Читать книгу Die vergangenen Tage auf Leden Hall - Susann Anders - Страница 8

4 Alice Havering

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»Wir sind da«, meinte Ben, nachdem er und Alice stundenlang wortlos nebeneinander hergetrottet waren und ihre Erschöpfung nur noch von ihrer Trostlosigkeit übertroffen wurde. Müde hob sie ihren Kopf und vergaß beim Anblick, der sich ihr bot, die Schwere der Glieder und das Knurren des Magens.

»Wo sind wir?«, fragte Alice und zeigte mit ihrer von Schmutz überzogenen Hand auf den prächtigen Landsitz, der in einiger Entfernung vor ihnen lag. Eine üppige Parkanlage verdeckte einen Großteil des Gebäudes, und doch war zu erkennen, dass hinter all den Baumstämmen und dem dichten Laub ein stolzer Bau thronte. Langsamen Schrittes gingen sie näher, vorsichtig, damit niemand ihre Anwesenheit wahrnehmen konnte.

Alice strich sich wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht und lugte ungläubig hinter einer mit Moos überwachsenen alten Eiche hervor. »So etwas Schönes habe ich noch nie gesehen«, sagte sie staunend und ließ ihre Blicke von den mit Efeu umrankten Fenstern im Untergeschoss bis hoch zu den Dachgiebeln wandern. Um das Gebäude waren gepflegte Rosenbüsche angelegt, die für den Winter sorgsam gestutzt worden waren. Nachdem sie sich weiter genähert hatten, erkannte sie die feinen Schnörkel, welche die Giebel im Obergeschoss zierten. Die Mauern waren aus naturbelassenem Stein hochgezogen und verliehen dem Bauwerk einen herrschaftlichen Ausdruck.

»Wer wohnt hier?«, fragte Alice flüsternd und wagte kaum, ihren Blick vom Herrenhaus loszureißen.

Ben legte schützend den Arm um ihre Schultern und drückte sie an sich.

»Das ist dein neues Zuhause«, sagte er und schluckte fest.

»Wie meinst du das?« Alice schüttelte ungläubig den Kopf und blickte mit großen Augen hoch zu Ben. Noch bevor dieser weiterzureden vermochte, erkannte sie an den aufsteigenden Tränen in seinen Augen, dass seine Antwort nichts Gutes verheißen würde.

»Das ist das Haus der Bells«, flüsterte Ben, um das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

Alice öffnete den Mund vor Verwunderung. Ja, sie kannte die Bells aus Erzählungen. Sie waren eine angesehene Familie, die abgeschieden auf ihrem Gut lebte, unantastbar und von allen respektiert.

»Vater hat oft von ihnen erzählt, weißt du noch?«, fragte Ben und drückte Alice einen Kuss aufs Haupt. »Die Bells gelten als gütige Herrschaften, du wirst es hier gut haben, glaub mir.«

»Du meinst, sie nehmen uns bei sich auf?«

»Dich, kleine Schnecke, dich nehmen sie auf«, erwiderte Ben, schniefte lautstark und wischte sich mit dem Handrücken die gerötete Nase trocken.

Alice schüttelte ungläubig den Kopf und blickte zwischen Ben und dem Herrenhaus hin und her. »Ich allein? Aber das geht doch gar nicht«, wimmerte sie und klammerte sich mit ihren zierlichen Fingern an Bens Unterarm.

»Natürlich geht das.« Er nahm Alice’ zartes Gesicht in beide Hände und nickte ihr aufmunternd zu.

»Du musst mitkommen!«, forderte sie ihn auf.

»Zu zweit haben wir nie und nimmer eine Chance. So segensreich die Familie Bell auch ist, gleich zwei fremde Mäuler zu stopfen würde jede Mildtätigkeit übersteigen. Glaub mir, wenn wir zu zweit vor ihrer Pforte um Einlass betteln, dann werden wir zeternd weggeschickt. Aber ein kleines Mädchen wie dich, werden sie aufpäppeln und umsorgen.«

Alice begann herzzerreißend zu weinen und drückte sich eng an Bens schmalen Oberkörper. »Nein, ich bleib bei dir!«, wimmerte sie.

»Jetzt hör mir mal zu!« Bens Ton wurde mit einem Mal streng und forsch. Lieblos packte er sie an den Schultern und schüttelte sie kräftig. »Ich allein kann mich mit kleinen Arbeiten durchschlagen. Drüben in Portsmouth wird eine neue Brücke gebaut. Wenn ich Glück habe, nehmen die mich. Das Geld wird für mich reichen, aber für uns beide, Schnecke, langt es mit Sicherheit nicht. Ich kann mich unmöglich um dich kümmern, selbst wenn ich es möchte.«

»Aber du möchtest es nicht, habe ich recht?« Alice’ Blick war getrübt von Tränen. Sie sah nur noch, dass Bens Lippen sich stetig bewegten, aber ihr eigenes Schluchzen war so laut, dass es jedes seiner Worte übertönte.

»Es gibt keine andere Möglichkeit, verstehst du?« Doch Alice verstand nicht. Sie weinte und schluchzte und krallte sich an seinen Jackenärmeln fest. »Sei endlich still!« Bens hilfloser Schrei donnerte zwischen den alten Eichen und brachte Alice mit einem Mal zum Schweigen.

Erschrocken sah sie ihren Bruder an und wusste plötzlich, dass es kein Entkommen gab. Das Leben würde erneut eine schicksalhafte Wendung nehmen, und auch dieses Mal erbat niemand ihre Zustimmung.

»Mutter ist tot, und nun soll ich obendrein dich verlieren?«, fragte sie und biss sich kräftig auf die Lippen, um nicht wiederholt laut aufzuschluchzen.

»Du verlierst mich nicht! Ich werde dich besuchen, wann immer ich kann«, versprach Ben und ging vor Alice auf die Knie. Klein und zerbrechlich stand sie vor ihm, bettelte mit ihren Blicken um seinen Schutz, und doch wusste sie, dass kein Flehen und kein Schluchzen den bevorstehenden Abschied verhindern konnte. »Warum bist du eigentlich so sicher, dass die Bells mich bei sich aufnehmen? Was, wenn sie mich wieder wegschicken? Was wird dann aus mir?«, wimmerte Alice und fröstelte bei dem Gedanken vor Angst.

»Das wird nicht passieren, du wirst sehen.« Ben zog sie an sich und drückte sie mit all seiner Liebe und all seiner Verzweiflung. »Es wird dir dort gefallen«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Danach entließ er sie aus seiner Umarmung und stand auf. »Geh jetzt!« Mit einem Blick, der sagte, dass alles gut werden und er sie immer in seinem Herzen tragen würde, nickte er ihr zu und drängte sie sanft von sich.

Alice schüttelte den Kopf und blieb trotzig stehen.

»Kleine Schnecke, geh jetzt! Klopf an die hintere Pforte und bitte um Einlass. Ich bleibe noch eine Weile hier und warte ab, was passiert. Sollte man dich verstoßen, fällt uns ein anderer Plan ein, ja?«

Diese Option flößte Alice Hoffnung ein. Sie nickte kräftig, bevor sie sich umdrehte und tapfer durch den Park zum Herrenhaus stapfte. Während der Abstand zu Ben immer unerträglicher wurde, gewann das Herrenhaus stetig an Größe. Alice legte ihren Kopf in den Nacken und bestaunte ehrfürchtig den herrschaftlichen Bau. Zaghaft ging sie voran, drehte sich immer wieder zu Ben um, der zwischen den Baumriesen stand und ihr ermutigend zunickte. Bei dem Gedanken, dass die Möglichkeit bestand, ihn nie wiederzusehen, schnürte sich ihre Kehle zu.

Eine Stimme in ihrem Kopf beschwor sie, sich nicht von ihm zu trennen und das Band, welches das Leben zwischen ihnen geknüpft hatte, nicht zu zerreißen. Aber Alice wusste, dass Ben recht behalten würde, er sich unmöglich um sie beide kümmern konnte und sie hier gut aufgehoben war.

Alice’ Herz überschlug sich vor Aufregung, als sie an der Hinterpforte des Herrenhauses klopfte. Für einen kurzen Moment waren der Tod ihrer Mutter und Bens Abschied vergessen. Es gab nur noch die dunkelgrün getünchte Tür mit dem verschnörkelten Messinggriff, von dem Alice nicht wusste, ob sie wollte, dass er sich bewegte. Freilich hatte Ben recht, wenn er sagte, dass sie hier eine Chance auf eine bessere Zukunft hatte, andererseits wünschte sie sich sehnlichst die Nähe zu dem letzten Vertrauten, der ihr geblieben war.

Der Türgriff rührte sich auch nach dem zweiten Klopfversuch nicht. Hilfesuchend blickte Alice um sich. Kein Ben weit und breit. Vermutlich hatte er sich hinter den Bäumen versteckt. Er würde nicht gehen, schließlich hatte er versprochen, zu warten. Alice schauderte bei dem Gedanken, dass er dennoch verschwunden sein könnte, und fühlte, wie Panik in ihr hochstieg. Ihre Hände begannen zu zittern und ihre Zähne klapperten. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und Ängste. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl von freiem Fall. Es gab nur noch sie und das Leben, das in einer steilen Klippe mündete und sie haltlos in die Tiefe stieß. Da war niemand, der sie festhielt, der sie tröstete und in den Arm nahm. Da waren nur noch sie und das Schicksal, das kein Mitleid mit ihr kannte.

»Ben!«, flüsterte sie und ließ ihren Blick erneut durch den Park wandern. »Wo bist du?«, rief sie und erschrak über das Zittern in ihrer Stimme. »Ben!«, schrie sie und drückte sich verängstigt gegen die grüne Tür. Die großen Eichen, die den Park zierten, wirkten mit einem Mal gewaltiger als vor wenigen Augenblicken und schienen ihr bedrohlich näher zu rücken.

»Ben!«, kreischte sie fast hysterisch und spürte heiße Tränen auf ihren Wangen.

»Was zum Teufel ist denn da draußen los?« Eine keifende Stimme drang aus dem Inneren des Hauses, und noch bevor Alice reagieren konnte, öffnete sich die Tür und nahm ihr jeden Halt. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, fühlte sie einen dumpfen Schmerz an Rücken und Hinterkopf. Dann legte sich eine dunkle Stille um Alice und erlöste sie von ihrer Pein.

»Es tut mir leid, gnädige Frau, dass ich Sie damit behellige, aber ich weiß nicht, was ich mit dem Kind anfangen soll.«

»Sie stand einfach an der hinteren Pforte, sagst du?«

»Ja, geschrien hat sie wie eine Irre, und als ich die Tür öffnete, ist sie rücklings ins Haus gefallen. Seitdem regt sie sich nicht mehr.«

»Sie ist völlig abgemagert, und sieh dir nur ihre Kleider an. Selbst ihr Geruch ist eine Zumutung.«

»Dann bringen wir sie am besten ins Waisenhaus, nicht wahr, gnädige Frau?«

»Ins Waisenhaus? Ja, vermutlich sollten wir das. Andererseits …«

»Was meinen Sie, gnädige Frau?«

»Andererseits könnten wir sie auch hierbehalten. Unter deinen Fittichen würde aus ihr gewiss ein brauchbares Dienstmädchen.«

„Was, wenn sie jemand vermisst?“

„Kein Mensch vermisst so eine armselige Kreatur.“

„Da haben Sie wohl recht, gnädige Frau.“

Alice war nicht sicher, ob sie träumte oder die beiden Stimmen real waren. Erst als eine kühle Hand über ihre Wange strich, öffnete sie langsam die Augen und blickte in zwei Gesichter, die ihr entgegenstarrten.

Noch bevor sie in der Lage war, ein Wort über die Lippen zu bringen, wurde sie von dem Prunk, der sie umgab, überwältigt. Das Canapé, auf das man sie gelegt hatte, war mit kostbarstem, in Roséfarben gehaltenem Brokat bezogen. Das Kissen, auf dem ihr Kopf lag, schien golden zu schillern. Als Alice hochschaute, sah sie feinsten Stuck an der Decke, dessen Schönheit sie ihre Kopfschmerzen vergessen ließ.

»Kind, kannst du mich hören?« Eine forsche Stimme riss sie aus dem Zustand des Staunens. Sie nickte der Dame in der weißen Bluse mit Spitzenbesatz zu und bewunderte das haselnussbraune Haar, das in gleichmäßig gelegten Wellen, das Gesicht umrahmte. Die Frau trug eine dezente Schicht Puder und feines Rouge, das farblich mit dem Lippenstift harmonierte. Hierbei konnte es sich nur um Mrs Bell handeln.

»Wie heißt du, und was machst du hier?«, fragte die vornehme Dame und klang dabei ein wenig kühl.

Alice wollte ihr zu gerne antworten, um die Herrin des Hauses nicht zu enttäuschen, aber sie vermochte kein einziges Wort zu formen. Allein der Gedanke an ihre verstorbene Mutter und an Ben entriss ihr einen tiefen Schluchzer.

»So beruhig dich doch, Kind!«, schalt die Frau im Hintergrund. »Die gnädige Frau hat dich etwas gefragt, also hast du zu antworten!«

»Schscht!«, zischte Mrs Bell und gab ihrer jungen Angestellten mit einem abweisenden Wink zu verstehen, dass sie sich zurückzuhalten habe.

»Mein Name ist Alice Havering. Mein Bruder hat mich hierhergebracht«, erzählte Alice schüchtern.

»Warum hat er das getan?«

»Weil …« Alice wagte es kaum, den Satz zu Ende zu sprechen. »Weil ich hier leben soll.«

»Wie bitte?«, mischte sich die Angestellte erbost ein.

»So halt doch den Mund«, fauchte die gnädige Frau überraschend forsch zurück. »Also, Mädchen, erklär mir bitte genau, was du damit meinst«, fuhr Mrs Bell fort.

Alice setzte sich auf und griff sich mit einer Hand an den schmerzenden Hinterkopf. »Mama ist vor ein paar Tagen gestorben, und wir dürfen nicht mehr in unsere Wohnung. Wir haben überhaupt kein Geld und mussten auf der Straße schlafen. Und dann hat Ben gesagt, dass ich hier an der Pforte klopfen soll. Und wenn ich Glück habe, hat er gemeint, kann ich hierbleiben. Aber ich habe sicher kein Glück, oder? Sie schicken mich wieder weg, habe ich recht?« Alice’ Stimme nahm an Verzweiflung zu, ihre Tränen bahnten sich den Weg über die blassen Wangen und tropften auf das mit Goldfäden bestickte Kissen.

Mrs Bell legte ihre Stirn in Falten und biss sich auf die Unterlippe.

»Wenn ich ehrlich bin, dann wäre ich nicht böse, wenn sie mich wegschicken. Vielleicht will ich auch gar nicht hier leben. Ich kenne Sie doch gar nicht.« Alice vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

»Wir sollten sie doch ins Waisenhaus bringen, dort wird man sich angemessen um sie kümmern«, mischte sich die Angestellte erneut ein und war kurz davor, Alice am Arm zu packen und vom Canapé zu ziehen.

»Lass das!« Mrs Bell klopfte der wohlgerundeten Haushälterin auf die Finger, als wäre sie ein unartiges Kind. »Das Mädchen bleibt vorerst hier, das hatten wir bereits besprochen.« Dann wandte sie sich Alice zu und meinte: »Du bleibst hier, hörst du? Dein Bruder hatte recht: Bei uns wird es dir gut ergehen. Rose wird dich in einem angemessenen Zimmer einquartieren. Dort darfst du zu Kräften kommen. Und nun steh auf, nicht dass du meine neuen Kissen beschmutzt. Rose, sie soll ein Bad nehmen. Dann gibst du ihr Kleidung – sie hat bestimmt dieselbe Größe wie Hazel.« Mit diesen Worten stand Mrs Bell auf und verließ den Raum.

Kaum hatte die Hausherrin das Zimmer verlassen, eilte Rose forschen Schrittes auf Alice zu. »Manchmal verstehe ich die gnädige Frau nicht. Als ob ich nicht schon genug Arbeit hätt. Jetzt kann ich mich auch noch um ein halb verhungertes, schlecht erzogenes Balg kümmern. Aber ich werde dir schon zeigen, wie man sich zu benehmen hat.«

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

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