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3 Marlène Peron

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»Woher weißt du, dass hier nie wieder jemand gewohnt hat?«, wiederholte Marlène ihre Frage, löste ihren Griff vom Namensschild an der Haustür und ging um das Gebäude herum. Ihre Hände strichen dabei so sanft über den rissigen Anstrich, als könnte allein die Berührung Erinnerungen aus der Kindheit wachrufen. Marlène hatte das Gefühl, nach einer Ewigkeit endlich zu Hause anzukommen und dass das alte Haus mit den blauen Fensterläden sie freudig in Empfang nähme. »Marlène«, schien es zu flüstern, »wo bist du so lange gewesen?«

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Marlène und lehnte sich sehnsüchtig an das von der Sonne leicht gewärmte Gemäuer. »Jetzt bin ich ja hier«, flüsterte sie mit geschlossenen Augen.

»Mit wem sprichst du?« Florel stand neben ihr und starrte fragend auf ihr blondes Haar, das in der Nachmittagssonne golden glänzte.

»Mit niemandem«, versicherte sie und drehte sich zu ihm. »Ich hatte keine Ahnung, wie sehr ich dieses Haus vermisst habe.« Marlène bedeckte Florels Wangen mit zärtlichen Küssen und schmiegte sich eng an ihn.

»Komm mit, ich zeig dir etwas.« Hastig griff sie nach seiner Hand und rannte los. Mit einem Mal fühlte sie wieder die Leichtigkeit eines Kindes in sich aufflammen. Zielstrebig eilte sie an der Hauswand entlang, dann weiter, über die saftig grüne Wiese, die im Wind wogte. Sie lachte laut auf, als das Gras sie an den Waden kitzelte. Ihre Hand umschloss mit festem Druck die von Florel, der Mühe hatte, ihr zu folgen. Erst nach einer Weile blieb sie atemlos am nahe gelegenen Felsenriff stehen, das in einer geformten Spitze das Festland ins Meer enden ließ. Sehnsüchtig glitt ihr Blick über die sanften Wellen, die tiefblau ans Riff spülten.

»Hier«, rief sie nach Luft ringend. »Hier haben meine Mamie und ich oft stundenlang gesessen und das Spiel des Wassers bewundert. Wir brauchten nur das zum Glücklichsein: uns beide und die Unendlichkeit des Meeres.« Marlène ließ Florels Hand los und strich sich das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht.

»Großmutter hat gesagt: ›Wenn man genau hinsieht, dann findet man am anderen Ufer des Ärmelkanals sein Glück.‹«

»Was hat sie damit gemeint?«, fragte Florel, schärfte seinen Blick und folgte ihrem Fingerzeig.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie enttäuscht. »Ich habe sie nie danach gefragt. Leider.« Mit einem tiefen Seufzer verfolgte sie das Spiel der sanften Wellen. »Bei klarem Wetter kann man die Kreidefelsen von Dover erkennen. Die Aussicht ist spektakulär«, fuhr sie fort und machte eine ausschweifende Handbewegung mit ihrer Rechten. »Na ja, bei leicht trübem Wetter wie heute braucht man dazu die Augen eines Luchses – oder ein Fernglas.« Marlène zwinkerte Florel zu und ließ sich von ihm umarmen. »Das ist der schönste Geburtstag überhaupt«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wie bist du nur auf die Idee gekommen, hierherzufahren?«

»Wir sind hier, weil du diesen Ort liebst. Und weil du hierhergehörst.« Florel schlang seine Arme fest um Marlènes schmale Taille.

»Was meinst du damit?«, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch.

»Dass wir das Haus kaufen können, wenn du es willst. Das meine ich damit.«

Marlènes Augen weiteten sich und ihr Herz drohte, sich zu überschlagen. Florels Mund umspielte ein spitzbübisches Lächeln. »Dass wir hier leben sollten, meine ich. Und dass wir hier eine Familie gründen könnten, meine ich.« Er strich mit beiden Händen sanft über ihre Oberarme und schmunzelte sie zärtlich an. »Mein liebstes Lenchen, das ist die Erfüllung unserer Träume.«

Mit einem Mal fühlte sich Marlène unsicher. »Von so einem Traum haben wir nie gesprochen.«

»Aber Lenchen, über Träume spricht man nicht, die lebt man.« Er strich ihr zärtlich durch das kinnlange Haar.

»Wie stellst du dir das vor? Wir können doch nicht von heute auf morgen Caen verlassen. Dort haben wir Freunde, Arbeit, Wohnung und überhaupt alles.«

»Und dennoch schlägt dein Herz nur hier an diesem besonderen Ort höher. Du hättest dich sehen müssen, als du vorhin am Haus der Großmutter standest – deine Sehnsucht nach diesem Ort, die endlich gestillt wurde. Caen ist nicht aus der Welt.« Liebevoll strich er über ihre erhitzten Wangen, legte den Kopf schief, während er versuchte, ihren Blick zu lesen. In Marlènes Kopf überschlugen sich die Gedanken und Bilder. Und während das Gefühl, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, immer mächtiger wurde, löste sich Florels Berührung, und sie wich einen Schritt zurück.

»Das ist das Wunderbarste, das je ein Mann für mich gemacht hat. Wirklich!« Marlène rang nach den richtigen Worten. Auf keinen Fall wollte sie ihn verletzen.

»Aber? Geht es dir zu schnell? Du musst dich nicht heute entscheiden, das würde ich nie von dir verlangen.« Florels Stimme war ruhig und bestimmt. Weder in seinem Gesicht noch in seiner Haltung lag Gram, dennoch wich auch er einen Schritt zurück. »Komm, lass uns wieder fahren«, schlug er vor und reichte ihr die Hand.

Marlène zögerte. Sie fühlte sich zerrissen, und das nicht nur wegen des überraschenden Vorschlages, den ihr Florel unterbreitet hatte. Sie dachte an die Worte ihrer Mama, die sie genau vor so einer überstürzten Entscheidung gewarnt hatte. »Er bedrängt dich. Er raubt dir jeden Freiraum«, so das Gezeter der Mutter. »Ständig umgarnt er dich mit seiner Nähe und nimmt dir die Luft zum Atmen. Er saugt dich aus, und wenn er sein Ziel erreicht hat, dann lässt er dich fallen und verschwindet für immer. So war schon dein Vater, und so erging es auch deiner Großmutter. Die Männer bringen uns nur Unglück. Selbst deine Urgroßmutter nahm sich das Leben, weil ihr Gatte eine einzige Enttäuschung war. Wir Havering-Frauen sind nicht für die große Liebe geboren, damit solltest du dich abfinden.«

Bislang hatte Marlène versucht, die harschen Worte ihrer Mutter zu verdrängen, aber heute befürchtete sie zum ersten Mal, dass sie recht haben könnte. Was, wenn sie ihre gesamte Existenz für ihn aufgab und er sie dann im Stich ließ? Warum nur kam er auf die Idee, sie in eine solche Zwickmühle zu bringen? Noch nie in den zwei Jahren ihrer Beziehung hatten sie davon gesprochen, hier an die Küste zu ziehen. Freilich war der Gedanke an ein Leben am Meer ergreifend, dennoch wollte sie in derart wichtige Entscheidungen eingebunden werden.

Und nun stand er vor ihr und wagte es kaum, sie anzublicken. Er kaute verlegen an seinen Lippen, während seine Augen von einem bedrückten Ausdruck umspielt wurden. Gerne hätte sie ihn umarmt, ihm gesagt, dass sie ihn liebte und sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Leben an seiner Seite. Es brach ihr das Herz, ihn enttäuscht zu sehen, dennoch konnte sie sich zu diesem Schritt nicht überwinden. Eine Nacht darüber schlafen, dachte sie bei sich und versuchte, den dicken Kloß in ihrem Hals zu ignorieren.

»Ja, lass uns fahren«, sagte Marlène und ergriff nach kurzem Zögern Florels Hand. Sie fühlte sich warm an und gab ihr wie immer ein Gefühl von Geborgenheit. Mit ihrem Daumen strich sie sanft über seinen Handrücken und lächelte ihm verhalten zu. Bei jedem Schritt, der sie dem Haus näher brachte, fühlte sie einen ungeahnten Frieden aufsteigen. Sie schloss die Augen und lauschte dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers. Der ewige Wind fuhr ihr durch das Haar, als wollte er sie festhalten und ihr sagen, dass hier ihr Platz war.

Zurück beim Haus hielt Marlène inne. Wieder betastete sie die weiß getünchte Mauer und spürte dabei die Energie dieses Ortes durch ihren Körper pulsieren.

»Es war eine dumme Idee hierherzukommen!«, hauchte ihr Florel ins Ohr und drückte zärtlich ihre Hand.

»Woher willst du eigentlich wissen, dass es zum Verkauf steht?« Marlène drehte sich um und blickte Florel an.

Der lächelte geheimnisvoll, griff in die ausgebeulte Jackentasche und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. »Keine Bange, den haben wir nur leihweise, um uns einen Überblick zu verschaffen.«

»Wir können hinein? Jetzt?« Marlène fühlte eine kindliche Neugierde in sich aufsteigen.

»Ja«, antwortete Florel langgezogen und ließ den Schlüssel vor ihrer Nase klimpern.

»Na, dann los!« Marlène wollte nach dem Türschlüssel greifen, doch Florel zog seine Hand hoch. So sehr sie sich auch streckte, sie konnte ihn nicht zu fassen kriegen und ärgerte sich über den Größenunterschied zwischen ihnen beiden. »Du bist einfach ein tölpelhafter Riese«, fauchte sie und klopfte ihm gespielt erbost auf den Brustkorb.

»Der Besitzer hat den Schlüssel mir anvertraut – und bestimmt nicht einer schusseligen Tagträumerin, die alles verlegt und nicht mehr findet.« Florel lachte über ihren aufgesetzt finsteren Blick und den Schmollmund.

»Na komm, gehen wir«, meinte er und legte den Arm um ihre Schulter.

Es war ein seltsamer Moment für Marlène, als sie Florel dabei zusah, wie er den Schlüssel ins Schloss steckte. Das Schlüsselloch war von Rost zerfressen. Marlène bangte, ob sich die Tür überhaupt noch öffnen ließ. Ein knackendes Geräusch gab ihnen Gewissheit, dass das Haus ihnen Eintritt gewährte.

Beinahe andächtig öffnete Florel die Tür nach innen und wies Marlène mit einer Handbewegung an, einzutreten. Erneut strich sie sanft über das Namensschild, das neben der Tür angebracht war. »Alice Havering«, las sie, trat über die Türschwelle und fand sich in ihrer Kindheit wieder.

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

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