Читать книгу Die vergangenen Tage auf Leden Hall - Susann Anders - Страница 6

2 Alice Havering

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Dunkle Wolken hingen bedrohlich vom Himmel und schickten schwere Regentropfen auf ihre Reise bis hinab ins offene Grab von Alice’ Mutter. Jeder einzelne trommelte auf den Holzsarg, als wollte er wecken, was nicht mehr zu wecken war.

Nicht so laut, sonst stört ihr Mamas Schlaf, dachte Alice. Ihr graues Kleidchen war vom Regen durchnässt, und ihre Schultern zitterten vor Kälte und Verzweiflung. Sie starrte auf den Sargdeckel, der das ruhende Gesicht der blutleeren Mutter verdeckte, und fragte sich, ob sie die verhängnisvolle Tat hätte verhindern können. Hätte sie mit ihren neun Jahren fühlen müssen, was langsam, aber stetig in den Gedanken ihrer Mutter herangereift war und sich genährt hatte an ihrer tristen Schwermütigkeit? Alice hatte keine Antwort, nur diese schrecklichen Bilder in ihrem Kopf, die in einer Endlosschleife das mit Blut vollgesogene Laken, die aufgeschlitzten Unterarme und den leeren Blick der Mutter zeigten. Und als sie nachdachte über den Tod, das Blut, die Tränen und den schweren Druck auf ihrem Brustkorb, sah sie es vor sich, das Gesicht der Mutter. Da war er wieder, dieser trübe Blick, der sein kaltes Grau aus jeder ihrer Poren auszustrahlen schien. Klar und deutlich sah Alice die Miene vor sich, in der sich die Qualen von Mutters gesamtem Leben spiegelten. Die alleinige Sorge um Geld und Kinder, die heruntergekommene Wohnung, der Hunger, der zur Gewohnheit geworden war, die Hoffnungslosigkeit, weil sich nie etwas ändern würde. Ja, es war die Hoffnungslosigkeit, die sich an Mutter gekrallt, ihr jedes Fünkchen Mut ausgesaugt hatte. Alice wimmerte laut auf, glaubte für einen Moment, die Schwere, die stets auf den Schultern ihrer Mutter gelastet hatte, auf ihren eigenen zu fühlen. Die Last zwang sie beinahe in die Knie. Nur mühsam konnte Alice gegen das bleierne Gefühl ankämpfen. »Nein!«, schluchzte sie energisch und zog die Blicke der wenigen Trauergäste auf sich. Voller Scham senkte sie den Kopf und spann ihre Gedanken leise weiter: Nein, mein Leben wird nicht so enden wie deines, Mama. Mein Leben wird erfüllt sein von Glück, Liebe und Lachen. Für mich werden Vögel zwitschern und Rosen duften. Weder Einsamkeit noch Verzweiflung noch Sorge sollen mich auf meinem Lebensweg streifen.

Der Regen tropfte auf den zu großen schwarzen Hut mit Spitzenaufputz, den ihr die Nachbarin geliehen hatte. Die Wolken zogen schwerfällig über den Himmel. Der Totengräber schaufelte mit lustlosem Blick den Erdhaufen ins offene Grab. Der ältere Bruder Ben neben ihr weinte bitterlich und vergrub sein Gesicht in beiden Händen.

Alice blickte ungläubig auf den Sarg der Mutter. Gleich wäre er für immer verschwunden von dieser Welt. Alles, was ihr bliebe, wären Erinnerungen an ihre geschundenen Finger, den ausgemergelten Körper und den verhärmten Gesichtsausdruck.

Es war ein kalter Vormittag im Oktober 1932, an dem sich Alice hoch und heilig schwor, glücklich zu werden und nicht so zu enden wie ihre Mutter.

Eine Krähe thronte laut krächzend über ihr auf der alten Eiche, und Alice nahm die Schreie des Vogels als Mahnung, ihren Schwur ernst zu nehmen.

»Komm, lass uns nach Hause gehen«, sagte Ben und riss sie damit aus ihren Gedanken.

Wortlos nickend schloss sie sich ihrem Bruder an und wandte sich nach einem letzten Blick vom Grab der Mutter ab.

Schweigsam verließen sie das unscheinbare Waldstück hinter dem Friedhof auf dem Cowgate Hill, auf dem der Priester die Bestattung ihrer Mutter gestattet hatte. Gesenkten Hauptes stapften sie zurück in ihre Wohnung in der Folkstone Road. Sie waren erleichtert, dass sie aufgrund der schlechten Wetterverhältnisse kaum jemanden auf den Straßen antrafen und von mitleidigen Blicken weitestgehend verschont blieben. Schließlich hatte sich der Tratsch um den Selbstmord rasch verselbstständigt und war bereits in aller Munde. Nur eines war dabei völlig in Vergessenheit geraten: Alice und Ben, die ab sofort sich selbst überlassen waren.

»Wir schaffen das schon«, ermutigte Ben sie und legte fürsorglich den Arm um ihre Schulter, als sie mutlos vor ihrer Tür standen und es kaum wagten, einen Schritt in die verwaisten Zimmer zu setzen.

»Da seid ihr ja«, meinte der Vermieter mit harscher Stimme.

»Was macht er in unserer Wohnung?«, flüsterte Alice Ben zu und wischte sich eine ihrer blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Was er hier macht, willst du wissen?« Der große, grauhaarige Mann kam auf sie zu und beugte sich bedrohlich zu ihnen herab. »Er ist auf der Suche nach dem Geld, das ihm eure Mutter noch schuldet.« Der Gestank aus dem Mund des Alten war ebenso widerlich wie die vergammelten Reste seiner Zähne.

Alice sah sich gezwungen, eine Hand schützend vor ihre Nase zu halten, wenn sie sich nicht mitten im Flur übergeben wollte. Ben stellte sich mit breiten Schultern vor sie und versuchte, sich zu behaupten.

»Ihr verlasst noch heute mein Eigentum, hört ihr? Ihr habt meine Wohnung schon viel zu lange mit eurer erbärmlichen Anwesenheit versifft.«

Die Worte des Vermieters trafen Alice hart – da half selbst die schützende Gebärde Bens nichts, der sich vor ihr zu seiner vollen Größe aufgebäumt hatte.

»Was willst du halbe Portion?«, fauchte der Alte hämisch und gab Ben einen groben Klaps auf den Hinterkopf. »Geht einfach, bevor ich mich vergess.« Er wies ihnen den Weg zum Ausgang.

»Aber unsere Sachen«, wimmerte Alice und fühlte Tränen über ihre Wangen perlen.

»Es gibt hier nichts, das euch gehört«, zischte er und ballte die Fäuste zu einer drohenden Geste.

Alice kämpfte gegen das Gefühl ihrer Wut an und zeigte sich gespielt freundlich. »Wenigstens unsere Kleider müssen Sie uns lassen!«, flehte sie.

Der Vermieter schien einen Augenblick zu überlegen, dann strich er über sein unrasiertes Kinn und verneinte. »Geht jetzt! Sofort!« Mit diesen Worten schob er sie mühelos zur Tür hinaus.

»Bitte, haben Sie Erbarmen mit uns!«, wimmerte Ben und kämpfte gegen die klobigen Hände an.

»Erbarmen? Dass ich nicht lache.«

Ben bebte am ganzen Körper und sein Gesicht strahlte eine Zorneskälte aus, wie Alice sie noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Er ballte seine Fäuste und öffnete den Mund. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, war die Tür hinter ihm krachend ins Schloss gefallen und überließ ihn und Alice im finsteren Flur ihrem Schicksal.

»Wir finden schon eine Bleibe für heut Nacht«, tröstete Ben sie, nahm sie an der Hand und verließ mit hängenden Schultern das Haus. Alice schluchzte und schniefte verzweifelt vor sich hin.

»Mein Teddy«, wimmerte sie und schloss ihre Augen fest vor der Wahrheit.

Unvermittelt blieb Ben stehen und kniete sich vor Alice, nahm sie an beiden Händen und schluckte. »Wir werden einen anderen Teddy für dich finden, das verspreche ich dir.« Bens Stimme zitterte und seine Augen füllten sich mit Tränen. Alice wusste, dass er es nur gut mit ihr meinte, dennoch konnte sie sich nicht beruhigen. Der heutige Tag hatte ein hartes Urteil über ihre gesamte Zukunft gefällt. Nicht nur, dass sie ihre Mutter zu Grabe getragen hatten, mit ihrer Wohnung hatten sie ihre gesamte Habe verloren.

»Ich will nur meinen Teddy«, schluchzte Alice. Und während sie mit dem Ärmel ihrer zerschlissenen Jacke die Wangen trocken wischte, dachte sie daran, dass ihr Leben nun genau so grau und bedrohlich war wie die Wolken, die unheilvoll über ihrem Kopf dahinzogen. Es war ein kalter Abend, der Alice frösteln ließ. Und insgeheim wusste sie, dass es noch kälter werden würde.

»Dein Teddy? Es tut mir leid, aber …« Ben brach den Satz ab und blickte sie mit seinen großen haselnussbraunen Augen an. Dann senkte er sein Haupt und legte seine Stirn in tiefe Falten. »Warte hier!«, befahl er Alice und bedachte sie mit einem strengen Blick, bevor er zurück ins Haus eilte.

Wie versteinert verharrte Alice vor dem Treppenportal und beobachtete ihren Bruder, der stürmenden Schrittes durch die Haustür schlüpfte. Sie wagte es kaum zu atmen, starrte gebannt auf die Tür und hoffte, dass sie Ben erneut zum Vorschein bringen möge. Nun war sie ganz allein. »Ben?«, hauchte sie und rieb sich fröstelnd beide Oberarme. »Ben!«, rief Alice ein weiteres Mal und blickte verstohlen hinter sich in die menschenleere Straße. Langsam erwachte sie aus ihrer Starre und tappte zur Eingangstreppe. Vorsichtig öffnete sie die Tür und lauschte. Etwas entfernt hörte sie eine grölende Männerstimme und gedämpftes Poltern.

»Ben?«, fragte Alice ängstlich in das vereinsamte Treppenhaus, das ihr noch nie größer erschienen war als in diesem Augenblick.

»Schnell, raus hier!« Ben rannte die Treppen herunter und übersprang in seiner Hast jeweils eine Stufe. »Komm schon!« Er packte sie am Handgelenk und zerrte sie hinter sich her.

»Wenn ich dich erwisch!«, brüllte der Vermieter vom ersten Stockwerk herab.

Alice drehte sich um und blickte in sein zornentbranntes Gesicht. Seine Hände hielt er zu Fäusten geballt in die Luft und drohte den beiden. »Diebe seid ihr! Ins Gefängnis gehört ihr! Verbrecher!«

Ben reagierte nicht auf die Vorwürfe, die mit jedem gelaufenen Schritt an Kraft verloren. Beide keuchten sie vor Anstrengung und Aufregung, dennoch behielten sie ihr Tempo bei. Rannten vorbei an den Nachbarhäusern, deren Dächer bedrohlich auf sie herablugten, und vorbei am Bäckerladen an der Ecke, aus dem es wie immer nach frischem Brot roch. Sie drosselten ihr Tempo nicht, rannten davon vor dem Elend und jeder Sorge um die nahende Zukunft. Ben hielt erst inne, als Alice über einen hervorstehenden Pflasterstein stolperte und schreiend zu Boden stürzte.

»Alice, hast du dich verletzt?«, fragte er nach Luft ringend. Sein Gesicht war erhitzt und auf der Stirn standen kleine Schweißperlen.

»Ja. Nein. Es ist alles in Ordnung.«

»Lass mich sehen.« Mit zitternden Fingern schob er ihren Rock hoch und untersuchte ihre Knie nach Schürfwunden. Dann drehte er ihre Handflächen nach oben und begutachtete beide sorgfältig. Zum Schluss hob er mit einem Finger ihr Kinn an und besah mit sorgenvoller Miene ihr Gesicht.

»Ben, warum bist du vor dem Vermieter davongelaufen?«, fragte sie und wischte sich mit ihren kleinen Händen die blonden Strähnen aus der Stirn.

»Weil …« Ben schluckte und hielt Alice ihren Teddy unter die Nase. Ihr Herz überschlug sich vor Freude, als sie nach dem geliebten Kuscheltier griff und es achtsam hin- und herwiegte.

»Das war eine gute Idee, oder?«, fragte Ben und zwinkerte Alice ermutigend zu.

»Die beste!«, versicherte sie und seufzte erleichtert auf.

In diesem kostbaren Augenblick hatten sie nicht nur den Vermieter vergessen, sondern auch die Tatsache, dass es dämmerte und es ungewiss war, wo sie die Nacht zubringen sollten.

Die vergangenen Tage auf Leden Hall

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