Читать книгу Mindful Parenting - Susan Bögels - Страница 7

Оглавление

KAPITEL 1

Mindful Parenting – eine Einführung

Ich könnte jedes Baby als einen kleinen Buddha oder als einen Zen-Meister ansehen, als persönlichen Achtsamkeitslehrer.

JON KABAT-ZINN ÜBER DAS ELTERNWERDEN (1994/DT. 2007, S. 204)

1.1 Warum Elternsein mit Stress verbunden sein kann

Kinder großzuziehen ist für viele Mütter und Väter eine der kraftraubendsten und verantwortungsvollsten Aufgaben im Leben, und doch gehen Eltern dieser Aufgabe mit Liebe, Freude, Stolz und einem Gefühl der Erfüllung nach. Kinder oder Enkel auf ihrem Weg zum Erwachsensein zu begleiten, ist vielleicht tatsächlich der erfüllendste „Job“ überhaupt, und ein guter Vater oder eine gute Mutter zu sein, unser höchstes Lebensziel. Auf die Frage, was wir bei unserer eigenen Beerdigung am liebsten über uns hören würden, kommt den meisten von uns, die wir das Glück haben, Eltern oder Großeltern zu sein, wohl als Erstes der Satz in den Sinn: „Sie/er ist eine gute Mutter / ein guter Vater gewesen.“ Bereits der Wunsch, es so gut zu machen – die bestmögliche Mutter oder der bestmögliche Vater zu sein –, kann Stress erzeugen. Hinzu kommen viele weitere Herausforderungen und Hindernisse auf unserem Weg als Eltern. Das beginnt mit dem Übergang ins Erwachsenenleben, wenn wir die Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen, dann Kinder zur Welt bringen und nun auch für ihr Leben verantwortlich sind – all dies verlangt von uns einen völlig neuen Umgang mit unserer Zeit, unserer Aufmerksamkeit, unserer Energie und unseren Ressourcen (z. B. Bardacke 2012). Nie wieder wird unser Leben so sein wie vor der Geburt eines Kindes. Und während wir uns um unsere Kinder kümmern, unser Familienleben organisieren und all das mit unseren beruflichen Interessen und Verpflichtungen zu vereinbaren versuchen, vergessen wir leicht, für uns selbst zu sorgen. Wenn die inneren Speicher sich dann mehr und mehr leeren, kann das zu Reizbarkeit, depressiven Verstimmungen, Müdigkeit, körperlichen Beschwerden und schließlich zu psychischen oder physischen Erkrankungen führen, die auch das Elternsein beeinträchtigen.

Verhaltensschwierigkeiten oder psychopathologische Symptome bei Kindern wie bei Eltern stellen besondere Herausforderungen dar, die das Elternsein belasten. Für die von solchen Problemen betroffenen Familien wurde das in diesem Buch beschriebene Mindful-Parenting-Programm entwickelt. Ein Kind, das z. B. mit starkem Stress oder Widerstand auf alles Neue reagiert, sich nicht selbst beschäftigen oder seinen Schulalltag nicht bewältigen kann, wegen seines aggressiven Verhaltens nicht mit Geschwistern allein bleiben darf oder unter Schlafstörungen leidet, kann den Erziehungsalltag belasten. Das Gleiche gilt für psychische Erkrankungen eines Elternteils. So kann etwa ein Vater, der an Depressionen leidet, seine elterlichen Aufgaben als Überforderung erleben und sich für einen schlechten Vater halten, eine Mutter mit einer Angststörung ist möglicherweise übermäßig besorgt und geht über-fürsorglich mit ihrem Kind um, ein an einer Zwangsstörung erkrankter Vater sieht sich vielleicht außerstande, elterliche Aufgaben abzugeben oder zu teilen, und eine Mutter, deren exekutive Funktionen gestört sind, könnte zu impulsiven und widersprüchlichen Reaktionen auf ihr Kind neigen.

Doch auch wenn weder Kind noch Eltern unter psychischen Störungen leiden, sind Eltern immer wieder mit Stressoren konfrontiert. Kinder entwickeln und verändern sich ständig, was Eltern vor die Herausforderung stellt, sich immer wieder neu an diese Veränderungen anzupassen: Ein Krabbelkind lernt laufen, ein Jugendlicher hält sich nicht mehr an die Familienregeln, eine Volljährige zieht aus. Selbst wenn Kinder schon lange erwachsen sind, fühlen sich Eltern weiter für deren Sicherheit und Wohlergehen verantwortlich und machen sich oft Sorgen, wenn ihre Kinder neue Herausforderungen selbstständig meistern müssen.

Stress kann auch aus unerwarteten familiären Ereignissen wie einer Trennung oder Scheidung resultieren. Die Mehrzahl der Kinder lebt heute mit Stiefeltern und oft auch mit Stiefgeschwistern zusammen, was häufig zu Abgrenzungs- und Loyalitätskonflikten führt. Stiefeltern bzw. -kinder können eine Quelle der Unterstützung und der Freude sein, aber auch für Stress sorgen. Für Alleinerziehende wiederum wird der Mangel an Unterstützung und Mitverantwortung des anderen Elternteiles sehr oft zur Belastung.

Partnerschaftsprobleme und Schwierigkeiten, bei der Erziehung miteinander zu kooperieren, sind weitere mögliche Stressquellen für Eltern. Während wir uns in unseren individualistischen westlichen Gesellschaften immer weniger auf soziale Gemeinschaften verlassen, ist die Partnerschaft als Quelle von Verbundenheit und Unterstützung immer wichtiger geworden – entsprechend groß sind die Erwartungen an partnerschaftliche Beziehungen (Johnson 2008). Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass der durch Probleme in der Partnerschaft verursachte Stress das Elternsein nachweislich negativ beeinflusst. Bei Vätern ist dieser Effekt sogar noch größer als bei Müttern (Bögels et al. 2010).

1.2 Wie Mindful Parenting helfen kann

Stress kann zum Zusammenbruch elterlicher Kompetenzen führen (z. B. Belsky 1984; Webster-Stratton 1990a). Zwar bereiten sich viele Mütter und Väter heute mit Hilfe von Elternkursen, -ratgebern und TV-Sendungen auf ihre Aufgaben vor, doch wenn sie unter Stress oder unter dem Einfluss starker Emotionen stehen, neigen Eltern aus allen sozioökonomischen Schichten dazu, ihre Kinder anzuschreien, ihnen zu drohen oder sie sogar zu schlagen. Elternkurse und das Wissen, wie ein guter Vater oder eine gute Mutter mit Schwierigkeiten umgehen sollte, können sogar bewirken, dass Eltern mit sich selbst noch strenger ins Gericht gehen, wenn sie die Nerven verloren haben.

Nicht nur wird die Anwendung der in Kursen erworbenen Fähigkeiten unter Stress häufig vergessen, auch psychische Erkrankungen der Eltern können verhindern, dass eine Familie von solchen Kursen profitiert. Um einige Beispiele zu geben: Parent Management Training ist ein wirksames Trainingsprogramm für Eltern von Kindern mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und vermindert die Verhaltensprobleme der Kinder. Doch Kinder von Eltern, die selbst unter ADHS leiden, profitieren deutlich weniger davon (z. B. Sonuga-Barke et al. 2002). Kinder aus Familien, in denen sowohl das Kind als auch Mutter oder Vater Symptome wie unaufmerksames oder unkontrolliert-impulsives Verhalten zeigen, haben sogar das höchste Risiko, eine psychische Störung wie ADHS zu entwickeln (Sonuga-Barke 2010). Ebenso hat sich gezeigt, dass Kinder depressiver Mütter weniger von Elterntrainings profitieren (Forehand et al. 1984; Owens et al. 2003; Reyno & McGrath 2006; Webster-Stratton 1990b). Auch bei Eltern mit Partnerschaftsproblemen zeigte sich in einigen Untersuchungen eine geringere Wirksamkeit von Elterntrainings (Reisinger et al. 1976; Webster-Stratton 1985), wenngleich andere Studien keinen Zusammenhang zwischen Problemen/ Unzufriedenheit in der Partnerschaft und der Wirksamkeit von Elterntrainings feststellen konnten (Brody & Forehand 1985; Firestone & Witt 1982). Aus diesen Gründen besteht Bedarf an einem Elterntraining, das dem Stress, den die Eltern selbst erleben, ihrem Leid und ihren psychischen Symptomen einen hohen Stellenwert einräumt.

Mindful Parenting eröffnet einen anderen Zugang für Eltern, die unter starkem Stress stehen oder selbst unter einer psychischen Störung leiden. In diesem Programm stehen das Stresserleben der Eltern, ihr Leiden und gegebenenfalls ihre eigene psychische Symptomatik im Mittelpunkt und nicht das Problemverhalten des Kindes. Natürlich kann das Problemverhalten des Kindes durchaus die Hauptstressquelle in der betroffenen Familie sein, doch unser „Arbeitsmaterial“ ist der aus diesem Verhalten resultierende Stress der Mutter und/oder des Vaters. Ein anderer Umgang mit Stress ist das Herzstück von MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction), dem von Jon Kabat-Zinn entwickelten Programm zur Stressreduktion.

Achtsamkeitsmeditation ist eine Meditationsform, die auf der buddhistischen Tradition basiert. Achtsamkeit zu praktizieren bedeutet, im gegenwärtigen Moment präsent zu sein, sich auf die Realität zu fokussieren und sie so zu akzeptieren, wie sie ist. Jon Kabat-Zinn entwickelte das MBSR-Programm, um chronisch kranken Menschen den Umgang mit ihrer Erkrankung und Gesunden den Umgang mit dem Stress, den das Leben mit sich bringt, zu erleichtern. Auf der Grundlage des MBSR-Programms entwickelten Zindel Segal, Mark Williams und John Teasdale die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness-based Cognitive Therapy; MBCT), die für Menschen gedacht ist, die an Depression erkrankt sind. In den letzten zwei Jahrzehnten sind achtsamkeitsbasierte Interventionen bei einer Vielzahl von physischen, stressbedingten und psychischen Problemen erfolgreich eingesetzt worden. Die Anwendung der Achtsamkeitspraxis auf den Bereich Elternschaft, Kindeserziehung und Familienleben (Mindful Parenting) gehört zu den neueren Entwicklungen.

In diesem Buch geht es um Mindful Parenting im Kontext der psychologischen und psychotherapeutischen Beratung und Begleitung von Eltern, die Hilfe bei der Erziehung ihrer Kinder suchen, oder denen geraten wurde, solche Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil ihr Kind oder sie selbst unter psychischen Problemen leiden. Im Folgenden schildern wir die Entwicklung des Mindful-Parenting-Programms von seinen mehr als zehn Jahre zurückliegenden Anfängen bis heute.

1.3 Die Entstehung des Mindful-Parenting-Programms

1.3.1 Die ersten Schritte: Mindful Parenting für die Eltern jugendlicher Teilnehmer eines Achtsamkeitskurses – Susans Geschichte

Als Aufmerksamkeitsforscherin hatte ich Interesse an einem Aufgabenkonzentrationstraining für Menschen entwickelt, die an sozialer Phobie, insbesondere Errötungsangst, leiden. Wissenschaftliche Untersuchungen hatten gezeigt, dass an einer sozialen Phobie Erkrankte in sozialen Situationen zu erhöhter Selbstaufmerksamkeit neigen und entsprechend wenig Aufmerksamkeit für ihre Umgebung und andere Menschen aufbringen (Bögels & Mansell 2006). Dies hat, wie sich zeigte, zahlreiche negative Folgen für ihr Sozialverhalten und ihre Wirkung auf andere und führt zu mehr negativen Emotionen und Gedanken und einer Steigerung der körperlichen Erregung. Das Trainingsprogramm basierte auf der Vermutung, dass die soziale Ängstlichkeit abnimmt, wenn Menschen lernen, sich in Momenten sozialer Angst, in denen ihre Aufmerksamkeit sich normalerweise der eigenen Person zuwendet, auf äußere Dinge, auf eine zu lösende Aufgabe zu konzentrieren. Als wir 1997 unseren ersten Beitrag zum Aufgabenkonzentrationstraining publizierten (Bögels et al. 1997; spätere Veröffentlichungen: Bögels 2006; Mulkens et al. 2001), schrieb mir Isaac Marks, ein bekannter Angstforscher: „Ist dies nicht dasselbe wie Achtsamkeit?“ Nein, es war nicht dasselbe, doch wir beobachteten die positiven Wirkungen, die Übungen wie das Gehen im Wald unter Einbeziehung aller Sinne hatten, indem sie die Aufmerksamkeit der Übenden aus ihrem (mit Angstempfindungen beschäftigten) Kopf und in die Erfahrung des Lebens von Moment zu Moment holten und ihnen halfen, in Gegenwart anderer Menschen präsent zu sein, statt absorbiert von sich selbst und ihren Ängsten – und das ist nichts anderes als Achtsamkeit. Der Same der Achtsamkeit war also gesät, wenigstens in meinem Forscherinnengehirn.

Im Jahr 2000 lud ich Mark Williams ein, den Teams an unserem Mental -Health-Care-Zentrum für Erwachsene und Kinder in Maastricht eine Einführung in das MBCT-Programm zu geben. Wir waren sehr beeindruckt von diesem Ansatz zum Umgang mit psychischen Erkrankungen, der so anders war als der, mit dem wir als ausgebildete kognitive Verhaltenstherapeuten üblicherweise arbeiteten. Wir planten sofort eine randomisierte klinische Studie mit Erwachsenen, die unter sozialer Angst litten, um den achtsamkeitsbasierten Ansatz mit kognitiver Verhaltenstherapie zu vergleichen. Doch dann fragten meine von Mark Williams Training inspirierten Kolleginnen und Kollegen vom Mental-Health-Care-Zentrum für Kinder mich, ob ich nicht einen Achtsamkeitskurs für Jugendliche mit Angststörungen anbieten könne. Da für Jugendliche mit solchen Störungen hoch wirksame kognitiv-behaviorale Therapieprogramme zur Verfügung standen (z. B. Bodden et al. 2008), lag der Gedanke, in diesem Setting mit einem Achtsamkeitsprogramm zu beginnen, nicht gerade nahe. Doch was war mit Jugendlichen, die an externalisierenden Störungen litten, also an Problemen der Verhaltenskontrolle, an Unaufmerksamkeit und Impulsivität, die sich hauptsächlich im Verhalten und nicht in Gedanken und Gefühlen äußern? Bei diesen Jugendlichen hätte man wohl eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), eine Autismus-Spektrum-Störung, oppositionelles Trotzverhalten oder sonstige Störungen des Sozialverhaltens diagnostiziert. Für Jugendliche mit solchen Störungen, die im klinischen Setting häufig komorbid sind, gab es nur wenige evidenzbasierte Therapiekonzepte.

Obwohl das Achtsamkeitstraining ursprünglich nicht für diese Störungsformen entwickelt worden war, gab es Grund zu der Vermutung, dass Achtsamkeitsübungen auch hier hilfreich sein könnten. Viele Kinder und Jugendliche mit externalisierenden Störungen haben Aufmerksamkeitsprobleme. So macht es ihnen Mühe, ihre Aufmerksamkeit über längere Zeit aufrecht zu erhalten, sie gleichzeitig auf verschiedene Aspekte zu richten und ihre erste Reaktion zu unterdrücken, wenn dies wünschenswert ist. Kinder mit externalisierenden Störungen haben außerdem bestimmte Verhaltensweisen gemeinsam, etwa eine starke Impulsivität, Hyperaktivität oder Unruhe, die möglicherweise aus den selben Informationsverarbeitungsproblemen resultieren. Durch die Achtsamkeitspraxis werden aufmerksamkeitsbezogene Fähigkeiten wie das Fokussieren und das Ausweiten der Aufmerksamkeit trainiert. Ebenso lernen Übende zu registrieren, wenn ihr Geist umherzuwandern beginnt, und Unruhe und Handlungsimpulse wahrzunehmen, ohne ihnen nachzugeben. Deshalb bot das Achtsamkeitstraining vielleicht eine Möglichkeit, direkt an den Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts- oder Impulskontrollproblemen dieser Jugendlichen anzusetzen.

Während ich ein entsprechendes Programm entwickelte, kam mir der Gedanke, dass zumindest jeweils ein Elternteil an einem parallelen Achtsamkeitskurs für Eltern teilnehmen sollte. Denn da die Jugendlichen noch in ihren Familien lebten, müssten die Achtsamkeitsfähigkeiten, die sie erlernen würden, um mit ihren Aufmerksamkeits-, Verhaltens- und sozialen Problemen besser umzugehen, in einen familiären Kontext eingebettet sein, in dem Achtsamkeit einen Ort gefunden hat – etwa in der Art und Weise, in der die Familie zu Abend isst und Zeit miteinander verbringt, in den Familienbeziehungen und im Umgang mit familiärem Stress und Konflikten. Hinzu kam, dass einige der Eltern ganz ähnlich gelagerte Probleme hatten wie ihre Kinder, so dass Achtsamkeitsübungen ihnen möglicherweise helfen würden, im Umgang mit ihren Kindern weniger impulsiv und aufmerksamer zu reagieren. Außerdem ist die Erziehung eines Kindes mit einer oder mehreren der genannten Störungen sehr belastend. Viele Eltern hatten stressreiche Jahre hinter sich, in denen sie wegen schulischer Schwierigkeiten und Fehlverhalten ihres Kindes häufig in die Schule zitiert worden waren oder Anrufe von anderen Eltern oder sogar von der Polizei bekommen hatten. Die Erwartungen und Hoffnungen, die sie in ihr Kind gesetzt hatten, etwa im Hinblick auf seine Schulleistungen, seine Beliebtheit, die „richtigen“ Freunde und Freizeitaktivitäten, schienen sich nicht zu erfüllen. Vielleicht entsprach auch die Beziehung, die sie zu ihrem Kind aufgebaut hatten, nicht ihren Erwartungen von Nähe (weil ihr Sohn oder ihre Tochter den Kontakt mied), Gegenseitigkeit (weil ihr Kind Schwierigkeiten hatte, die Welt aus der Perspektive der Eltern zu sehen) oder Ehrlichkeit (weil ihr Kind sie gewohnheitsmäßig belog oder sogar bestahl). Möglicherweise konnten manche Eltern nachts nicht schlafen, weil ihr Sohn oder ihre Tochter spät oder gar nicht nach Hause kam und weil sie sich wegen seines Alkohol- oder Drogenkonsums und der Gewalt auf den nächtlichen Straßen Sorgen machten. Vielleicht konnte Achtsamkeit diesen Eltern helfen, mit derartigen Stressbelastungen umzugehen, und Akzeptanz für die oft gravierenden und in Anbetracht ihrer langen Geschichte und vieler erfolgloser Behandlungsversuche möglicherweise sehr hartnäckigen Schwierigkeiten ihrer jugendlichen Söhne und Töchter zu entwickeln. Der Grundgedanke dahinter war: Wenn wir an dem Problem selbst nichts ändern können, können wir doch zumindest an unserer Beziehung zu dem Problem arbeiten, indem wir für uns selbst sorgen und dem Problem gegenüber eine offene, sanfte, nichturteilende Haltung entwickeln.

Wir tauften das parallel stattfindende Achtsamkeitstraining für Eltern „Mindful Parenting“ – Achtsames Elternsein. Die Bezeichnung „Mindful Parenting“ geht auf den Titel des 1997 erstmals erschienenen Buchs Everyday Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting von Myla und Jon Kabat-Zinn zurück (dt. 1998: Mit Kindern wachsen. Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie), das beschreibt, wie wir ein tieferes Verständnis für unsere Kinder und für uns selbst entwickeln können, indem wir bewusst nichturteilende Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt in unseren Erziehungsalltag und unsere Familien bringen. Jon und Myla Kabat-Zinn zeigen, wie heilend und transformierend achtsames Elternsein sowohl für Kinder als auch für Mütter und Väter sein kann.

Im Jahr 2000, als der Elternkurs begann, hatten die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch nie etwas von Achtsamkeitsmeditation gehört. Manche waren neugierig und motiviert, andere kamen nur, weil ihr Kind sonst nicht am Training hätte teilnehmen dürfen. Viele Eltern waren beeindruckt von der Wirkung, die die Übungen auf ihr Elternsein, ihre Familie und ihr persönliches Leben hatten. So konnte ihr Tag z. B. anders verlaufen, wenn sie sich einfach nur die Erlaubnis gaben, zu spüren, wie müde sie waren. Manche Eltern äußerten hinterher, sie wünschten, sie hätten einen Mindful-Parenting-Kurs gemacht, als ihr Kind noch klein war, statt zu einem Zeitpunkt, an dem sie mit dem manchmal stark oppositionellen Verhalten eines Heranwachsenden in der sehr entscheidenden Phase kurz vor dem Auszug konfrontiert waren.

Annette Heffels, eine Ehe- und Familientherapeutin, kam als teilnehmende Beobachterin in einen meiner ersten Mindful-Parenting-Kurse, um für eine bekannte Zeitschrift, die sich vorwiegend an Mütter richtete, über ihre Erfahrungen zu schreiben. Sie erwähnte die starke Gruppenbindung und die Atmosphäre der Sicherheit, die sie in dem achtwöchigen Kurs schon sehr bald gespürt habe. Sie stellte fest, dass die Eltern in der Gruppe nichts falsch machen konnten. Auch wenn sie zu spät kamen oder zu Hause nicht geübt hatten, waren sie willkommen und akzeptiert, einfach weil sie da waren. Ihre Beobachtungen erinnerten mich an etwas, das bei Jon Kabat-Zinn „Achtsamkeit des Herzens“ und bei Jeffrey Young „Reparenting“ („Neu“- oder „Wiederbeelterung“) heißt: Das Gefühl, versorgt und genährt zu werden (von der Gruppe, dem Lehrer oder der Lehrerin, der Meditationspraxis), und zu lernen, besser für sich selbst zu sorgen, kann für Eltern, die die schwere Aufgabe haben, unter manchmal sehr schwierigen Umständen für ihre Kinder zu sorgen, etwas ganz Wesentliches sein.

Diese ersten Achtsamkeitsgruppen für Heranwachsende mit externalisierenden Störungen und die parallel stattfindenden Mindful-Parenting-Kurse für die Eltern bewirkten, dass die Heranwachsenden in Bezug auf ihre externalisierenden Störungen und Aufmerksamkeitsprobleme wichtige Fortschritte machten (Bögels et al. 2008). Doch es blieb unklar, ob diese Effekte dem Achtsamkeitstraining für die Jugendlichen selbst oder aber dem Mindful-Parenting-Kurs für die Eltern oder beiden Interventionen zuzuschreiben waren.

1.3.2 Mindful Parenting als eigenständiger Kurs

Als ich 2008 in Amsterdam zu arbeiten begann, bekam ich die Chance, mit Joke Hellemanns zusammenzuarbeiten, einer klinischen Psychologin und erfahrenen Achtsamkeitslehrerin, die von Jon Kabat-Zinns Team am Center for Mindfulness der Universitätsklinik in Massachusetts ausgebildet worden war. Wir profitierten sehr von Jokes Wissen, ihrer tiefen Beziehung zu und ihrer großen Erfahrung mit MBSR und MBCT und ihren klinischen Anwendungen bei Erwachsenen, die unter Stress (MBSR) oder Depressionen (MBCT) leiden. Sie konnte daher wichtige Beiträge zum Curriculum von Mindful Parenting liefern, die die wesentlichen Elemente dieser beiden Ansätze aufgreifen, insbesondere (1) die zentrale, systematische, formale und informelle Achtsamkeitspraxis und (2) die Gruppengespräche über die Erfahrungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dieser Praxis.

Joke und ich starteten unseren ersten Mindful-Parenting-Kurs ohne ein paralleles Achtsamkeitstraining für die Kinder der Teilnehmer. Das hatte den Vorteil, dass wir auf diese Weise Eltern von Kindern aller Altersstufen und mit allen Arten von psychischen Störungen aufnehmen konnten, außerdem Eltern, deren Kinder keine besonderen Schwierigkeiten hatten, die jedoch selbst unter psychischen Problemen litten, die ihre elterlichen Fähigkeiten beeinträchtigten. Die Interessentinnen und Interessenten, die sich meldeten, kamen mit einer großen Bandbreite von Fragen und Problemen in Bezug auf ihre Elternrolle. Bei einigen hingen die Schwierigkeiten mit ihrer Partnerschaft zusammen, etwa weil die Kinder nach einer Scheidung den neuen Partner oder die neue Partnerin nicht akzeptierten, bei anderen hatten sie psychische Ursachen, z. B. eine postnatale Depression, die zu Schuldgefühlen gegenüber dem Kind geführt hatte. Bei manchen wurzelten die Probleme in ihrer eigenen Biografie, etwa weil ein traumatisches Kindheitserlebnis wieder reaktiviert wurde, als sie selbst Eltern wurden. Wieder andere hatten Schwierigkeiten, familiäre und berufliche Aufgaben zu vereinbaren, und mussten sich ständig krankmelden, seit sie Kinder hatten. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer schließlich waren mit psychischen Auffälligkeiten ihrer Kinder – wie Trennungsangst, Autismus-Spektrum-Störungen oder ADHS – und den daraus resultierenden Erziehungsproblemen konfrontiert.

Die einzelnen Sitzungen dauerten mit drei statt anderthalb Stunden doppelt so lange wie im ersten Mindful-Parenting-Kurs, der parallel zum Achtsamkeitskurs für Jugendliche stattgefunden hatte (da sich Anderthalb-Stunden-Sitzungen für Kinder und Jugendliche als ideal erwiesen hatten, hatten wir dies für den Elternkurs übernommen, teils aus praktischen Erwägungen, damit die Eltern ihre Kinder gleich mitbringen konnten, teils, um das Programm für jene Eltern, die nur teilnahmen, weil wir das zur Bedingung für die Teilnahme ihrer Kinder gemacht hatten, akzeptabler zu machen). Etwa zwei Drittel der Inhalte des neuen Kurses basierten auf den achtwöchigen MBSR- und MBCT-Programmen, rund ein Drittel war Mindful Parenting und stützte sich auf unsere Aufzeichnungen und Erfahrungen aus den früheren, kürzeren Mindful-Parenting-Kursen, die parallel zum Programm für Kinder und Jugendliche stattgefunden hatten, sowie auf neu entwickelte Übungen, für die wir uns von Dan Siegels und Mary Hartzells Buch Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen (2003; dt. 22009) inspirieren ließen. Die Resultate berührten und beeindruckten uns. Die teilnehmenden Eltern schilderten tiefgreifende Veränderungsprozesse, sowohl in ihrem eigenen Leben als auch in den Beziehungen zu ihren Kindern und Partnern. In Fragebogenerhebungen berichteten sie über erhebliche Verbesserungen in Bezug auf ihre psychischen Symptome und die ihrer Kinder, wie auch in Bezug auf die elterliche und die familiäre Funktionalität (Bögels et al. 2010).

Joke und ich leiteten noch viele weitere Mindful-Parenting-Gruppen mit demselben Programm bei UvA minds, dem psychotherapeutischen Zentrum für Eltern und Kinder der Universität Amsterdam. Viele Kinder- und Familientherapeuten und Achtsamkeitslehrer begleiteten diesen Prozess als teilnehmende Beobachter und unterstützten uns durch ihr Feedback über ihre Beobachtungen und ihre Erfahrungen mit den Wirkungen von Mindful Parenting in ihrem eigenen Leben, in dem sie familiäre und berufliche Verpflichtungen miteinander vereinbaren mussten. Im Jahr 2010 leiteten Kathleen und ich gemeinsam einen Mindful-Parenting-Kurs für englischsprachige Eltern. Kathleens Hintergrund als Kinder- und Familientherapeutin und ausgebildete Achtsamkeitstrainerin, ihre Forschung zu familiären Faktoren bei der Entstehung kindlicher Depressionen und ihr Interesse an Evolutionspsychologie und auf Mitgefühl basierenden therapeutischen Ansätzen führten dazu, dass wir das Programm zu modifizieren begannen, um sowohl unsere Überlegungen zu Veränderungsmechanismen als auch wichtige Theorien und achtsamkeitsbasierte Interventionen zur Prävention einer transgenerationalen Weitergabe psychischer Störungen und negativen Elternverhaltens in Mindful Parenting zu integrieren (z. B. Bögels & Brechman-Toussaint 2006; Bögels et al. 2010; Restifo & Bögels 2009).

1.3.3 Mitgefühl, Liebende Güte und Mindful Parenting – Kathleens Geschichte

Während meines eigenen Achtsamkeitstrainings hatte die Liebende-Güte-Meditation, der ich zuerst in Sara Napthalis Buch Der kleine buddhistische Erziehungsberater (2003; dt. 2010) begegnete, einen prägenden Einfluss auf mich. Den von Napthali geschilderten ständigen Kampf, eine „gute“ Mutter zu sein, die sich an einem unausgereiften, aber absoluten Maßstab misst und zwangsläufig scheitert, kannte ich auch. Als Psychologin hatte ich viele Jahre lang mit Menschen gearbeitet, die mit Selbstwertproblemen, Perfektionismus und Selbsthass kämpften und Selbstmordgedanken hegten oder bereits Suizidversuche unternommen hatten. Auch ich hatte mit meinem Perfektionismus und hohen Maßstäben gekämpft und fühlte mich manchmal entsprechend unzulänglich bei meiner Arbeit und in meiner Rolle als Mutter. Hier gab es eine Praxis, in deren Zentrum Liebe und Freundlichkeit standen, und die davon ausging, dass jede und jeder Güte, Liebe und Mitgefühl kultivieren kann. In meiner Ausbildung zur Psychologin hatte ich gelernt, mich auf die

Defizite der Menschen zu konzentrieren statt auf die jedem menschlichen Wesen innewohnenden Möglichkeiten. Die Liebende-Güte-Meditation eröffnet einen anderen Weg: Indem wir mit Sätzen der Freundlichkeit, des Mitgefühls und der Liebe uns und anderen Gutes wünschen, können wir unsere angeborene Fähigkeit stärken, uns selbst und anderen diese positiven Gefühle und Haltungen entgegenzubringen.

Kurze Zeit später machte ich in einem von Martine und Stephen Batchelor geleiteten Schweigeretreat meine erste praktische Erfahrung mit der Liebende-Güte-Meditation. Die schlichten, poetischen Worte, mit denen Martine Batchelor uns durch die Meditation führte, berührten mich tief und wurden zur Grundlage meiner eigenen Liebende-Güte-Praxis. Als ich ein Jahr später zusammen mit Susan zum ersten Mal eine Mindful-Parenting-Gruppe leitete, waren wir überrascht, wie ausgelaugt die Mütter wirkten und wie kritisch sie sich selbst sahen. Trotz ihrer offenkundigen Stärken, ob im Beruf oder als Eltern, schienen sie im Hinblick auf ihre Kinder alle mit Gefühlen der Schuld, des Versagens, des Nichtgenügens zu kämpfen. Dabei war offensichtlich, dass sie hingebungsvolle Mütter waren, die ihre Kinder liebten und ihr Bestes zu geben versuchten. Ich fragte mich, ob die Liebende-Güte-Meditation sie wohl genauso ansprechen würde wie mich, vor allem, weil Buddha als Bild für die Haltung der Liebenden Güte die Liebe einer Mutter zu ihrem einzigen Kind gewählt hat. Also führten wir die Liebende-Güte-Praxis ein, und viele Eltern reagierten positiv darauf.

Bald darauf lernte ich Kristin Neffs Arbeit zum Thema Selbstmitgefühl kennen. Kristin Neff ist nicht nur Entwicklungspsychologin, sondern praktiziert auch seit vielen Jahren Achtsamkeitsmeditation. Sie hat die Praxis des Selbstmitgefühls in psychologische Begriffe übersetzt und auch dazu geforscht. Ihre Idee, die Praxis des Selbstmitgefühls für den Umgang mit Selbstwertproblemen zu nutzen, erschien uns wie eine Antwort auf einen Mangel, den wir auch an den Eltern in unserer Gruppe wahrnahmen: den Mangel an Mitgefühl für ihre eigenen Schwierigkeiten als Eltern (Neff 2011). Zur selben Zeit wurde ich auf Paul Gilberts auf Mitgefühl basierenden Therapieansatz aufmerksam (Gilbert 2009). Seine Schilderung von Patienten, die unter Gefühlen der Scham und Selbstverurteilung litten, intellektuell durchaus verstanden, dass diese Gedanken keine Tatsachen waren, aber sich selbst keine liebevollen und freundlichen Gefühle entgegenzubringen vermochten, passte zu dem, was wir in unseren Gruppen sahen. Gilberts Überzeugung, dass sich eine mitfühlende Haltung durch bestimmte Übungen und innere Bilder kultivieren lässt, und dass diese Übungen neuroendokrine Prozesse aktivieren können, die Gefühle der Zufriedenheit und Zugehörigkeit fördern, elektrisierte uns. Ich las auch Christopher Germers Buch über Selbstliebe und Achtsamkeit, und Susan und ich besuchten einen von ihm geleiteten Workshop, um einige der Techniken zu erlernen, die er gemeinsam mit Kristin Neff entwickelt hatte, und zu überlegen, ob wir sie in unseren Mindful-Parenting-Kurs integrieren konnten (Germer 2009; Neff 2011).

Wir begannen uns zu fragen, wie wir diese Übungen von Anfang an so in den Mindful-Parenting-Kurs einbauen konnten, dass die Selbstmitgefühlspraxis zu einem roten Faden werden würde, denn unserer Einschätzung nach würden die teilnehmenden Eltern sie über längere Zeit üben müssen. Außerdem bemühten wir uns um ein genaueres Verständnis für die Beziehung zwischen Mitgefühl und Achtsamkeit. Durch Gespräche mit Achtsamkeitslehrern und Psychologen – Nirbay Singh, Joke Hellemans, Mark Williams, Christopher Germer, Christina Feldman, John Teasdale, Myla Kabat-Zinn, Jon Kabat-Zinn, Rebecca Crane und Franca Warmenhoven – begannen wir Liebende Güte schließlich als die jeder Achtsamkeitspraxis zugrunde liegende und nicht von ihr zu trennende Haltung zu begreifen. Zugleich kamen wir zu der Überzeugung, dass die Vermittlung spezifischer Übungen zur Kultivierung von Selbstmitgefühl und Liebender Güte Eltern helfen kann, diese Haltung zu entwickeln.

1.3.4 Schemamodi und Mindful Parenting

In unseren Mindful-Parenting-Gruppen und in unserem eigenen Alltag als Eltern stellten wir fest, dass sich stressbelastete Eltern-Kind-Situationen manchmal blitzartig zu hoch emotionalen Interaktionen entwickelten. Charakteristisch für solche Interaktionen waren schnelle, automatische und oft wütende Reaktionen und eine rasche Eskalation des Konflikts. Viele Eltern beschreiben diese Interaktionen mit Worten wie „durchdrehen“, „explodieren“ oder „ausrasten“ und empfinden anschließend Reue und Scham, weil sie die Kontrolle über sich verloren und sich ihrem Kind gegenüber destruktiv verhalten haben.

Wir begannen darüber nachzudenken, was genau eigentlich in diesen Situationen vor sich ging. Offensichtlich wirkte etwas in der Eltern-Kind-Interaktion wie ein emotionaler Trigger, der, einmal ausgelöst, die Eltern geradezu in einen veränderten Bewusstseinszustand katapultierte, aus dem es kein Zurück gab. In diesem „veränderten Zustand“ reagierten sie schnell, automatisch und mit starken Emotionen. Darauf reagierte das Kind häufig wütend und verletzt, was wiederum die starken negativen Emotionen weiter eskalieren ließ. Wir stellten uns folgende Fragen: 1. Was an der Eltern-Kind-Beziehung ist so anfällig für diese Art der Interaktion? 2. Was erleben die Eltern bei solchen Interaktionen? und 3. Wie können wir Eltern helfen, in solchen Situationen weiser zu reagieren?

Der Psychiater Dan Siegel und die Erziehungswissenschaftlerin Mary Hartzell beschreiben in ihrem Buch Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen (2003; dt. 22009) solche elterlichen Reaktionen als ein Sichverlieren auf dem „unteren Weg“. Mit dem Begriff des „unteren Wegs“ (low road) bezeichnen sie schnelle, automatische Reaktionen auf eine wahrgenommene Bedrohung, die durch stressbelastete Interaktionen mit unseren Kindern getriggert werden können. Grundlage solcher „Low-Road“-Reaktionen ist eine direkte Informationsweiterleitung vom Thalamus zur Amygdala unter Umgehung höherer kortikaler Regionen. Dan Siegel schildert eine solche Low-Road-Situation zwischen ihm und seinem 12-jährigen Sohn. Sie begann mit einer Auseinandersetzung über ein Videospiel, das sein Sohn kaufen wollte. Sein Beispiel für eine elterliche „Explosionsreaktion“ passte zu dem, was wir in unserer klinischen Praxis sahen und manchmal auch in unseren eigenen Interaktionen mit unseren Kindern und Partnern erlebten (Siegel & Hartzell 2003). Wir stellten fest, dass Achtsamkeitsübungen, insbesondere der „Drei-Minuten-Atemraum“, den Eltern half, sich solcher Reaktionen bewusster zu werden und manchmal sogar innezuhalten, bevor sie reagierten. Doch oft erwiesen sich die Emotionen in solchen Momenten als zu stark. Auffallend war für uns der Wiederholungscharakter dieser Eltern-Kind-Interaktionen. Es schien, als folgte das „Ausrasten“ von Eltern in diesen Situationen bestimmten wiederkehrenden Mustern. Wir fragten uns, ob diese Muster vielleicht mit Kindheitserfahrungen der Eltern zusammenhingen. Anders formuliert: Reinszenierten die Eltern zentrale Themen aus ihrer eigenen Beziehung zu ihren Eltern in den Interaktionen mit ihren Kindern?

Wir entwickelten eine Übung, um Eltern zu helfen, achtsames Gewahrsein in ihre Interaktionen mit ihren Kindern zu bringen und mit Neugier und Offenheit zu erforschen, ob es in diesen Interaktionen bestimmte wiederkehrende Muster gab und ob diese Muster sie an Muster aus ihrer eigenen Kindheit erinnerten. Auf diese Weise konnten Eltern einen Zusammenhang zwischen den „Low-Road“-Erfahrungen, die sie mit ihren Kindern machten, und den ungelösten oder schwierigen Mustern ihrer eigenen Kindheit entdecken. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer fanden dies auf tiefgreifende Weise hilfreich. Sie konnten nun ihren eigenen Beitrag zu solchen Interaktionen, die sie bisher mit dem schwierigen Verhalten ihres Kindes oder seinen heftigen Emotionen erklärt hatten, erkennen. So wurde es ihnen möglich, sich ihrem Kind gegenüber empathischer und im Hinblick auf ihre eigenen Reaktionen neugieriger und mitfühlender zu verhalten. Sie begannen außerdem zu erkennen, dass ihre Reaktionen keineswegs zufällig waren, sondern spezifisch für ihren persönlichen Hintergrund und ihre Entwicklung. Indem sie eine Verbindung zwischen ihren oberflächlich betrachtet außer Kontrolle geratenen Reaktionen und solchen sehr persönlichen, vor langer Zeit entstandenen Mustern herstellten, fiel es ihnen leichter, sich selbst und ihr Kind mehr zu akzeptieren.

Wir stellten fest, dass diese sich wiederholenden Muster stark an die von Beck et al. (2004) sowie Young (1994) beschriebenen frühen Schemata erinnerten: automatische oder unbewusste Erfahrungen des Selbst, die Kognitionen, Emotionen und Körperempfindungen beinhalten. Es verblüffte uns, wie sehr die Beschreibung der Schemata der Beschreibung der „Geisteszustände“ in der Achtsamkeits- und buddhistischen Literatur ähnelte. Wie Schemamodi beziehen sich Geisteszustände auf ein komplexes Muster interagierender Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen, die simultan und als Gesamtzustand erfahren werden. Geisteszustände können jeden emotionalen Zustand reflektieren – Zorn, Glück, Niedergeschlagenheit und inneren Frieden –, und sie formen unsere Wahrnehmung der Welt ebenso wie unsere Reaktionen. Was Geisteszustände und Schemata so machtvoll macht, ist, dass wir sie als Realität erleben. Wenn wir uns in einem bestimmten Geisteszustand oder Schema befinden, glauben wir, dass wir die Welt, andere und uns selbst wirklichkeitsgetreu wahrnehmen, und sind nicht in der Lage zu erkennen, wie stark unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und Handlungen durch den jeweiligen Geisteszustand bzw. das Schema bestimmt sind. Die rund 2500 Jahre alte Lehre des Buddha, „Geisteszustände als Geisteszustände zu erkennen“ – sprich: sie nicht für die Realität zu halten und sich nicht mit ihnen zu identifizieren –, stimmt vollständig mit dem MBCT-Ansatz überein, „Gedanken als Gedanken“ zu sehen und nicht als Fakten. Wir fanden jedoch, dass Schemata das intensive, verwickelte Chaos aus verzerrten Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen und Reaktionen, das sich anfühlen kann wie ein veränderter Bewusstseinszustand, auf eine mehr empirische Weise erfassen.

Wir stellten außerdem fest, dass Schemata die Verbindung zwischen den aktuell schwierigen Eltern-Kind-Interaktionen und den unaufgelösten Interaktionsmustern der jeweiligen Mutter oder des jeweiligen Vaters mit den eigenen Eltern herstellten. Diese Verbindung war von größter Bedeutung, weil sie Eltern half, sich solcher Muster bewusst zu werden und deren emotionale Kraft sowie deren negative Effekte in der Gegenwart zu verstehen und schließlich fähig zu werden, diese Muster loszulassen und in schwierige Interaktionen mit ihrem Kind achtsames Gewahrsein und bewusste Entscheidungen einzubringen. Aus der Entwicklungsforschung wissen wir, dass dysfunktionale Erziehungsmuster von einer Generation auf die nächste „übertragen“ werden können. Dasselbe gilt für Eltern-Kind-Bindungsmuster (Egeland et al. 1987; van IJzendoorn 1995). Diese These fanden wir durch unsere eigenen Erfahrungen als Eltern und die Erfahrungen vieler Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Mindful-Parenting-Gruppen vielfach bestätigt: Die Erfahrungen, die wir als Kinder mit unseren Eltern gemacht haben, können durch emotionale oder stressbelastete Interaktionen wieder aufleben.

Abschließend sei gesagt, dass die Entwicklung des Mindful-Parenting-Programms auf den Beiträgen vieler Menschen beruht. Es erwuchs aus dem Feedback der Eltern und der Achtsamkeitslehrerinnen und -lehrer, die einen Mindful-Parenting-Ausbildungskurs absolvierten. Auch unsere persönlichen Meditations-, Lehr- und Retreaterfahrungen waren wesentlich für diesen Prozess. Wir haben als Fachfrauen, aber auch als Mütter an diesem Programm gearbeitet. Als Expertinnen profitierten wir von unserem beruflichen Hintergrund als Familientherapeutinnen, kognitive Verhaltenstherapeutinnen und Schematherapeutinnen, der es uns ermöglicht hat, die Übungen dieses Programms in unserer klinischen Praxis und bei der Ausbildung anderer Therapeuten zu testen. Als Mütter haben wir die Übungen auf unseren Familienalltag angewandt – im Bewusstsein unserer eigenen „Low-Road“-Momente und unserer transgenerationalen Elternerfahrungen.

1.4 Zum Aufbau des Buches

In den folgenden 13 Kapiteln beschreiben wir das Mindful-Parenting-Programm, so wie wir es entwickelt und am Mental-Health-Zentrum UvA minds für Eltern und Kinder der Universität Amsterdam (Niederlande) umgesetzt und getestet haben. In Teil 1, Kapitel 1 bis 3, stellen wir den theoretischen, klinischen und empirischen Hintergrund des Programms vor. In Kapitel 2 erweitern wir die Perspektive und erforschen das Elternsein und den damit verbundenen Stress im Kontext der Evolutionsgeschichte. In Kapitel 3 präsentieren wir Ergebnisse aus zwei klinischen Studien zum Mindful-Parenting-Programm und erste Befunde zu unserer neuesten Version des Programms, die auch die in diesem Buch beschriebenen Mitgefühls- und schematherapeutischen Übungen enthält.

In Teil II, Kapitel 4 bis 13, stellen wir das Mindful-Parenting-Curriculum vor. Wir beginnen mit einem Überblick über das Programm, den Sie in Kapitel 4 finden. Dort beschreiben wir die Ziele des Programms, die Themen und Übungen jeder Sitzung und machen einige auf unseren Erfahrungen als Kursleiterinnen basierende Vorschläge. Wir erläutern außerdem, für welche Familien und Eltern das Programm entwickelt wurde und wie wir bei den Aufnahmegesprächen vorgegangen sind. Am Ende des Kapitels schildern wir den Aufbau und die Pflege der eigenen Achtsamkeitspraxis, die wir als unerlässlich für angehende Mindful-Parenting-Lehrerinnen und -Lehrer ansehen. In Kapitel 5 bis 13 beschreiben wir die neun Einzelsitzungen des Kurses (acht Sitzungen plus eine Follow-up-Sitzung zwei Monate nach Programmende) im Detail: Nach einer kurzen Erläuterung des theoretischen und/oder klinischen Hintergrundes dieser Sitzung folgt jeweils eine detaillierte Beschreibung der Übungen und der sich daran anschließenden Gesprächsrunden mit Praxisbeispielen. Am Ende jedes Kapitels finden Sie die Arbeitsblätter für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu den jeweiligen Hausaufgaben und wichtigen Themen der Sitzung. In Kapitel 14 schließlich geben wir den Eltern das Wort: Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer schildern, wie sich der Kurs langfristig auf ihr Leben ausgewirkt hat.

1.5 Anmerkung zu den Praxisbeispielen

Dieses Buch enthält viele Beispiele aus den Kurssitzungen, um die vorgestellten Übungen zu illustrieren. Dabei handelt es sich um anonymisierte Äußerungen und Berichte von Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus unseren Kursen und Workshops. Um sie und ihre Familien zu schützen, haben wir Namen und Einzelheiten verfremdet. Einige Eltern haben auch unter ihrem richtigen Namen Texte und Gedichte über ihre Erfahrungen beigesteuert. Persönliche Beispiele aus unserem eigenen Alltag beginnen mit „ich“ und beziehen sich immer auf Kathleen oder Susan. Wenn wir von „wir“ sprechen, ist stets eine Vielzahl gemeint: wir als Mindful-Parenting-Lehrerinnen, als Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Mindful-Parenting-Kurses, als Eltern oder als Autorinnen.

Mindful Parenting

Подняться наверх