Читать книгу Sex & Achtsamkeit - Susanna-Sitari Rescio - Страница 9

1 Achtsamkeit

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1.1 Was bedeutet Achtsamkeit?

Viele moderne therapeutische Ansätze haben Achtsamkeit in ihre Verfahren integriert, ist doch das Erlernen und Praktizieren dieser Art der Wahrnehmung ein wichtiges Werkzeug u. a. für die Bewältigung stressbedingter psychosomatischer Störungen.6 Auch der körperorientierte Ansatz, der in diesem Buch die zentrale Methode darstellt, beruht auf der Schulung der Achtsamkeit, d.h. der Wahrnehmung der körperlichen Empfindungen und entsprechend der inneren Gefühle und Gedanken, die sich im Zusammenhang mit sexueller Erregung entfalten.7 Daher wird der Begriff „Achtsamkeit“ hier in einer ganz bestimmten Bedeutung verwendet, die sich an die östliche Meditationspraxis anlehnt.

Achtsamkeit ist die stille, liebevolle, wertfreie Wahrnehmung dessen, was gerade ist, und weniger dessen, was sein sollte. Gleichzeitig ist sie eine innere Haltung, die wir uns mit der Zeit und zunehmender Praxis zu eigen machen können und die uns diese besondere Art der Wahrnehmung ermöglicht.

Achtsamkeit erfordert einen Blick, der auf den gegenwärtigen Augenblick gerichtet ist. Sie ist hier und jetzt und nicht dort und damals. Sie ist nüchtern und frei von Illusionen und Projektionen, gleichzeitig tolerant und offen.

Darüber hinaus ist Achtsamkeit ein Prozess, ein Kontinuum an Erkenntnissen und Gefühlen, Stimmungen und Empfindungen, Erinnerungen und Sehnsüchten, die wir zunehmend aus einer inneren Beobachter-Position wahrzunehmen lernen, ohne dass der ständige Fluss der Emotionen und Gedanken uns hin- und herreißt. In dieser Haltung erleben wir eine plötzliche Stille, so ähnlich, als säßen wir im Auge eines Sturmes: Um uns herum tobt es wild, doch wir bleiben innerlich still, fühlend, nicht wertend, frei. Achtsamkeit erlaubt uns, den alltäglichen „Autopiloten“ zu verlassen und Zeugen unserer Erfahrungen zu werden.

Um Achtsamkeit zu lernen, sollten wir uns von der Illusion befreien, dass die Lösung unserer Probleme im Außen liegt. Wir müssen nach und nach unsere Projektionen auf andere Menschen als die von uns auserwählten Erfüller unserer Träume und Fantasien oder als die „Wiedergutmacher“ all dessen, was in unserem vorherigen Leben nicht gut gelaufen ist, zurücknehmen.

Achtsamkeit hat mit der Fähigkeit zu tun, im Hier und Jetzt fest verankert zu sein. Präsenz und die größtmögliche Aufmerksamkeit für das, was gerade ist, erschließen uns einen ungeahnten Reichtum an Intensität und Tiefe. Insofern hat Achtsamkeit auch mit Bewusstheit zu tun. In der Meditationspraxis z. B. geht es darum, sich Schritt für Schritt des eigenen Körpers und des Atems, der eigenen Gedanken sowie der Stimmungen und Gefühle, die unser Herz bewohnen und berühren, bewusst zu werden. Achtsamkeit lehrt, mehr in Kontakt mit sich selbst zu treten, sich selbst wahrzunehmen, den Fokus auf die eigene Befindlichkeit zu lenken und dadurch die teils unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Stimmen in sich kennenzulernen und sie „sein“ zu lassen. Diese wohlwollende Haltung erlaubt uns, viele Aspekte unserer aktuellen Situation und unserer Geschichte aus einer anderen Perspektive zu betrachten und sie anzunehmen, statt gegen sie anzukämpfen.

Achtsamkeit bedeutet auch, sich Zeit zu nehmen, den Lebensrhythmus zu verlangsamen, weniger zerstreut zu sein und mit Bedacht auszuwählen, was wir wirklich wollen und brauchen. Diese „Entschleunigung“ ist auch der Schlüssel zu unseren Gefühlen, denn Gefühle brauchen Zeit und keinesfalls Hektik, um spürbar zu werden. Über unsere Gefühle kommen wir in Kontakt mit unseren Wünschen und Bedürfnissen und können sie schließlich erfüllen. Wirkliche, bereichernde Veränderungen können nur dann stattfinden, wenn wir genau fühlen und hinsehen, was uns belastet, anstatt drückende Gedanken und Gefühle durch Überaktivität und Ablenkungsmanöver zu überspielen und zu verdrängen. Wenn wir nicht mehr im Autopilot wie ferngesteuert agieren, sondern tief durchatmen und wirklich fühlen, was gerade um uns herum und in uns passiert, ermöglicht uns Achtsamkeit den Weg zu größerer innerer Freiheit und zur Klärung konfliktbeladener Themen.

In der Art und Weise wie wir z. B. auf den Partner reagieren, sind wir oft nicht wirklich frei. Wir handeln nicht aus einem bewussten Entschluss heraus. Vielmehr erleben wir diesen Moment oft so, als würde uns eine bestimmte Reaktion geradezu zwingend überkommen. Und wir glauben, nicht anders als auf genau diese Weise reagieren zu können. Die Entschleunigung der Reaktion auf einen bestimmten Reiz ist der Schlüssel, um sich aus dem Gefängnis festgefahrener Verhaltensmuster zu befreien.8 Denn in dieser Zeit der Verzögerung zwischen Reiz und Reaktion können wir spüren, was sich in unserem Körper auf diesen (von außen einwirkenden) Reiz hin verändert. Welche Empfindungen nehmen wir wahr, wenn der Partner sich z. B. mit sexuellen Wünschen an uns wendet? Oder was genau passiert, wenn wir sexuell erregt sind, aber der Körper plötzlich streikt und die Erregung verschwindet? Halten Sie einen Moment inne und überlegen Sie:

• Wie verändert sich die Atmung, wie die Spannung im Körper? Gibt es Bereiche, die stärker angespannt sind als andere?

• Wird Wärme oder Kälte im Körper spürbar?

• Was passiert auf der mentalen Ebene, was für Gedanken tauchen auf? Was bewirken diese Gedanken auf der körperlichen Ebene?

• Wie verändert sich die Stimmung?

• Welche Handlungsimpulse nehmen wir wahr?

• Welche inneren Entschlüsse treffen wir in Bezug auf diese Erwartung?

• Was nehmen wir von unserem Partner wahr?

Wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, bewusst zu fühlen, reagieren wir u. U. so, wie wir schon immer reagiert haben, wie wir „es von uns kennen“, wenn uns jemand auf eine bestimmte Art oder auf ein bestimmtes Thema anspricht oder sich etwas in uns plötzlich verändert: vielleicht mit innerer Migration und Rückzug, mit Verlegenheit und Resignation oder mit aggressiven Vorwürfen, Wut und Kritik.

Achtsam sich selbst gegenüber zu sein bedeutet also in diesem Fall, sich Zeit zu nehmen und in sich hineinzuhören und zu spüren. So verhindern wir, in ein automatisiertes Verhalten abzugleiten, und erlangen stattdessen die Freiheit, etwas Neues auszuprobieren, z. B. in einen ehrlicheren Austausch mit unserem Partner zu treten. Womöglich entdecken wir dann hinter unangemessenen Reaktionen tiefer liegende Gründe, z. B. hinter Resignation und Verlegenheit, die uns zum Rückzug drängen, die Angst nicht zu genügen und deshalb verlassen zu werden. Und hinter der Wut und den aggressiven Vorwürfen die Angst, nicht gesehen und nicht geliebt zu werden. In beiden Fällen würden wir die tiefe Sehnsucht nach einer sicheren emotionalen Bindung erkennen. Denn die Übung der Achtsamkeit verleiht uns auch die Fähigkeit, nicht nur uns selbst, sondern auch den Partner anders wahrzunehmen, als wir es gewohnt sind. Wir lernen mit der Zeit auch für ihn oder sie immer feinfühliger zu werden und seine oder ihre verschiedenen Motivationsebenen und Beweggründe besser zu erkennen und zu unterscheiden.

Achtsamkeit in der Sexualität hilft uns, genauer zu fühlen und zu verstehen, was wirklich passiert. Der „Erregungsprozess“, der sich, einmal ausgelöst, wie im Autopilot meist ohne bewusste Wahrnehmung (und entsprechend ohne Steuerungsmöglichkeit) abspielt, kann in seinen verschiedenen Phasen und Verstrickungen wahrgenommen werden. Die Zusammenhänge werden klarer und auf einmal wird das Gefühl spürbar, nicht länger dem eigenen Trieb oder dem des Partners ausgeliefert zu sein. Das eigene sexuelle Profil wird deutlicher, die Zentrierung in sich selbst nimmt zu. Aus einer solchen veränderten, inneren Position entspringt die Sicherheit, selbst bestimmen zu können.

Über Achtsamkeit kommen wir auch mit unseren sogenannten „Schatten“ in Berührung, d. h. all jenen Aspekten unserer Sexualität, die uns Unbehagen verursachen, weil wir sie als nicht passend, als unnormal und moralisch nicht vertretbar oder als nicht beziehungskompatibel empfinden. Durch Achtsamkeit erhalten sie die Möglichkeit, von uns „gesehen“ und in unser Leben integriert zu werden, sie können ihr Schattendasein aufgeben und müssen uns nicht mehr belasten.

Wie unmittelbar und direkt die Praxis der Achtsamkeit wichtig für die Lösung sexueller Probleme sein kann, zeigt folgendes Fallbeispiel:

Johannes ist ein Mann Anfang 40, seit 15 Jahren verheiratet, drei Kinder. Er kommt zu mir, weil er an frühzeitiger Ejakulation leidet. Der erste Eindruck von ihm ist der eines stark angespannten Mannes, der jeden Moment explodieren könnte. Seine Beine sind unruhig und die Füße tippen nervös auf dem Boden. Er erzählt, er habe sehr viel Stress bei der Arbeit. Auf meine Frage, ob er sich seiner Anspannung bewusst sei, antwortet er mit Nein, sagt aber, dass er einen Bandscheibenvorfall gehabt habe und oft an Spannungskopfschmerzen leide. Während der ganzen Jahre seiner Ehe – und auch davor – habe er das Problem gehabt. Bisher habe er sich „durchgemogelt“, doch nun spiele seine Frau nicht mehr mit und dränge ihn zu einer Lösung. Ich frage ihn, wie er merke, dass er erregt sei, was er bei Erregung im Körper spüre. Er antwortet, dass er sein steifes Glied spüre, das er dann auch anfasse, dass aber kurz darauf auch schon eine Entladung passiere. Auf die Frage, ob er die ersten Anzeichen von Erregung spüre, wenn das Glied noch nicht ganz steif sei, antwortet er negativ. Auch auf die Frage, ob er spüre, wie sich die Spannung in seinem Körper bei wachsender Erregung verändere, antwortet er ebenfalls negativ. Er sagt, er merke seine Erregung erst, wenn es schon fast zu spät sei.

In der Praxis lernt Johannes, die Empfindungen seines Körpers bei sexueller Erregung zunehmend differenzierter wahrzunehmen. Zu Hause praktiziert er weiter und nach einigen Sitzungen zeigen sich die ersten Erfolge. Johannes erzählt, dass er inzwischen klarer die verschiedenen Phasen seiner Erregung erkenne. Auf dieser Basis kann er nun die weiteren Übungen praktizieren, die ich ihm vorschlage, wodurch er im Laufe der folgenden Wochen seine Erregung besser regulieren und das Problem der frühzeitigen Ejakulation beheben kann.

1.2 Paul und Maria – eine Geschichte

Mit der folgenden Geschichte von Paul und Maria möchte ich das Beispiel eines automatisierten Reaktionsmusters beschreiben, wie es Hans Jellouschek in seinem Buch „Achtsamkeit in der Partnerschaft. Was dem Zusammenleben Tiefe gibt“ darstellt.

Normalerweise reagieren wir Menschen auf die „Reize“, die von außen oder von innen kommen, mit bestimmten bekannten Mustern, die sich in der Regel in einer Art „Autopilot“ abspielen. Das ist auch ganz gut und praktisch so! Denn wenn wir jedes Mal bewusst überlegen müssten, wie wir auf etwas reagieren sollen, würde zu viel Zeit verstreichen und unsere Reaktion wäre möglicherweise zu langsam und entsprechend inadäquat. Wenn wir allerdings einen Konflikt haben und auf die „Reize“ immer wieder automatisch und mit unseren herkömmlichen Verhaltensmustern reagieren, verpassen wir die Chance, eine Lösung für unsere Konflikte zu finden.

Ich möchte nun im Folgenden ein solches Verhaltensmuster darstellen und modellhaft erläutern, was sich in der beschriebenen Situation auf der psychischen Ebene der beiden Protagonisten abgespielt haben könnte. Dabei lassen sich die Rollen der beiden „Mitspieler“ vertauschen und das Erklärungsmodell ist auch auf andere Situationen anwendbar. Es hilft uns grundsätzlich, uns zu verdeutlichen, wie wir auf bestimmte Reize reagieren. Der Einfluss von Gedanken und Glaubenssätzen auf unsere Gefühle und Empfindungen, wie zum Beispiel Lust und Erregung, wird klar erkennbar.

Sie können auch ein eigenes Beispiel einer ähnlich konfliktbeladenen Kommunikation mit ihrem Partner auswählen und schauen, ob und wenn ja wie es Ihnen hilft, sich ihr eigenes Verhalten oder das Ihres Partners zu erklären. Beobachten Sie dabei möglichst genau, was in Ihnen vorgeht.

Paul ist bereits zu Hause. Er kommt meist vor seiner Partnerin Maria von der Arbeit zurück. Sobald auch Maria zu Hause ankommt, stürmt er freudig auf sie zu und berührt sie mit dem eindeutigen Wunsch, Sex mit ihr zu haben:

Paul: „Komm, ich habe so richtig Lust, ich brauch’ das jetzt!“

REIZ

Maria: „Schon wieder? Hast Du nichts Besseres zu tun?“

ÄUSSERE REAKTION

Daraufhin fühlt sich Paul nicht nur zurückgewiesen, sondern auch gekränkt, weil sein Wunsch nach Sex zusätzlich negativ bewertet und abgetan wird. Er zieht sich beleidigt zurück (Gegenreaktion) und äußert sich dabei ebenfalls eher unsensibel (neuer Reiz). Auf diese Weise verstricken sich die Partner immer mehr in ihren Konflikt und sind zuletzt beide erschöpft und unzufrieden.

Wie wäre es nun, wenn Maria und Paul dreimal tief durchatmen und sich die Zeit nehmen würden, um genau zu fühlen, was in diesem Moment mit ihnen passiert, welche körperlichen Reaktionen hervorgerufen werden, welche Gedanken sich bilden, wie sich die Stimmung verändert und wo genau der Partner steht?

Maria würde möglicherweise Folgendes spüren:

Ihr Magen verkrampft sich und es fühlt sich für sie an, als hätte sie einen Knoten in der Magengrube. Sie zieht die Schultern hoch und nach vorne und erstarrt in einer angespannten, nervösen Haltung. Der Nacken verspannt sich ebenfalls und sie presst die Zähne aufeinander. Diese Reaktion hat auch Auswirkungen auf ihre Atmung: Sie wird flacher und erreicht nicht mehr den unteren Bauch, da Maria dazwischen den „Knoten“ fühlt. Die flache Atmung unterbricht die Verbindung zwischen Kopf und Bauch, was ihr die Wahrnehmung ihres Beckens erschwert. Ohne Wahrnehmung des Beckens können sich aber kaum Lustgefühle entfalten!

Die Gedanken, die ihren Geist durchkreuzen, drehen sich um Aufgaben, die sie meint, erfüllen zu müssen. Es geht um Erwartungen, die auf ihren Schultern lasten und die wegzuschieben sie nicht in der Lage ist. Ihre primäre Stimmung ist geprägt vom Gefühl der Überforderung und der Unzulänglichkeit. Auch Scham und Nervosität schleichen sich ein. Dieser Gefühlsmix bedrückt sie und Lustlosigkeit breitet sich aus. Ihre Fantasie suggeriert ihr zu fliehen, möglichst weit weg von allen Verpflichtungen – und ihrem Partner!

Hinzu kommt die (nur halbbewusste) Wahrnehmung all dessen, was sie im Hintergrund auch noch beschäftigt: ihr Beruf, die Arbeit, von der sie gerade erst zurückgekommen ist. Der Tag war anstrengend, möglicherweise hat ihr Chef noch mehr Einsatz als bisher von ihr verlangt und mit schlimmen Konsequenzen gedroht, sollte sie eine bestimmte Deadline nicht einhalten. Sie befürchtet, den Erwartungen nicht gerecht werden zu können. Daraus resultiert schließlich ein Gefühl der umfassenden Unzulänglichkeit, nicht nur im Hinblick auf ihren Partner und die gerade entstandene Situation, sondern auch auf ihre Arbeit und schließlich ihren gesamten Tag betreffend. Dieses Gefühl kommt ihr nur allzu bekannt vor, scheint sie überall und immer zu begleiten.

Nähme sie sich noch einen Moment Zeit, um ihre Gefühle wahrzunehmen und sie zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen, könnte sie feststellen, dass sie sich bereits als Kind ähnlich gefühlt hat, z. B. wenn ihr Vater nach Hause kam und sie stark kritisierte, weil sie seine Erwartungen „mal wieder“ nicht erfüllt hatte. Maria könnte ihre Befindlichkeit auf drei Ebenen wahrnehmen: auf der physischen (die Symptome der körperlichen Reaktion), der mentalen (die Gedanken, die ihr durch den Kopf gehen bzw. die sie sich über die Situation macht) und der emotionalen (ihre Gefühle, ebenso die „akute“ Situation wie ihre gesamte Vergangenheit betreffend). Sich auf jeder dieser drei Ebenen zu spüren, hilft uns, im Hier und Jetzt verankert zu bleiben. Es hilft uns auch, unsere Befindlichkeit und mit ihr unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen, um achtsam und in Eigenverantwortung die nötigen Schritte zu tun, die eine Veränderung ermöglichen.

Und wie sieht es bei Paul aus? Er würde möglicherweise Folgendes spüren:

Sein Körper, der sich bis dahin warm und lebendig angefühlt hatte und von einer wohligen Erregungswelle erfasst war, erstarrt. Paul fühlt sich vollständig ausgebremst. Die freudige Erregung verschwindet, die Hautporen schließen sich, der Nacken versteift sich, Paul nimmt eine Abwehrhaltung ein.

Der Gedanke, den er nicht mehr loswird, ist: „Blöde Kuh! Nicht schon wieder so ’ne Abfuhr!“

Frustration und Enttäuschung, aber auch Wut und Unmut breiten sich bei ihm aus. Die ursprünglich freudige Stimmung hat ihn schlagartig verlassen und seine positive Energie ist erst einmal „in den Keller“ gesackt. In seiner Fantasie malt er sich eventuell aus, wie es wäre, seine Lust endlich frei ausleben zu können, statt immer wieder komplett ausgebremst zu werden. Vielleicht doch die attraktive Kollegin zum Lunch einladen?

Auch er hat noch die Eindrücke der letzten Stunden am Arbeitsplatz im Hinterkopf. Vielleicht wollte er dort endlich einen Vorschlag durchsetzen, der viele kreative Impulse beinhaltete und freie Entfaltung für ihn versprach. Die Kollegen waren aber der Meinung, ein etwas zurückhaltenderes Projekt wäre Erfolg versprechender. Da ihm dies nicht zum ersten Mal passiert, fühlt er sich vermutlich auch an seinem Arbeitsplatz immer wieder in seiner expansiven Lebendigkeit eingeschränkt und frustriert.

Auch Paul könnte sich an frühere Erfahrungen und zum Teil verdrängte Gefühle erinnern, z. B. wie er von seinen Eltern immer wieder gemaßregelt und wegen seiner überschießenden Vitalität gerügt wurde.

Ebenso wie für Maria wäre es auch für Paul hilfreich, sich der Zusammenhänge zwischen den drei Welten bewusst zu werden: der Ursprungswelt, der Welt aus der wir gerade kommen, und der gegenwärtigen Welt. Er hätte dadurch die Chance, aus seinen gewohnten Verhaltensmustern auszubrechen.

In der Interaktion zwischen Maria und Paul spielen nicht nur die Umstände der aktuellen Begegnung eine Rolle, sondern auch die Welten, aus denen sie in diesem Moment kommen – in diesem Fall bei beiden die Arbeit. Anstatt im Jetzt präsent zu sein, sind Sie innerlich noch sehr mit dem beschäftigt, was an diesem Tag passiert ist, ihre Gedanken und Stimmungen sind noch damit verhaftet – ähnlich wie ein Programm, das wir auf unserem Computer geöffnet haben und gerade nicht benutzen, im Hintergrund weiterläuft und möglicherweise das reibungslose Arbeiten am aktuellen Projekt verlangsamt bzw. behindert. Doch weder Maria noch Paul machen sich diese Tatsache bewusst und tragen ihr insofern in Art und Inhalt der Kommunikation mit dem Partner auch nicht Rechnung. Würden sie die Hintergründe ihres Handelns erkennen, könnten sie sich entscheiden, sich von diesen Gefühlen und Gedanken zumindest zeitweise innerlich zu distanzieren oder gar frei zu machen. Sie könnten ihnen die nötige Beachtung schenken und gerade dadurch selbstverantwortlich dafür sorgen, dass sie weniger störend im Hintergrund rumoren. Schon allein durch das achtsame Wahrnehmen dieses „Hintergrundrauschens“ könnten Paul und Maria dafür sorgen, dass es die Kommunikation mit dem Partner nicht negativ beeinflusst. Beide könnten sich freier und offener im Hier und Jetzt aufeinander einlassen.

Zudem spielt eine weitere „Schicht“ an Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen eine wesentliche Rolle in der Entstehung ihrer Befindlichkeit und hat schließlich einen Einfluss auf die Art ihrer Verhaltensmuster und Reaktionen. Es handelt sich um eine Ebene, die uns immer begleitet, ein weiteres „Programm“, das in der Tiefe läuft und mit unserem „Ursprungssystem“ zu tun hat, mit der Welt, in der wir aufgewachsen sind, der Welt unserer Primärbeziehungen.

Je mehr es uns gelingt, diese drei Momente – die aktuelle Begegnung mit unserem Partner (oder anderen Menschen), die Alltagswelt, aus der wir gerade kommen, und unsere Ursprungswelt – voneinander zu trennen und klar in ihrer jeweiligen Bedeutung zu erkennen, desto freier werden wir von eingespielten kontraproduktiven Verhaltensmustern. Die innere Distanz von dem, was „damals und dort“ war, schenkt uns Freiheit im „Hier und Jetzt“.

Auf dem Weg dorthin ist Achtsamkeit der erste Schritt, um überhaupt zu erkennen, welche (verschiedenen) Motive uns dazu bringen, auf die eine oder andere Weise zu reagieren. Gewiss lassen sich die tiefer liegenden Konflikte, etwa das Gefühl der Unzulänglichkeit, das Maria empfindet, oder das Gefühl, immer wieder in seiner Lebendigkeit gebremst zu werden, das Paul beschäftigt, noch nicht damit lösen, dass wir uns ihrer bewusst werden. Doch die Einsicht ist der Anfang der Veränderung.

Notwendigerweise kommt nun die emotionale Verarbeitung hinzu, die sehr schmerzlich sein kann und deshalb oft gemieden wird. Plötzlich wird uns nämlich klar, warum sich bei bestimmten „Reizen“ ein automatisiertes Verhalten einschaltet, auch wenn dieses kein gutes Ende verspricht. Doch erst wenn die starken schmerzvollen Gefühle, die oft die Quelle unserer unkontrollierten Reaktionen sind, gesehen und im nächsten Schritt akzeptiert werden, kann sich der Gefühlsstau langsam auflösen. Die Vergangenheit darf dann Vergangenheit sein und wird zukünftig einen wesentlich kleineren Einfluss auf unsere Gegenwart haben.

Der dritte und letzte Schritt hat konkret mit aktiver Veränderung des Verhaltens zu tun. Damit diese Veränderung nicht einfach übergestülpt wird, braucht sie eine tiefe Einsicht und eine emotionale Verarbeitung.

Diese drei Schritte sind wesentliche Bestandteile eines gelungenen Veränderungsprozesses. Sie sind nicht zwingend voneinander getrennt und bauen auch nicht unbedingt chronologisch aufeinander auf. In der Regel entwickeln sie sich parallel zueinander und bedingen sich gegenseitig.

Wie könnte sich – vor diesem Hintergrund betrachtet – die Situation zwischen Maria und Paul nun entwickeln?

Würden sich beide in Achtsamkeit üben, könnten sie sich der Möglichkeit anderer Reaktionsweisen bewusst werden. Vielleicht würden sie einander versöhnlicher gegenübertreten, sobald sie erkannt haben, dass ihre Gereiztheit nicht unmittelbar mit dem Partner zu tun hat, sondern dieser in Folge der eigenen tiefer sitzenden Problematik gewissermaßen nur der Auslöser eines Gefühls ist. Oder sie würden erkennen, dass es an der Zeit ist, bestimmte Themen endlich einmal konsequent und offen „auf den Tisch zu bringen“, statt der klärenden Auseinandersetzung wieder und wieder auszuweichen. Sie könnten es aber auch vorziehen, zurückhaltender zu reagieren und ruhig abwartend zu beobachten, was passiert. Konkret könnten ihre Reaktionen folgendermaßen aussehen:

Maria könnte, nachdem sie dreimal tief durchgeatmet hat (!) und sich ihrer inneren Befindlichkeit bewusst geworden ist, versöhnlich antworten:

„Schön, dass du so gut drauf bist, Paul, und dich auf mich gefreut hast. Ich komme aber gerade nach Hause und bin noch nicht richtig angekommen. Und dann habe ich schon den ganzen Tag das Gefühl, tun zu müssen, was andere von mir erwarten. Das weckt unangenehme Gefühle, wie ich sie schon als Kind oft hatte. Lass mir ein wenig Zeit, damit ich zu mir finden und mich entspannen kann, ja? Und dann komme ich zu dir!“

Sie könnte auch wütend, aber nicht aus dem Affekt heraus, reagieren:

„Das ist nun wirklich das letzte Mal, dass ich mir so was gefallen lasse! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich es nicht mag, so eindeutig angefasst zu werden, nur um deine Bedürfnisse zu befriedigen. Das möchte hiermit ein für alle Mal klären!“

Paul wiederum könnte, nachdem auch er dreimal tief durchgeatmet hat und sich seiner inneren Befindlichkeit bewusst geworden ist, ebenfalls versöhnlich antworten:

„Ja, ich habe mich gefreut, dich zu sehen, aber du hast recht, ich sehe, dass du noch gar nicht ganz hier bist. Ich fühlte mich halt wieder mal so ‚bedürftig’, nachdem ich von der Arbeit frustriert nach Hause gekommen bin.“

Er könnte auch bewusst wütend reagieren:

„Also, ich verstehe, dass du etwas Zeit für dich brauchst, aber ich habe das Gefühl, dass du immer weniger Zeit für uns hast und dich immer mehr von mir zurückziehst. Das wäre vielleicht anders, wenn du dich bei der Arbeit besser abgrenzen würdest.“

Im jeweils ersten Beispiel zeigen beide, dass sie sowohl die eigene Befindlichkeit als auch die des Partners sehen und ansprechen. Beide fühlen sich daraufhin respektiert und vom Partner nicht wertend in ihrer jeweiligen emotionalen Situation wahrgenommen. Beide sind bereit, auf den jeweils anderen zuzugehen, aber auch selber für die eigene emotionale Regulierung bzw. den Umgang mit der eigenen Frustration zu sorgen.

Im zweiten Beispiel spielt Achtsamkeit ebenfalls eine wichtige Rolle, auch wenn es im ersten Moment nicht so aussehen mag, weil beide wütend reagieren. Achtsamkeit heißt in diesem Kontext jedoch nicht, sich alles gefallen zu lassen, sondern zu lernen, die eigenen Grenzen deutlicher zu spüren, um sie durchlässiger gestalten oder, wenn es notwendig und richtig erscheint, ein klares NEIN oder STOPP aussprechen zu können. Beide zeigen, dass sie zwar nicht unbedingt einer Meinung, sich aber über die eigenen Gründe im Klaren sind und auch den anderen wahrnehmen und spüren, wo er sich gerade befindet.

Deutlicher wahrzunehmen, wo man sich mental und emotional gerade befindet, bedeutet allerdings nicht automatisch, dass damit alles gut läuft. Dennoch schafft Achtsamkeit günstigere Voraussetzungen für eine befriedigende Beziehung als ständiger, mehr oder weniger unterschwelliger Streit und die ungeklärte Vermischung aktueller Themen mit ungelösten Konflikten, deren Wurzeln in unserer Vergangenheit liegen. Insofern erhöht sie die Wahrscheinlichkeit für ein liebevolleres Zusammensein.


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