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Der totale Krieg und sein Ende

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Von Beginn an entwickelte der Erste Weltkrieg, der bereits von Zeitgenossen als Weltenbrand bezeichnet wurde und bis heute in GroßbritannienGroßbritannien »Great War« und FrankreichFrankreich »Grande Guerre« heißt, einen alles verschlingenden Sog. War er zunächst noch lokal begrenzt, zog er immer mehr Staaten ins Schlachtgetümmel. Deren Motive für den Kriegseintritt waren ebenso vielfältig wie die von den Konfliktparteien verfolgten Ziele. Der Waffengang war kostspielig, brutal, weitreichend und offenbar für jede Seite gerechtfertigt. Ein kurzer Blick auf wesentliche Merkmale und Ereignisse des Konfliktes soll vor Augen führen, wie groß die Hypothek war, die auf den Menschen lastete, die 1919 in ParisParis den Krieg beenden wollten.

Der Krieg hatte schätzungsweise aufseiten der Alliierten 5 647 600 und aufseiten der Mittelmächte 4 410 000 Menschleben gefordert; verwundet wurden bei den Alliierten nahezu 12 000 000 Soldaten, bei den Mittelmächten 8 288 000. Annähernd jeweils 600 000 zivile Opfer hatten FrankreichFrankreich und GroßbritannienGroßbritannien zu beklagen, ItalienItalien und das Deutsche Reich jeweils 700 000, SerbienSerbien, BulgarienBulgarien und RumänienRumänien jeweils 300 000, BelgienBelgien 50 000, Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn 400 000 und das Osmanische ReichOsmanisches Reich ganze 2 000 000 (ohne die Opfer des Völkermords an den Armeniern gerechnet).5 Nicht nur der Verlust an Menschen, sowohl Soldaten als auch zivilen Arbeitskräften, belastete die Volkswirtschaften, auch für die Unterstützung von Versehrten und Hinterbliebenen musste gesorgt werden. Von den drei Millionen französischen Kriegsverletzten blieben ein Drittel Invaliden.

Schäden richteten die Gefechte zum Beispiel in den zehn französischen Departements an, die unmittelbar in die Kampfhandlung hineingezogen wurden: 4,2 Millionen Hektar Land waren dauerhaft oder zeitweilig besetzt, Ernten wurden vernichtet, der Boden zum Teil durch Giftgas und Munition auf Jahrzehnte verseucht, Wälder vernichtet, Vieh getötet. 480 000 Häuser wurden ganz oder teilweise zerstört, aber auch 2000 Brücken, die Kohlegruben in NordfrankreichFrankreich, 70 Hochofenbetriebe, 300 Eisen- und Stahlgießereien, 3600 Kleinbetriebe fielen dem Krieg zum Opfer. In BelgienBelgien traf es 70 000 Häuser, 2600 Kilometer Eisenbahnschienen, 7000 Kilometer Straßen, 2500 Lokomotiven und über 120 000 Eisenbahnwagons wurden zerstört.6

Ebenfalls kostspielig war die Waffenproduktion, denn täglich wurden Flugzeuge, Schiffe, Artillerie, Gewehre vernichtet und mussten ersetzt werden. Die gesamte Wirtschaft wurde umgestellt auf die Anforderungen des Krieges, statt Konsumgütern wurden Waffen hergestellt. Es ist eine Herausforderung, einigermaßen verlässliche Zahlen für den Verlust an Waffen und Kriegsgeräten zu nennen, ein paar Angaben sollen einen Eindruck vermitteln: In Deutschland wurden in den Kriegsjahren über 10 Millionen Gewehre und Pistolen produziert. Nach eigenen Berechnungen ›verbrauchten‹ die Deutschen 26 000 Flugzeuge. Die Entente verlor über 380 Kriegsschiffe, die Mittelmächte 500.7

Die deutschen Kriegskosten betrugen 1918 täglich 180 Millionen, die britischen sieben Millionen Pfund Sterling.8 Schon bald waren FrankreichFrankreich, BelgienBelgien, GroßbritannienGroßbritannien bis an die Grenzen des finanziell Machbaren gegangen, oder darüber hinaus: Sie hatten sich bei den USAUSA verschuldet, schon bevor diese offiziell im April 1917 aufseiten der Entente in den Krieg eintraten. Die enormen Kosten der Kriegführung wurden auch durch Anleihen im eigenen Land aufgebracht. Die Bürger leisteten jedoch noch weitere Beiträge: Sie spendeten Gold und erhielten im Tausch Schmuck oder Münzen aus Eisen. Bei als »Nagelungen« bezeichneten Propagandaveranstaltungen, die der Wehrhaftmachung der Nation dienen sollten, erwarben die Bürger (unter ihnen auch zahlreiche Schüler) Nägel aus Gold, Silber oder Eisen, die sie in eine hölzerne Figur schlugen und so einen metallenen Schutzpanzer schufen. Die Einnahmen flossen in die Kriegskasse, und einige der vor mehr als 100 Jahren genagelten Ritter, U-Boote, Löwen oder Schilde sind bis heute erhalten. Frauenhaar wurde ebenso gesammelt wie Eicheln oder sogar Kartoffelschalen. Als der Mangel immer weiter um sich griff, gab es kaum ein Gut, das nicht als Ersatz für einen wertvollen Rohstoff eingesetzt werden konnte. Gleichwohl schossen die Schulden in die Höhe, und nur ein Sieg versprach die Möglichkeit, die Kredite zu tilgen und die Anleihen verzinst zurückzuzahlen. Wenn die Besiegten zur Kasse gebeten würden, hofften alle Kriegführenden, könnten die Bürger im eigenen Land für die vielfältig erbrachten Opfer entlohnt werden. An Steuererhöhungen, um die Bürger nach dem Friedensschluss an den Kosten für die Bewältigung der Kriegsfolgen zu beteiligen, dachte kein Politiker, der an der Macht bleiben wollte.

Als sich die Sieger im Januar 1919 in ParisParis trafen, erwies sich rasch, wie schwer es war, die Schäden zu beziffern. Die Delegierten diskutierten zunächst, was überhaupt als Schaden anzuerkennen sei: Galten auch die Pensionen für Versehrte und Hinterbliebene als Kriegsverlust? Zählten dazu auch die Gewinne, die ohne Krieg hätten erzielt werden können? Dass es sich um eine exorbitante Summe handeln müsse, war den meisten Delegierten in ParisParis bewusst. Daher wurde im Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 unterzeichnet wurde, auch kein exakter Betrag genannt. Die Aufgabe, ihn zu ermitteln, übernahm die Interalliierte Reparationskommission, deren Schadensbericht die Reparationssumme bestimmte, die Deutschland im April 1921 genannt wurde.

Der Krieg war brutal, denn im Verlauf von 52 Monaten wurden die Waffen fortwährend weiterentwickelt: Flugzeuge, Panzer, Maschinengewehre, Gas, U-Boote und weitreichende Artillerie brachten Verluste bislang ungekannten Ausmaßes. Die Soldaten mussten ertragen, jeden Augenblick in Todesgefahr zu sein, oft sahen sie ihren Gegner dabei nicht einmal. Die Artillerie feuerte aus weit entfernten Kanonen, aus Flugzeugen fielen Bomben oder Fliegerpfeile, und es wurden Fotos gemacht, die dem Gegner wertvolle Informationen für den kommenden Angriff lieferten. Die Entwicklung von Giftgas spiegelt wider, wie sehr die Kriegführenden darauf aus waren, den Stellungskrieg aufzubrechen und die Gegner zu überwinden. Ohne nennenswerte Bedenken verätzte man mit Gas Soldaten wie Tieren die Atemwege und schädigte die Haut. Diejenigen, die einen Giftgasangriff überlebten, starben möglicherweise nach dem Krieg an den Spätfolgen, aber wie konnte nach Jahren eine Todesursache eindeutig ermittelt werden?

Besonders der U-Boot-Krieg macht deutlich, in welchem Maße neue Waffen entwickelt und nicht nur gegen Kombattanten eingesetzt wurden. Im Februar 1917 begann der uneingeschränkte U-Boot-Krieg. Der deutsche Admiralstab ließ nun auch zivile Passagier- und Handelsschiffe angreifen und argumentierte, dass mit jedem Schiff Soldaten und kriegswichtige Güter transportiert werden könnten. Davon versprach sich der Admiralstab Ende 1916, nach den katastrophalen Schlachten vor VerdunVerdun und an der SommeSomme, die Wende: Innerhalb von fünf Monaten könne GroßbritannienGroßbritannien vor den deutschen U-Booten kapitulieren. Auch in dieser Hinsicht gingen die Militärs ein hohes Risiko ein, denn es bestand die Möglichkeit, dass die Vereinigten StaatenUSA aufgrund dieser Völkerrechtsverletzung in den Krieg gegen Deutschland eintreten würden.

Die Deutschen pokerten hoch und verloren: Die USAUSA traten tatsächlich im April 1917 in den Krieg ein, und die Briten ergaben sich nicht. Vielmehr führten neue Ortungsgeräte, dichte Minensperren unter Wasser, ein Geleitsystem zum Schutz von Passagier- und Frachtschiffen sowie die Fähigkeit, die deutschen Funksignale zu entziffern, dazu, dass sich die durch die U-Boote verursachte Zerstörung nach anfänglichen Erfolgen verringerte. Nicht zuletzt, weil Briten und Amerikaner durch die Massenproduktion von Handelsschiffen den Tonnageverlust ausgleichen konnten, wandte sich der Unterseekrieg letztendlich gegen die Deutschen. Am Ende hatten deutsche U-Boote zwar 5554 alliierte und neutrale Handelsschiffe versenkt, der Sieg über GroßbritannienGroßbritannien blieb aber aus.9 Vereinbarungen über Gesetze und Gebräuche der Landkriegführung, wie sie 1899 und 1907 in Den HaagDen Haag unterzeichnet worden waren, dämmten die Entwicklung der Waffen nicht ein. Im Gegenteil, das Völkerrecht hinkte hinter den Entwicklungen hinterher. Zugleich wurde in der Berichterstattung bzw. Propaganda immer wieder beteuert, dass man sich beim Einsatz dieser Waffe auf dem Boden des Völkerrechts befinde.

Der Krieg war weitreichend: Bomben auf LondonLondon, ParisParis oder SaarbrückenSaarbrücken verwickelten die Zivilisten unmittelbar in die Kampfhandlungen. Um die Stadt vor Fliegerangriffen zu schützen, wurden in ParisParis die Straßenlaternen mit blauen Glühbirnen ausgestattet. Schaufenster wurden mit Klebeband verstärkt, damit sie dem Geschützdonner standhielten, und für die Bewohner galt ab 21 Uhr eine Ausgangssperre. Auch in den besetzten Gebieten waren die Menschen vielfältigen Gefahren ausgesetzt. Viele flohen oder wurden evakuiert, verletzt oder getötet, verloren Hab und Gut. Und die Menschen hungerten: in Deutschland aufgrund der Seeblockade seit Kriegsbeginn, in FrankreichFrankreich und BelgienBelgien wegen der Besatzer, die sich von Erzeugnissen des Landes ernährten, ohne sich für die Versorgung der dortigen Zivilbevölkerung verantwortlich zu fühlen. In Deutschland stand jeder Person 1918 im Durchschnitt eine Tagesration von knapp 1000 Kalorien zur Verfügung.10 Die Qualität der Lebensmittel wurde immer schlechter, nicht selten wurde Brot mit Holzspänen gestreckt. Zur Kriegserfahrung der Menschen in den von Deutschland besetzten Gebieten gehörte auch, dass Zwangsarbeiter aus PolenPolen und BelgienBelgien in deutschen Industriebetrieben oder der Landwirtschaft eingesetzt wurden.11

Die Welt wurde zum Spielfeld der Europäer, und sie zogen die Menschen anderer Kontinente in diesen globalen Prozess hinein. Das im Vergleich zu Deutschland bevölkerungsärmere FrankreichFrankreich rekrutierte in den Kriegsjahren 485 000 Soldaten aus seinen überseeischen Kolonien. Deutschland wurde zwar durch die Seeblockade daran gehindert, aus den Kolonien Kämpfer einzuziehen und nach Europa zu holen. Doch in den Kämpfen in Afrika setzten sie gnadenlos Zehntausende indigener Arbeiter, Träger und Soldaten ein. AustralienAustralien entsandte, um das britische Mutterland zu unterstützen, 331 000 Freiwillige an die Kriegsschauplätze des Nahen OstensNaher Osten und Westeuropas – 60 000 von ihnen kamen um, 166 000 wurden verwundet. Das ist eine Verlustrate von 68 Prozent. 18 000 der etwas mehr als 100 000 Soldaten, die NeuseelandNeuseeland für das Mutterland in den Kampf schickte, starben ebenfalls, unter ihnen viele Maori, die trotz ihrer Leistungen vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Von den 600 000 kanadischen Soldaten fielen 60 000. Indien unterstützte GroßbritannienGroßbritannien nicht nur mit 1,5 Millionen Soldaten (von denen mehr als 60 000 umkamen), die Kolonialbehörden erzwangen auch Geldsummen in Millionenhöhe, mit denen sich die Kronkolonie an der Kriegführung beteiligen musste.12

Der Krieg führte in den Staaten zu tiefgreifenden Veränderungen. Schnell zeigte sich, dass staatliches Eingreifen erforderlich war, um Lebensmittel gerecht zu verteilen und Höchstpreise festzulegen. Im Verlauf des Konfliktes wurden Verwaltungen geschaffen, die in den Wirtschaftsprozess eingriffen, die Politik führte die Arbeitspflicht für Männer ein, gab Produktionsziele vor und lenkte Rohstoffe. In vielen Bereichen ersetzten Frauen die Männer in den Fabriken, aber auch als Postbotin oder Straßenbahnschaffnerin. Viele Frauen sahen sich einer kräftezehrenden Doppelbelastung ausgesetzt. Sie arbeiteten, versorgten die Familie und ängstigten sich um die Männer an der Front.

Die Furcht vor Spionen und unzufriedenen Bürgern war in jedem Land groß. Politiker wie Militärs überwachten ihre Bürger. Das war zwar kein alleiniger Effekt des Krieges, denn schon im Kaiserreich misstraute man den Sozialdemokraten und ihren möglichen Umsturzplänen. Aber die Kontrolle nahm neue und weitreichende Formen an. Auch die Post wurde kontrolliert, und selbst wenn nicht jeder Brief gelesen werden konnte, veranlasste schon das Wissen um Kontrolleure die Menschen dazu, genau zu überlegen, was sie ihren Angehörigen an die Front und in der Heimat mitteilten. Die Polizei berichtete über Gerüchte und hörte gut zu, wenn Frauen, die in Schlangen vor Geschäften standen, sich unterhielten: Beschuldigten sie die Politiker, nicht mehr Herr der Lage zu sein?

Die Zensurbestimmungen legten außerdem fest, was die Journalisten berichten durften. Militärische Geheimnisse sollten den Gegnern nicht in die Hände fallen, weshalb in Berichten von den Frontabschnitten keine Angaben gemacht wurden, die dem Gegner Informationen über bevorstehende Angriffe liefern könnten. Auch Bilder von Gefallenen der eigenen Armee waren in der Regel tabu. Diesbezüglich waren es allerdings eher die Leser in der Heimat, vor deren Meinungsumschwung sich Politiker und Militärs fürchteten. Sie waren überzeugt, dass sich die Bevölkerung bei zu viel ungeschminkter Information gegen den Krieg wenden könnte. Schon zu Kriegsbeginn hatte Präsident PoincaréPoincaré, Raymond in FrankreichFrankreich ebenso wie Kaiser Wilhelm II.Wilhelm II. in Deutschland die Bürger zur Einigkeit aufgefordert. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!«, verkündete Letzterer. In den kommenden Kriegsjahren hielt sich das Ideal einer harmonischen Gesellschaft ohne Interessengegensätze und Meinungsverschiedenheiten. Positive Beeinflussung, Verteufelung der Feinde und Zensur waren die Waffen im Kampf für eine geeinte Nation. Unter der Oberfläche schwelten Konflikte und politische Gegensätze freilich weiter, die nach Kriegsende erneut hervortraten.

Die Kämpfe fanden nicht nur an der Front statt: Es war das erklärte Ziel der Kriegführenden, die gegnerischen Zivilisten zu zermürben, damit sie ihre Politiker zu Waffenstillstandsverhandlungen drängten. Auch das Anheizen von Revolten folgte dieser Logik: Aufstände im eigenen Land schwächten den Gegner, und die Kräfte, die er zur Kontrolle von inneren Konflikten einsetzen musste, fehlten an der Front. Aus diesem Grund betrauten die Briten den Archäologen und Schriftsteller Thomas Edward LawrenceLawrence, Thomas Edward, bekannt als »Lawrence von Arabien«, damit, einen Aufstand der Araber gegen die Osmanen anzufachen. Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) wiederum ermöglichte es dem russischen Politiker Wladimir Iljitsch LeninLenin, Wladimir Iljitsch, zu Beginn der Oktoberrevolution im Jahr 1917 in einem versiegelten Eisenbahnwaggon aus dem Exil nach RusslandRussland zu reisen. Die Revolutionäre, so das Kalkül der OHL, würden nach einem Sturz des Zaren aus dem Krieg aussteigen. Dann wäre es Deutschland möglich, die durch den Friedensschluss mit RusslandRussland frei werdenden Truppen an die Westfront zu verlegen, um dort endlich den Sieg zu erringen.

Den Krieg empfand jede Seite als gerecht: Schon im Juli 1914, nach der Ermordung des österreichischenÖsterreich Thronfolgers Franz FerdinandFranz Ferdinand in SarajevoSarajevo, erwies sich die Frage von Recht und Unrecht als zentral. Zum einen forderten die Bündnisverpflichtungen einen gerechten (Verteidigungs-)Grund für die Unterstützung der Partner. Die Frage von Recht und Unrecht war andererseits auch für die Soldaten, ebenso wie die Zivilisten, von Bedeutung, da sie einen belastbaren Grund brauchten, um in den Krieg zu ziehen. So ist es zu erklären, dass jedes Land für sich beanspruchte, einen Verteidigungskrieg zu führen, wenn auch aus heutiger Sicht mit unterschiedlich überzeugenden Argumenten und selbstverständlich gezielt von den Propagandastellen angefeuert. Nicht nur während der ersten Wochen mussten Bürger und Soldaten von der Rechtmäßigkeit der eigenen nationalen Position überzeugt werden. Auch im Verlauf des Krieges wurden die Bürger und sogar die Kinder immer weiter von der Propaganda traktiert. Der Gegner wurde als brutale Bestie, die eigene Sache als gerecht, der Sieg als sicher und notwendig dargestellt. Presseberichte und Filme schürten gezielt die Angst vor dem Gegner, der folglich unterworfen werden musste. So ist zu erklären, warum es nach dem Kriegsende schwierig war, auch mental zum Frieden zurückzufinden: Weit verbreitete und tief verwurzelte Feindbilder sowie die unermüdlich wiederholte Forderung, bis zum Sieg weiterzukämpfen, wirkten fort und belasteten den Friedensprozess. Die Diskussion um die Schuld am Krieg flammte in ParisParis wieder auf. Für die Deutschen bestand womöglich der gravierendste Schock darin, dass der Versailler Vertrag ihnen die alleinige Schuld am Ausbruch des Krieges zuwies. GroßbritannienGroßbritannien und FrankreichFrankreich wiederum war es unmöglich, die Verletzung der belgischen Neutralität nicht als Beleg deutscher Aggression zu deuten.

Ob ein totaler Krieg überhaupt mit einem Verständigungsfrieden beendet werden kann, darf bezweifelt werden. Hätten die Kriegführenden zu irgendeinem Zeitpunkt noch die Möglichkeit gehabt, zum Vorkriegszustand zurückzukehren? Schon sehr früh, bereits im August bzw. September 1914, war der Weg zur Verständigung blockiert. An der MarneMarne war der deutsche Vormarsch aufgehalten worden, so dass der Schlieffen-Plan gescheitert war. In BelgienBelgien hatte die deutsche Armee, angeblich, weil sie von sogenannten Freischärlern angegriffen worden war, ein Strafgericht verhängt, das sich nicht zuletzt in der Zerstörung von Kulturgut äußerte. Beispielsweise wurde die Bibliothek in der belgischen Stadt LöwenLöwen Opfer eines bewusst gelegten Feuers der Deutschen; in den Flammen verbrannten wertvolle Handschriften aus dem Mittelalter, die zum Kulturgut, zur Geschichte, zur Identität der Belgier gehörten. Für FrankreichFrankreich spielte die Zerstörung der Kathedrale von ReimsReims eine ähnliche Rolle.

Im Oktober 1914 verfassten namhafte deutsche Wissenschaftler und Schriftsteller das sogenannte Manifest der 93. Sie verwahrten sich gegen die Vorwürfe, Deutschland habe den Krieg verursacht und missachte in den Kampfhandlungen gezielt die Regeln des Völkerrechts. Das Manifest An die Kulturwelt richtete sich ursprünglich an die neutralen Staaten und wurde dort sehr kühl aufgenommen. Bei Deutschlands Gegnern wurde es heiß diskutiert, aber vornehmlich als weiterer Beleg ihrer Arroganz gewertet. Schon dieser frühe, öffentlich ausgetragene Zwist führte den Bürgern sehr klar vor Augen, um wie viel es in diesem Weltenbrand ging: um den Kampf der Kultur (Mittelmächte) gegen die Zivilisation (Entente). Im Weltkrieg traten aber auch gegensätzliche politische Systeme gegeneinander an, nämlich demokratische gegen autoritär regierte Staaten. Rasch entwickelte sich der Krieg, befeuert durch die Propaganda, zu einem Wettstreit der politischen Systeme und Ideologien.

Schon bald traten die Kriegsziele hervor. Für GroßbritannienGroßbritannien war die Verletzung der belgischen Neutralität der Grund für den Kriegseintritt gewesen. Die Wiederherstellung BelgiensBelgien, also auch das Ende der deutschen Besatzung, wurde zu einem zentralen britischen Ziel. Ähnliches galt für FrankreichFrankreich: Gelänge es nicht, die deutsche Besatzungsmacht zu vertreiben, würde das Land auf den Rang einer unbedeutenden Macht herabsinken. Zu den französischen Plänen gehörte zudem die Rückgewinnung der 1871 nach dem deutsch-französischen Krieg abgetretenen Gebiete Elsass und LothringenElsass-Lothringen. Auch die Sicherheit vor dem als aggressiv empfundenen Nachbarn musste garantiert sein, bevor FrankreichFrankreich Frieden schließen konnte. Erreicht werden konnte das zum Beispiel mit einer entmilitarisierten Zone oder einem besetzten Gebiet entlang der gemeinsamen Grenze. Pläne, die darauf hinausliefen, Deutschland aufzuteilen, waren in FrankreichFrankreich zumindest im Gespräch.13 Im Verlauf des Krieges konkretisierten sich schließlich die Pläne FrankreichsFrankreich, EnglandsGroßbritannien und später ItaliensItalien, das Osmanische ReichOsmanisches Reich zu zerschlagen sowie dessen arabische Territorien unter sich aufzuteilen. Im Mai 1916 schlossen sie das Sykes-Picot-Abkommen, das den Westmächten dauerhaft eine indirekte Herrschaft im Nahen OstenNaher Osten sichern sollte.

Bald nach Kriegsbeginn kam es in Deutschland zu einer öffentlich geführten Debatte um die Kriegsziele. Weitreichende Landgewinne im Westen und Osten wurden gefordert, nämlich die dauerhafte Besetzung BelgiensBelgien, die Erzgebiete von Longwy-BrieyLongwy-Briey und Siedlungsland für die Landwirtschaft im Osten. An der Verbreitung dieser Wünsche beteiligten sich der nationalistische Alldeutsche Verband, aber auch der Industrielle August ThyssenThyssen, August und der Zentrumspolitiker Matthias ErzbergerErzberger, Matthias. Kein Wunder, dass die Siegermächte Letzerem, der sich im Verlauf des Krieges von seinen Ansichten distanzierte und einen Verständigungsfrieden anstrebte, mit Herablassung entgegentraten, als ErzbergerErzberger, Matthias im November 1918 in CompiègneCompiègne den Waffenstillstand für Deutschland unterzeichnete.

Deutschland war in der Julikrise 1914 ein hohes Risiko eingegangen, weil dort seit langem die feste Überzeugung herrschte, dass das Reich von Feinden eingekreist sei und einen Zweifrontenkrieg führen werde. Politiker und einflussreiche Militärs waren sicher, dass die Zeit gegen Deutschland laufe, noch aber sei RusslandRussland zu besiegen. Und auch die Furcht vor den demokratischen Kräften und einem Umsturz war groß. Nur ein überwältigender deutscher Sieg, der massive Eroberungen, Bodenschätze und Reparationen bringen werde, könne die Bürger (vor allem die gefürchteten Sozialdemokraten) von Reformplänen abbringen. Konservative Politiker waren zuversichtlich, dass materielle Werte die Bürger von der Attraktivität der Monarchie überzeugen würden. Geld sei anziehender als politische Teilhabe, mutmaßten diejenigen, die Revolution und Demokratie fürchteten. Im Frühjahr 1915 forderten Wirtschaftsverbände in einer Denkschrift die oben beschriebenen Landzuwächse. Alles andere, also auch ein Verständigungsfrieden, der den Zustand von vor 1914 wiederherstellen würde, führte nach Ansicht der Militärs und der monarchistischen Kreise zum Aufstand der unzufriedenen und enttäuschten Bürger. Der Wunsch, die eigene Macht zu bewahren, war einer der Gründe, der antidemokratische Kreise in Deutschland das Risiko eines Weltkrieges hatte annehmen lassen. Für sie war der Schritt in den Krieg von der Absicht geleitet gewesen, die eigene Macht zu sichern, und so gab es keine Alternative zum Sieg.

Als 1916 die 3. Oberste Heeresleitung unter LudendorffLudendorff, Erich und HindenburgHindenburg, Paul von noch mehr Macht an sich riss, schwanden auch die Chancen auf einen Verständigungsfrieden weiter. Zwar hielten die Generäle ihren Bündnispartner Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn für schwach, und sie schätzen auch die Ressourcen der Alliierten größer als die eigenen ein. Ihnen war bewusst, dass die Blockade der Alliierten Deutschland wirtschaftlich schwächte und die Lebensmittelversorgung erschwerte. Doch mit der Risikobereitschaft derjenigen, die alles zu verlieren hatten, führten sie den Krieg weiter und begannen im Februar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Mit dieser Waffe hofften die Deutschen, GroßbritannienGroßbritannien zum Einlenken zu zwingen. Das Risiko, dass der U-Boot-Krieg, der sich auch gegen neutrale und zivile Schiffe richtete, die USAUSA aufseiten der Alliierten in den Krieg ziehen könne, schreckte die deutsche Führung nicht. Alle Friedensinitiativen, die im Krieg von Deutschland ausgingen, zielten darauf ab, die Alliierten zu trennen, also mit einem Gegner Frieden zu schließen, um die verbleibenden Mächte besiegen zu können. Doch die Alliierten ließen sich nicht gegeneinander ausspielen. Weder nahmen sie 1917/18 an den Verhandlungen von Brest-LitowskBrest-Litowsk teil, die für RusslandRussland harte Friedenbedingungen brachten, noch ließen sie sich von dem Angebot des deutschen Kanzlers Bethmann HollwegBethmann Hollweg, Theobald von im Dezember 1916 oder von der Initiative des Papstes Benedikt XV.Benedikt XV. im August 1917 überzeugen. Und auch die Entente ließ sich nicht spalten: Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn blieb fest an der Seite Deutschlands. Außenminister CzerninCzernin, Ottokar verschloss sich jeder Initiative eines Separatfriedens.

Dass es vor dem Herbst 1918, als Deutschland nach einer schweren Niederlage Waffenstillstandsverhandlungen erbat, nicht zu erfolgreichen Friedensverhandlungen kam, hatte noch weitere Ursachen: Krieg galt als legitimes Mittel der Politik. Erste Erfolge, den Krieg durch internationales Recht einzuhegen, hatte die Internationale Friedenskonferenz in Den HaagDen Haag gebracht. Die seit 1907 geltende Haager Landkriegsordnung, die unter anderem den Einsatz von Gas und Plünderungen verbot und Zivilisten schützte, hatten die meisten kriegführenden Länder unterzeichnet, so FrankreichFrankreich, GroßbritannienGroßbritannien, Deutschland, RusslandRussland, Österreich-UngarnÖsterreich-Ungarn und die Vereinigten StaatenUSA. Internationale Organisationen, die der Sicherheit ihrer Mitgliedsstaaten dienten und Konflikte einvernehmlich zu lösen versuchten, waren noch eine Vision. Der amerikanische Präsident WilsonWilson, Woodrow setzte seine Hoffnung in einen solchen Friedens- oder Völkerbund. Doch vor 1914, im Krieg und auch danach agierten die Staaten im eigenen nationalen Interesse, in Konkurrenz zueinander, in Sorge um die eigene Zukunft, geplagt von Untergangs- und Bedrohungsängsten.

Hätten die USAUSA vor dem Kriegseintritt im April 1917 als Vermittler einen Verständigungsfrieden erreichen können? Schon seit Kriegsbeginn hatten die Vereinigten StaatenUSA Frankeich und GroßbritannienGroßbritannien finanziell massiv unterstützt. Vor dem April 1917 hoffte Präsident WilsonWilson, Woodrow, dass ein Verständigungsfrieden erreicht werden könne und die Chance für einen Völkerbund in sich trug.14 Nach dem Kriegseintritt der USAUSA änderte WilsonWilson, Woodrow seine Meinung jedoch und betonte, Deutschlands Macht müsse massiv beschränkt werden.15 Nun gab es also keine Macht mehr, die neutral und stark genug war, um als von beiden Seiten akzeptierter Vermittler aufzutreten. Woodrow WilsonWilson, Woodrow, der Geheimabsprachen und Diplomatie im Verborgenen zutiefst verabscheute, hielt die Demokratie in den USAUSA für einzigartig. Sein Land stütze sich auf die Vielfalt seiner Bürger, biete Chancengleichheit, trage keinerlei Verantwortung am Kriegsausbruch und verfolge keine Gebietsansprüche. Daher könnten die Vereinigten StaatenUSA eine Friedensmission betreiben, glaubte WilsonWilson, Woodrow.16 Er fürchtete allerdings, dass im Falle des Sieges einer Kriegspartei der Rüstungswettlauf weitergehe und ein neuer Krieg nur eine Frage der Zeit sei.

Das letzte Echo des Krieges. Der Versailler Vertrag

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