesen, und die Erschöpfung ließ sie offensichtlich Dinge sehen, die gar nicht existierten.

»Sie wollen wissen, wie der Laden läuft?«, verlangte Coop kühl zu wissen. »Okay, ich werd’s Ihnen sagen, Lady – im Moment nicht so berauschend. Aber jetzt, wo ich Sie im Visier habe, geht’s wieder bergauf. Hier!« Er warf ihr irgendetwas zu, und sie hob unwillkürlich die Hand, um es aus der Luft zu fangen, bevor es sie ins Gesicht traf. »Binden Sie sich die da um«, wies er sie an. »Und dann machen Sie sich an die Arbeit. Wir haben zu wenig Personal.«

Sie blickte entgeistert auf die weiße Schürze in ihrer Hand, dann ließ sie sie so abrupt fallen, als wäre sie eine Kakerlake, und hob mit einem Ruck den Kopf, um Coop entsetzt anzustarren. »Ich serviere keine Drinks!«

»Hören Sie zu, Prinzessin, ich habe eine Kellnerin, die sich krankgemeldet hat, und eine andere, die gerade eben fristlos gekündigt hat. Wenn Sie wollen, dass das Tonk zumacht und die Einnahmen einer Nacht verliert, okay, dann ist das ganz allein Ihre Entscheidung. Aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mir hier den Buckel krumm schufte, während Sie zu vornehm dazu sind, sich Ihre lilienweißen Hände schmutzig zu machen und ein paar Gläser zu schleppen.«

Sie funkelte ihn böse an, doch er zuckte lediglich mit seinen muskulösen Schultern und griff nach dem Bierkrug, den ihm ein Gast am Ende der Theke zum Nachfüllen hinhielt. Er stellte den Krug in die Spüle, nahm einen sauberen und hielt ihn schräg unter einen Zapfhahn. Veronica beobachtete das Spiel seiner Muskeln an den Unterarmen unter den hochgeschobenen Ärmeln seines buttercremefarbenen Pullovers, als, er den Bierstrom aus dem Zapfhahn regulierte und den Krug füllte, und starrte finster auf seine grobknochigen Handgelenke und die schiere Größe seiner derben, schwieligen Hände.

Wer war dieser Kerl mit dem Körper eines Farmers und dem Blick eines Kriegers, dass er sich einbildete, er könnte ihr vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen hatte? Was gab ihm das Recht, ihr mit der Schließung der Bar zu drohen? Genau genommen war sie hier die Inhaberin, und das machte sie zu seiner Chefin. Wenn hier irgendjemand Befehle erteilen sollte, dann ja wohl sie.

Aber sie war einfach zu erschöpft und mitgenommen, um sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen. Besonders mit jemandem, der ganz so aussah, als würde er einen ordentlichen Kampf genießen, je gemeiner und schmutziger, desto besser. Ganz zu schweigen davon, dass auch er einfach kündigen könnte wie Rosetta – und das wäre nun wirklich das Sahnehäubchen auf ihrem Kuchen, das ihr zu ihrem Glück gerade noch gefehlt hätte.

Und trotzdem hinderte sie das nicht daran, sich über sein Verhalten zu ärgern. Er kannte sie doch überhaupt nicht. Er hatte ja nicht die geringste Ahnung, wie hart sie gearbeitet hatte, um von hier wegzukommen; also, wie konnte er es wagen, sie anzusehen, als ob sie sich zu fein für ehrliche Arbeit wäre?

Wenn sie klug war, würde sie jetzt einfach auf dem Absatz kehrtmachen und gehen, so wie sie es schon längst hätte tun sollen, und zum Henker mit der Bar! Sollte der verdammte Laden doch vor die Hunde gehen, das war ihr doch wirklich schnurzegal!

Außer ... außer dass die Honky Tonk Bar das Erbe ihrer Nichte Lizzy war, nun da Crystal nicht mehr da war.

Tot. Ein jäher Schmerz durchzuckte Veronica, schnitt wie ein Messer in ihr Herz. Ihre Schwester war im vergangenen Monat ermordet aufgefunden worden, und Lizzys Vater, Eddie Chapman, war das Verbrechen zur Last gelegt worden. Und nur um die Dinge so richtig haarig zu machen, war Eddie wenige Stunden, nachdem der Richter bei der Voruntersuchung entschieden hatte, dass ein hinreichender Tatverdacht für ein Gerichtsverfahren vorlag, aus der Stadt verschwunden.

Und hatte seine Tochter damit praktisch als Waise zurückgelassen.

Nun ja, aber zum Glück war sie, Veronica, ja noch da. Sie straffte die Schultern. Zum Glück hatte Lizzy ja immer noch sie. Und sie war es ihrer Nichte schuldig, das Tonk in Gang zu halten, bis sie einen Käufer für die Bar finden konnte. In Anbetracht der Sachlage und der verschlungenen Wege, die das Rechtssystem ging, wusste nämlich nur Gott allein, ob das Kind jemals etwas von Eddies Anteil bekommen würde. Daher war Veronica fest entschlossen, jeden roten Heller zusammenzukratzen und alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um Lizzys Zukunft zu sichern.

Sie bückte sich und hob die Schürze vom Boden auf. Sie richtete sich wieder auf, zog ihren Blazer aus und faltete ihn sorgfältig zusammen, dann band sie sich die Schürze um die Taille und griff nach einem Tablett. Dabei begegnete sie dem dunkeläugigen Blick des Barkeepers, der mitten im Einschenken innegehalten hatte, um sie mit einem finsteren Blick Marke »Tempo! Setz endlich deinen Hintern in Bewegung, Mädchen!« zu bedenken. Bastard, dachte sie.

Doch laut ließ sie es bei einem »Hier« bewenden und reichte ihm ihren Blazer und ihre Handtasche. »Wo soll ich anfangen?«

Veronica war völlig erledigt und am Ende ihrer Kräfte, als die Bar an diesem Abend endlich schloss. Erschöpft band sie ihre Schürze ab, warf sie in den Korb unter der Theke und sammelte ihre Habseligkeiten ein. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, Coop einen giftigen Blick zuzuwerfen, und ihrer Meinung nach hatte der Mann eindeutig seine Berufung als Sklaventreiber verfehlt. Wortlos wandte sie sich ab und schleppte sich müde zur Tür.

»Nacht, Prinzessin.«

Sie machte eine unmissverständliche Geste über ihre Schulter, und sein gedämpftes Lachen folgte ihr zur Tür hinaus.

Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, lag direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, eine Tatsache, die sie früher oft bedauert hatte, für die sie in diesem Moment jedoch dankbar war. Sie fischte den Schlüssel aus ihrer Tasche und schloss die Haustür auf.

Als sie das Haus betrat, wäre sie beinahe über die Koffer gestolpert, die sie früher an diesem Abend im Flur abgestellt hatte. Sie war zu spät in die Stadt gekommen, um Lizzy noch abholen zu können, deshalb hatte sie nur schnell ihr Gepäck abgestellt und war dann über die Straße in die Bar gegangen. Sie hatte schlicht und einfach vorgehabt, den lästigen Pflichtbesuch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Danach hatte sie geplant, wieder zurückzukommen, ihre Koffer auszupacken und ins Bett zu fallen, um sich für den kommenden Tag richtig auszuschlafen.

So viel zu ihren ausgeklügelten Plänen. Müde stolperte Veronica ins Wohnzimmer und knipste eine Lampe an. Dann blinzelte sie mehrmals und wollte ihren Augen nicht trauen.

Sicher war es bloß, weil sie nach der Dunkelheit im Flur von der plötzlichen Helligkeit geblendet war, dass alles im Zimmer so merkwürdig blechern schimmerte. Doch als sie die Augen verengte, um noch einmal ganz genau hinzusehen, wurde nichts matter oder gedämpfter. »O Gott!«

Der Raum war über und über mit roter Velourstapete und goldschimmernden Stoffen dekoriert, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, schien bis auf den letzten Millimeter vergoldet zu sein. Noch nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Anhäufung von kitschigem Plunder an einem einzigen Ort gesehen.

»Verdammt, Crystal«, flüsterte sie vor sich hin. »Warum Lizzy nicht gleich in einem billigen Puff aufwachsen lassen? Die Einrichtung dort könnte wohl kaum geschmackloser sein als hier.« Sie starrte in ungläubigem Erstaunen auf die Tischlampe, die sie gerade eingeschaltet hatte: Sie war mit grellroten verblühenden Rosen bemalt und mit Blattgold verziert und triefte förmlich vor tropfenförmigen Kristallanhängern, die dort, wo sie sie mit ihrer Hand gestreift hatte, leise klirrend aneinander schlugen. Sie griff nach einem scharlachroten Samtkissen, auf dessen Vorderseite mit glitzerndem Goldfaden die Aufschrift Reno, Die größte Kleinstadt der Welt aufgestickt war, und befingerte die dicken goldfarbenen Quasten, während sie sich im Raum umsah und auch nur einen einzigen Einrichtungsgegenstand zu finden versuchte, der eine neutrale Farbe aufwies und nicht mit Schnörkeln, Gold, Troddeln oder Fransen verunziert war. Doch was auch immer sie erblickte, eins schien knalliger und scheußlicher zu sein als das andere, und sie war bis auf den Grund ihrer kunstverständigen Restauratorinnenseele entsetzt. Wann, zum Teufel, hatte Crystal bloß all diesen Ramsch angehäuft? Als sie, Veronica, das letzte Mal hier zu Besuch gewesen war, war das Haus noch nicht mit diesem Zeug voll gestopft gewesen.

Veronica überkam plötzlich eine wilde, unbeherrschbare Wut.

»Wenn das nicht mal wieder typisch für dich ist, Crystal! Du hattest ja nie auch nur für drei Pfennig Geschmack. Und gesunden Menschenverstand erst recht nicht, nicht ein Fünkchen! Du musstest ja partout all deine dämlichen Tricks abziehen, stimmt’s? Gott, ich kann einfach nicht glauben, dass du so eine hirnlose Schnepfe bist!« Als ihr bewusst wurde, dass sie in der Gegenwart gesprochen hatte, schüttelte sie wütend den Kopf. »Warst, meine ich. Ich kann einfach nicht glauben, was für eine blöde, rücksichtslose Gans du w-warst ...«

Trauer und Schmerz überwältigten sie wie aus heiterem Himmel, und sie brach weinend auf der mit Goldfransen verzierten Brokatcouch unter einem riesigen schwarzen Samtbild eines Stierkämpfers zusammen, das Kissen an ihren Bauch gedrückt. Sie krümmte sich vornüber und schluchzte auf ihre Knie, und ihre Tränen flossen in einem unaufhaltsamen Strom, der feuchte, sich immer weiter ausbreitende Flecken auf ihrer Khakihose hinterließ.

Ach, Gott, ach Gott. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass ihre Schwester tot war. Und nicht nur tot, was ja ohnehin schon schwer genug zu akzeptieren war, sondern auch noch ermordet. Das war etwas, was nur in Filmen und Büchern passierte – aber nicht Menschen, die man kannte.

Es war kein Geheimnis, dass Crystal nicht unbedingt die netteste Frau der Stadt gewesen war, und sie hatten oft heftig miteinander gestritten. Aber trotz alledem war Crystal schließlich ihre Schwester gewesen. Kostbare Erinnerungen hatten sich ihrem Gedächtnis eingeprägt, Erinnerungen an Augenblicke, in denen Crystal ausgesprochen lieb gewesen war oder die fürsorgliche große Schwester oder auch so ungeheuer witzig und komisch, dass Veronica sich vor lauter Lachen beinahe in die Hose gemacht hätte. Crystal hatte es wirklich nicht verdient, so zu sterben, unter den unerbittlich zudrückenden Händen eines blindwütigen Mannes ihr Leben auszuhauchen.

Ein plötzliches Geräusch draußen auf der hinteren Veranda ließ Veronica mit einem Ruck den Kopf heben. Schniefend setzte sie sich auf, wischte sich mit den Handflächen die Tränen von den Wangen und fuhr mit dem Zeigefinger unter ihren Augen entlang. Von ihrem Platz aus konnte sie geradewegs durch den Türbogen der Küche bis zur Hintertür sehen, aber dort gab es nichts zu sehen. Sie zuckte die Achseln. Wahrscheinlich war es nur eine von Mrs. Martelucchis Katzen.

Dann glitt der Schatten eines Mannes über die von einer Jalousie verhüllte Scheibe in der Hintertür, und Veronicas Herz schlug einmal hart gegen ihren Brustkorb, bevor es wie verrückt zu hämmern begann. Der Türknauf der Hintertür drehte sich, und sie fuhr mit einem Satz von der Couch hoch, wobei das Kissen von ihrem Schoß auf den Fußboden fiel. Hektisch suchend sah sie sich nach etwas um, was sie als Waffe benutzen konnte, und schnappte sich eine protzige goldfarbene Kopie einer Erte-Statuette. Mit wild klopfendem Herzen und einem dicken Kloß im Hals, der ihr fast den Atem abschnürte, schlang sie beide Hände um den Fuß der Statuette und nahm instinktiv die Haltung des Schlägers ein, die sie beim Baseballspielen auf dem Sandplatz hinter »Murphy’s Feed and Seed« gelernt hatte. Die Hintertür schwang knarrend auf.

Muskulöse Schultern und stachelig hochstehendes blondes Haar, von der Außenlampe beleuchtet, aktivierten in ihrem überlasteten Hirn eine Synapse des Wiedererkennens, einen Augenblick bevor eine tiefe, ironische Stimme sagte: »Na, durchstöbern Sie den Laden schon nach Wertgegenständen, Prinzessin?«

Sie hätte ihm trotzdem beinahe die Statuette über den Kopf gezogen, weil er ihr einen derart mörderischen Schreck eingejagt hatte. Jetzt atmete sie ein paar Mal tief durch in dem Versuch, ihr rasendes Herz wieder so weit zu beruhigen, dass es in einem normalen Rhythmus schlug, und zwang sich, ihre Hand mit der Statuette vorsichtig sinken zu lassen. Sie weigerte sich jedoch, die schwere Figur ganz aus der Hand zu geben. »Was wollen Sie, Blackstock? Und was fällt Ihnen ein, einfach so in Crystals Haus hereinzutanzen, als gehörte der Laden Ihnen?«

Seine Stimme war voller Belustigung, als er erwiderte: »In gewisser Weise gehört er mir tatsächlich – zumindest ein Teil davon. Ich wohne nämlich im oberen Stockwerk.«

Veronica schnappte schockiert nach Luft. »Wie bitte?«

Er schloss die Tür und marschierte durch die Küche, um im Türbogen stehen zu bleiben. Die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt, lehnte er sich mit einer Schulter gegen den Türrahmen und schenkte Veronica ein schiefes kleines Lächeln, das unerklärlicherweise einen Schauer der Erregung über ihr Rückgrat rieseln ließ. »Ich sagte, ich wohne hier«, wiederholte er. »Ms. Travits hat mir die Wohnung im Dachgeschoss vermietet, als sie mich eingestellt hat, um die Bar zu führen.«

Marissa hatte das getan? Du lieber Himmel, Mare, was hast du dir bloß dabei gedacht?

Dann bekam Veronica plötzlich Schuldgefühle. Sie schuldete Marissa mehr, als sie jemals wieder gutmachen konnte, weil sie die Dinge am Laufen gehalten hatte, als niemand wusste, wo Veronica war oder wie man sie erreichen konnte, um sie von Crystals Tod zu benachrichtigen. Marissa hatte unendlich viel mehr für sie getan, als man von einer alten Freundin erwarten konnte, indem sie sich um Angelegenheiten gekümmert hatte, die zu erledigen man ihr niemals hätte zumuten sollen.

Aber diesem großkotzigen Schrank von einem Kerl eine Wohnung in dem Haus zu vermieten, in dem Veronica und Lizzy vorläufig würden wohnen müssen, war keiner von Marissas schlaueren Schachzügen gewesen, und Veronica hatte nicht die Absicht, sich damit zu abzufinden. Sie machte einen Schritt auf Coop zu, legte den Kopf zurück, um ihm in die Augen zu sehen, und sagte energisch: »Ich schlage vor, Sie schlafen sich jetzt erst einmal richtig aus, weil Sie nämlich gleich morgen losziehen und sich auf die Suche nach einer anderen Wohnung machen werden.«

Er besaß die Dreistigkeit, laut aufzulachen. »Vergessen Sie’s, Zuckerschätzchen – ich habe einen Mietvertrag unterschrieben. Wenn Sie ein Problem mit dem Arrangement haben, dann ziehen Sie doch aus.«

»Machen Sie sich nicht lächerlich! Lizzy hat schon genug durchmachen müssen – sie braucht jetzt dringend Kontinuität und sollte wenigstens weiterhin in ihrem alten Zuhause bleiben dürfen.«

Ein seltsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und seine Stimme klang verächtlich, als er sagte: »Soll ich Ihnen etwa abkaufen, dass Sie ernsthaft um das Wohl Ihrer Nichte besorgt sind?«

Er hätte ihr ebenso gut eine Ohrfeige verpassen können, und Veronica riss mit einem Ruck den Kopf zurück. »Wie war das bitte? Was haben Sie da gerade gesagt?«

»Nichts.« Er zuckte die Achseln, seine Miene völlig ausdruckslos. »Vergessen Sie’s.«

»Den Teufel werde ich tun! Was sollte das heißen?«

»Das sollte heißen, dass Sie zumindest in einem Teil Ihrer kleinen Ansprache Recht hatten, Süße – ich brauche jetzt tatsächlich erst mal eine ordentliche Mütze voll Schlaf.«

Kochend vor Wut und Frustration beobachtete Veronica, wie er sich lässig vom Türrahmen abstieß, auf dem Absatz kehrtmachte und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum oberen Stockwerk hinaufeilte.

Nicht schon wieder Liebe

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