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1 Marlène Peron

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Umgeben von entfernten Motorengeräuschen, klappernden Stöckelschuhen, weinenden Kindern und schimpfenden Müttern saß Marlène mit ihrem Freund Florel an einem Tisch vor dem Le Broc Café. Eine rote Tulpe zierte die Mitte des runden Tischchens und sollte den Charme des Frühsommers in der Normandie unterstreichen. Marlène störte der Trubel um sie herum wenig. Sie liebte dieses Café, vielleicht sogar wegen der regen Betriebsamkeit, die die Atmosphäre erfrischte wie ein sanfter Frühlingswind. Die Sonne schien so strahlend vom Himmel, dass Marlène trotz der überdimensionalen Sonnenbrille die Frühstückskarte nur mit zusammengekniffenen Augen durchschmökern konnte.

Florel saß ihr gegenüber und beobachtete sie zufrieden. Marlène spürte seine Blicke, fühlte sich ertappt. Sie wusste, wie sehr er es liebte, wenn sie beim Lesen ihre Lippen lautlos bewegte. »Wie ein Schulkind bei seinen ersten Buchstabierversuchen«, hatte er sie schon mehrmals geneckt.

Mit einem Griff nahm sie die Sonnenbrille ab und wollte Florel mit gestrenger Miene strafen. Als dieser eine reumütige Schnute zog, konnte sie nicht anders, als lauthals zu lachen. »Was soll ich nur mit dir machen?«, fragte sie ihn kopfschüttelnd. »Du benimmst dich wie ein ungezogener Junge.«

»Die Frage sollte wohl lauten: Was würdest du ohne diesen ungezogenen Jungen machen?« Florel griff über den Tisch und nahm Marlènes zierliche Hand.

Er hatte recht. Seit sie einander vor einem Jahr begegnet waren, war sie förmlich aufgeblüht. Seine Liebe fühlte sich an wie die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Entspannt lehnte sie sich zurück in ihren Stuhl und versteckte sich hinter der Speisekarte, um ungestört wählen zu können. Mit einer Hand nestelte sie an ihrem weißen Spaghettiträgershirt, das sie angezogen hatte, um die winterliche Blässe ihrer Schultern vom ersten zartbraunen Teint überziehen zu lassen.

»Die Sonne scheint heute nur für dich, mein Geburtstagskind«, sagte er feierlich und kramte in seiner Ledertasche.

Vermutlich nach seinem Geschenk, dachte Marlène und richtete sich in dem klapprigen Plastikstuhl auf. Sie rückte näher zu Florel und versuchte schielend, den Inhalt der Tasche auszumachen.

»Na, na, wer wird denn da?« Florel wehrte sie ab und gab ihr einen scherzhaft gemeinten Klaps auf den Handrücken.

»Was hast du da?«, fragte Marléne und schmiegte sich dabei an seine Schulter. Eigentlich war es ihr egal, was er hervorkramen würde, das Schönste war, dass sie diesen Tag gemeinsam verbrachten.

Liebevoll richtete Florel die leicht zerknautschte Schleife auf dem Päckchen und hielt es ihr dann freudestrahlend entgegen. »Das ist für dich«, sagte er aufgeregt.

Ihre Neugierde war so groß, dass sie ihm das Geschenk am liebsten aus der Hand gerissen, das Band achtlos abgenommen und das Papier eiligst in Fetzen zu Boden geworfen hätte. Doch Marlène wusste, wie viel Liebe in dem Präsent steckte. Sie durfte diesen Augenblick nicht zerstören, es war nicht nur ihrer, sondern auch Florels.

Während sie mit ihren frisch lackierten dunkelroten Fingernägeln den Tixostreifen vom fliederfarbenen Papier löste, ruhte der Blick seiner grünen Augen nervös auf jedem ihrer Handgriffe. »Ich hoffe, es gefällt dir, mein Lenchen«, sagte er beinahe im Flüsterton, um sie nicht zu stören.

Marlène lächelte, wie immer, wenn er ihr diesen Kosenamen gab. Das Geschenkpapier geöffnet, hielt sie ein Schmucketui in den Händen. Kurz zögerte sie. Dann öffnete sie es behutsam, als könnte es jeden Moment explodieren.

»Keine Bange, mach es ruhig auf, es ist kein Verlobungsring«, versicherte Florel.

»Puh, da habe ich aber Glück gehabt«, log sie und war froh über ihre Sonnengläser, die ihren enttäuschten Blick verbargen. Teils traurig, teils erleichtert hob Marlène den Deckel ab und nahm den Inhalt vorsichtig zwischen die Finger. Eine gewundene Acht – das Zeichen der Unendlichkeit – schlang sich zart um den massiven silbernen Ring. Dort, wo sich das Symbol schloss, rankten sich ihrer beider Initialen ineinander.

»Marlène und Florel … für immer«, sagte er und strich mit einer Hand zärtlich über ihren Unterarm.

»Er ist …« Ihr stockte der Atem. »Er ist mehr, als ich mir je erträumt hatte. Florel!« Sie fiel ihm um den Hals.

»Komm, ich helfe dir.« Er schob den Ring zaghaft auf ihren schlanken Finger. Fast fühlte es sich für Marlène an, als hätte sie eben doch einen Heiratsantrag bekommen und ihr Verlobter würde den Bund mit dem Schmuckstück besiegeln.

»Hier haben wir uns kennengelernt, weißt du noch? Genau an diesem Tisch hast du gesessen«, erinnerte sich Florel.

»Du hast hier gekellnert und mir den schaumigsten Kaffee Latte aller Zeiten serviert«, ergänzte Marlène.

»Mit Schokostreuseln obendrauf.«

»Ja, die machten ihn erst perfekt.« Marlène schmunzelte und küsste Florel auf die Wange. Sie mochte den Duft seiner Haut und das raue Gefühl seines Zweitagebartes. Wie von selbst schloss sie die Augen und verweilte einen Moment. Die Sonne schien warm auf ihren Körper, ihr Freund liebte sie und sie hatte Geburtstag – ja, alles war vollkommen.

Sie rückte wieder zurück auf ihren Platz und behielt Florel im Blickfeld. Der schlürfte an seinem Mokka, sein fülliges, braunes Haar glänzte im Sonnenlicht, die Kleidung war wie gewohnt chaotisch zusammengewürfelt, passte aber zu ihm. Er war eben ein Künstler. Der Ring war das erste Schmuckstück, das er für sie mit eigenen Händen gefertigt hatte, und gerade deshalb würde sie ihn stets tragen – damit sie nicht vergaß, wie glücklich sie an diesem Tag gewesen war.

Wenn es nur für immer so bliebe, dachte sie beinahe wehmütig und blickte über die belebte Rue Ecuyere, wissend, dass es nicht so bleiben konnte.

»Komm, machen wir uns auf den Weg.« Seine raue Stimme rüttelte sie aus ihren Gedanken.

»Weg? Wohin?«

Florel schüttelte den Kopf und verdrehte dabei die Augen. Dann reichte er ihr die Hand und zog sie aus ihrem Sessel hoch. »Du hast heute Geburtstag. Willst du den ganzen Tag hier in diesem heruntergekommenen Café sitzen?«, fragte er und ignorierte die verärgerten Bemerkungen des Kellners hinter sich.

Eng umschlungen spazierten sie durch die Rue Bertauld. Vorbei an der Bäckerei Admont Jérôme, aus der es wie immer herrlich nach frischem Gebäck duftete. Vorbei an der Schusterwerkstatt, aus der man das leise Hämmern des Meisters hörte. Und vorbei an dem Salon Alain, aus dem man neben den aufdringlichen Föhngeräuschen lebhaftes Stimmengewirr und Gelächter vernahm.

Florel öffnete die Tür seines Wagens und lud Marlène mit einer Handbewegung ein, einzusteigen.

»Wo bringst du mich hin?«, fragte sie und hob ihren knöchellangen Rock an, um in dem türkisfarbenen Renault Platz zu nehmen.

Florel beantwortete ihre Frage mit einem lockeren Schulterzucken und schloss vorsichtig die Tür seines geliebten Oldtimers.

Während der Fahrt schwiegen sie, genossen die Sonne, die durch die Fenster wärmte, horchten Radio und hingen ihren Gedanken nach. Immer wieder fiel Marlènes Blick auf ihren Ring, und sie wünschte sich dabei von Herzen, dass dieser Tag nie endete. Sie wünschte sich, dass die Realität, in der Paare streiten, einander betrügen und verlassen, noch lange ausgesperrt bliebe aus ihrer Seifenblase, in der es nur sie und Florel gab.

Je länger sie fuhren, desto seltsamer wurde ihr zumute. Die Gegend kam ihr zunehmend bekannt vor. Auch wenn sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr hier gewesen war, löste der salzige Geruch des Ozeans ein Gefühl von Heimat in ihr aus. »Wo fahren wir hin?«, fragte sie verunsichert.

Als sie das letzte Dörfchen vor der Küste hinter sich gelassen hatten, und Marlène Gewissheit hatte, wo die Fahrt enden würde, fühlte sie sich in einen Zustand angenehmer Aufregung versetzt. Seit dem Tod ihrer Großmutter vor siebzehn Jahren war sie nicht mehr hier gewesen. Doch hatte sie die Sehnsucht nach dem kleinen Haus, dem alten Rosengarten, den Erinnerungen an die unbeschwerte Kindheit nie völlig losgelassen.

Marlène schloss die Augen. Sie konnte kaum glauben, welches Wiedersehen ihr unmittelbar bevorstand. Sie hatte das Zuhause ihrer Großmutter geliebt. In fast jedem Zimmer gab es einen geheimen Winkel, eine Kommode mit unzähligen Schätzen, verstaubte Bilder, knarrende Sessel, unheimliche Schatten, den Duft nach Lavendelwasser und frisch gebleichten Leintüchern. Marlène erinnerte sich an das herzhafte Lachen ihrer Mamie, die weichen Falten um den Mund, den ordentliche Haarknoten, die sauber gebügelten Blusen, die warmen Hände, die sie stets voller Freude empfangen hatten.

Mit einem Seufzer öffnete Marlène die Augen und sah das Häuschen am Horizont. Verlassen. Einsam. Baufällig. Ein schmerzhafter Stich durchzuckte ihren Brustkorb. Das war also der Rest ihrer Erinnerungen? Ein trauriger Rest, wie sie sich eingestehen musste.

»Komm, steig aus!« Florel öffnete ihr die Autotür.

Sie wollte ihm nicht zeigen, wie betrübt sie der Anblick des alten Hauses stimmte. Er hatte sich so bemüht, wollte ihr eine Freude machen und sie an ihrem Geburtstag in ihre Kindheit entführen. Marlène holte tief Luft, setzte ein gespieltes Lächeln auf, stieg aus und ging auf das Haus zu. Fast war ihr, als müsste ihre Großmutter jeden Moment die Tür öffnen und sie zu sich winken. »Warum wohnt hier niemand?«, fragte sie verwundert. »Ich dachte, das Haus wäre wieder vermietet worden.«

»Wurde es nicht. Die Besitzer hielten es wohl nicht für nötig, das Gebäude in Schuss zu halten und weiterhin zu vermieten«, antwortete Florel gegen den Wind, der vom Meer heraufstrich und ihnen kräftig durch Haar und Kleidung wirbelte.

»Warum sollte jemand sein Haus derart verkommen lassen wollen? Das ist doch bescheuert. Woher weißt du das überhaupt?«, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie blickte hoch zu den zerbrochenen Fenstern, den fehlenden Schindeln, den Fensterläden, die im Wind auf- und zuschlugen. An der Haustür angekommen hielt sie inne. »Hier ist noch immer das Namensschild meiner Großmutter«, stellte sie fest und berührte mit den Fingerkuppen sanft die in Kupfer geprägte Schrift. »Alice Havering«, flüsterte sie und fühlte salzige Tränen auf ihren Wangen.

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

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