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5 Marlène Peron

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Während Florel am Eingang verweilte, schlich Marlène auf Zehenspitzen ins Haus, als wollte sie die Schatten der Vergangenheit um keinen Preis in ihrer Ruhe stören. Ein dicker Kloß erschwerte ihr das Atmen, als sie ihre Blicke über den Esstisch wandern ließ, an dem ihre Großmutter stets den besten Kakao kredenzt hatte. Die Küche schien, bis auf eine dicke Staubschicht, unberührt. Fast war es Marlène, als müsste ihre Mamie jeden Moment lächelnd ins Zimmer huschen, ihr zuzwinkern und dabei ein Lied summen.

»Es ist alles wie früher«, flüsterte Marlène über ihre Schulter zu Florel.

»Du hast viel Zeit hier verbracht, nicht wahr?«

»Ja, beinahe jedes Wochenende.«

»Und deine Mutter? Hat sie dich nicht vermisst?«

»Mutter?«, fragte Marlène mit schriller Stimme. »Nachdem Vater uns verlassen hatte, hatte sie genug mit sich selbst zu tun. In ihrer Nähe fühlte ich mich damals schrecklich. Sie gab mir ständig das Gefühl, mit ihr gemeinsam leiden zu müssen. Lachen war bei uns strengstens verboten. Sie hatte sich der Trauer und dem Selbstmitleid verschworen, und mir blieb keine Wahl, als mich ihrem trübsinnigen Sog hinzugeben.« Marlène schwieg einen Augenblick und starrte auf den leeren Ohrensessel, in dem ihre Großmutter abends gerne in Rezepten geblättert oder an einer Decke gehäkelt hatte. »Bei ihr war es anders«, fuhr sie nachdenklich fort. »Mit Mamie konnte ich die Welt entdecken. Ihre kleine Welt. Jede Stunde hier war kostbar.« Marlène öffnete ein Wandschränkchen in der Küche und entnahm eine Blechdose, auf der sich grellfarbene Blumen rankten. Behutsam hob sie den Deckel ab und überzeugte sich davon, dass alles an seinem Ort war. »Großmutter hat nicht etwa Muscheln oder Steine gesammelt. Nein, ihr Hang dahingehend war etwas ausgefallener. Schau!« Marlène schwenkte die Dose in Florels Richtung, sodass er einen Blick hineinwerfen konnte.

»Was ist das?«, fragte er und lachte laut auf.

»Das sind Tieraugen«, sagte sie und kicherte. »Genau genommen Plastikaugen von Plüschtieren.«

»Ganz genau genommen ist das eine Unmenge an Plastikaugen von Plüschtieren. Und jedes einzelne starrt mich an.« Florel griff in die Blechdose und holte eines der Augen heraus. »Gab es für diese Sammelleidenschaft einen tieferen Sinn, den ich nicht wissen möchte?«

»Ich glaube, es hing damit zusammen, dass sie als Kind kein eigenes Plüschtier oder eine Puppe hatte«, sagte Marlène nachdenklich.

»Wäre es dann nicht naheliegender gewesen, sich einfach ein ganzes Kuscheltier zu kaufen? Ganz ehrlich, ein wenig gruselig ist das schon, oder?« Florel blickte belustigt in die Sammlung starrer Pupillen.

»Wenn meine Großmutter mit Sicherheit eines nicht war, dann gruselig.« Marlène schloss die Blechdose und stellte sie sorgsam zurück an ihren Platz. »Komm, ich zeig dir den Rest des Hauses.« Sie fasste Florel an der Hand und zog ihn hinter sich her in den nächsten Raum.

Dort war es hell, die Sonne schien durch beide Fenster und wärmte das kleine Zimmer, das über und über voll war mit vertrockneten Pflanzen.

»Knuspriges Grünzeug hat sie also auch gesammelt, oder wie?« Florel schmunzelte und drehte sich um seine eigene Achse. An jeder Wand standen Regale und Kästchen, und jedes davon war vollgestellt mit Übertöpfen, aus denen die traurigen Reste einer einst blühenden Pracht lugten.

»Das war Großmutters ganzer Stolz. Hier hat sie Zierfarne, Chrysanthemen und Azaleen gezüchtet, bewässert und stundenlang gepflegt. Es war eine wunderbar prächtige Idylle.« Marlènes Augen strahlten, als sie mit ihrer Linken auf die verschiedenen Pflanzen wies.

»Und das könnte es auch wieder werden.« Florel strich sanft über Marlènes Rücken.

»Ja, vielleicht«, antwortete sie kaum hörbar und dachte bei sich, dass sie es ihrer Großmutter schuldig war, dieses Haus wieder in altem Glanz erstrahlen zu lassen.

»Sehen wir uns oben um?«, fragte sie, ließ Florel zwischen den vertrockneten Pflanzen stehen und tappte die steile Treppe hoch ins Obergeschoss.

Im Schlafzimmer angekommen atmete sie tief durch und lehnte sich an die kühle Wand. Sie fühlte sich zwiegespalten, wusste nicht, wo sie hingehörte und ob es ihr erlaubt war, dem Ruf ihres Herzens zu folgen. Müde schloss sie die Augen und ließ die Energie des Hauses auf sich wirken. Nirgendwo könnte sie sich je mehr daheim fühlen als hier. Und doch sagte ihr eine innere Stimme, dass sie nicht überstürzt entscheiden durfte.

»Nein, das ist nicht meine innere Stimme, sondern die von Mama«, raunte sie und stieß sich von der Wand ab. Warum nur war es so schwer, sich gegen die Einstellung ihrer Mutter aufzulehnen? Schließlich war es ihr Leben, und nichts deutete darauf hin, dass Florel sie so unerwartet verlassen würde, wie Vater es getan hatte. Oder Großvater. Oder Urgroßvater. Und doch musste sie sich eingestehen, dass die Bedenken ihrer Mutter in ihrem Bewusstsein bereits Wurzeln geschlagen hatten und sich kaum beiseiteschieben ließen.

»Das ist mein Leben, ich lass es mir nicht von dir kaputt machen!«, schimpfte sie laut in den menschenleeren Raum. »Wenn du noch lebtest, liebste Mamie. Du hast mich immer verstanden und mir Mut gemacht. Du würdest mich anlächeln und mir sagen, dass ich es riskieren soll, in die tobenden Wellen des Lebens zu springen. Denn nur dann kann man wahrlich fühlen, hast du gesagt.« Marlène kniete sich neben das Bett und strich über das Nachtkästchen, das mit feinen maritimen Schnitzereien versehen war. Ohne darüber nachzudenken, zog sie die obere Schublade auf und griff nach vergilbten Briefen, die liebevoll mit einer Schleife zusammengebunden waren.

Das Knarren der Treppe verriet, dass Florel ihr nach oben folgte. Ohne sich davon beirren zu lassen, öffnete sie vorsichtig das brüchige Band und legte es beiseite. Die Tinte auf den Umschlägen war verblichen und die Schrift kaum zu entziffern. Nur den Namen Finnigan Bell glaubte sie erkennen zu können, der Rest blieb ihr ein Rätsel.

Marlène war schon dabei, den Briefumschlag zu öffnen, als sie plötzlich innehielt und zögerte. Hatte sie überhaupt das Recht, die Post ihrer Großmutter zu lesen? Mamie war bereits vor Jahren verstorben, und doch waren diese Briefe bis heute unentdeckt geblieben. Mutter war damals dagegen gewesen, gemeinsam hierherzukommen und die Räume nach Erinnerungen abzusuchen. Sie würde es nicht schaffen, im Leben ihrer Mutter zu wühlen, hatte sie gemeint und auch Marlène untersagt, das Haus noch einmal aufzusuchen. Sie hatte es bevorzugt, den Schlüssel und eine vereinbarte Geldsumme an den Hausbesitzer zu schicken und ihm die Räumung zu überlassen. Die verhandelte Summe hatte er damals dankend angenommen, das Haus dürfte er selbst nie wieder betreten haben.

Seltsam, dachte Marlène, dass er es nicht erneut vermietet oder gar verkauft hatte. Die Lage hier war traumhaft und das Häuschen ein wahres Schmuckstück. Und war es nicht genau die Einsamkeit, die viele Menschen suchten?

Ihr war es egal. Ganz im Gegenteil, nun hatte sie die Möglichkeit, in der Vergangenheit zu schwelgen und sich einige der Schätze anzueignen.

Sie beschloss, die Briefe nicht zu öffnen, sondern mit nach Hause zu nehmen. Zum einen könnte Florel jeden Augenblick hinter ihr stehen, zum anderen wollte sie nicht überhastet in das Leben ihrer Mamie eindringen.

Bevor sie das Nachtschränkchen schloss, tastete sie mit einer Hand in die hintersten Winkel und war versucht, vor Freude aufzuschreien, als sie auf ein kleines Kästchen stieß. In die lederne Schatulle waren feinste Muster eingeritzt und verliehen dem Kistchen etwas geheimnisvoll Elegantes. Erneut widerstand Marlène dem Drang, den Deckel abzunehmen und den Inhalt zu begutachten. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es etwas von großem Wert sein musste. Rasch steckte sie den Fund in ihre Jackentasche zu den Briefen und schloss die Schublade des Nachtschränkchens. Sie wollte … Nein, sie fühlte sich dazu verpflichtet, wieder herzukommen. Bestimmt warteten noch unzählige Schätze auf sie.

»Hast du etwas gefunden?«, fragte Florel, als er das Schlafzimmer betrat.

»Nein, nur jede Menge Kram«, log sie. Die Umschläge und die Schatulle waren ihr Geheimnis, von dem vorerst niemand erfahren sollte.

»Das Haus ist in überraschend gutem Zustand«, meinte er und klopfte an die Wand.

»Bis auf die knarrende Treppe«, entgegnete Marlène lächelnd.

»Besser als jede Alarmanlage, findest du nicht?« Florel legte den Kopf schief und lächelte Marlène entgegen. »Ich liebe dieses Haus. Hier will ich alt werden«, versicherte er ihr.

Marlènes Herz begann rasend schnell zu schlagen, und ihre Augen funkelten vor Glück. Das will ich auch, mit dir, war sie versucht, auszurufen. Nur mit Mühe gelang es ihr, Herrin über ihre Gefühle zu werden. Nur nichts überstürzen, warnte sie sich selbst und atmete tief ein und aus. »Darüber reden wir noch, in Ordnung?«, erwiderte sie kühl und strich ihm sanft über das unrasierte Kinn.

Florel nickte, lief schwungvollen Schrittes über die Treppe und wartete an der Haustür. Lässig lehnte er im Türrahmen, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt und ein müdes Lächeln im Gesicht.

Marlène verspürte einen schmerzhaften Stich in ihrer Brust. Sie wollte diesen Mann auf keinen Fall verlieren. Sie liebte ihn, fühlte sich nirgendwo wohler als in seiner innigen Umarmung. Aber war sie wirklich so weit, ihr Leben in Caen hinter sich zu lassen? Hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe zu Florel und ihrem Drang nach Freiheit war ihr danach, zurück zur Küste zu laufen und sich in dem Ausblick auf das endlos scheinende Wasser zu vergessen.

»Noch einmal alles Gute zum Geburtstag, mein Lenchen!«, hauchte Florel ihr zu, nachdem er drei Stunden später vor ihrem Haus in der Rue de Gernesey haltgemacht hatte.

»Ja, danke für den Ring und den … Ausflug«, meinte sie stockend und vermied es dabei, ihm in die Augen zu sehen.

Noch während sie nach ihrer Tasche auf dem Rücksitz griff, legte Florel behutsam seine Hand auf ihren Unterarm. »Ich möchte nicht, dass der Tag so endet!«, flüsterte er mit zitternder Stimme. Mit seinen sanften grünbraunen Augen suchte er ihren Blick, und für einen kurzen Moment war sie der Meinung, er wolle sie küssen.

»Lass uns morgen telefonieren, ja?«, schlug Marlène vor und rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihr zum Weinen zumute war. Mit diesen Worten stieg sie aus dem Auto und huschte zur Haustür. Während sie in ihrer Tasche nach ihrem Schlüssel suchte, überlegte sie, ob sie sich noch einmal zu Florel umdrehen sollte. Zu spät, denn genau in diesem Augenblick hörte sie, wie er den Motor startete und davonfuhr. Ein dicker Kloß im Hals erschwerte ihr das Atmen. Sie konnte sich vorstellen, wie Florel sich fühlte. Er hatte diesen Tag vermutlich seit Wochen geplant, und nun war alles anders gekommen als erwartet. Ein Blick auf ihren Ring ließ ihr Herz höherschlagen.

„Florel und Marlène … für immer“, flüsterte sie und verschwand in ihrer Wohnung.

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

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