Читать книгу Die Kussagentur - Susanne Fülscher - Страница 5
Оглавление1
Seit drei Tagen haben wir Mai und ich denke, langsam müsste mal etwas passieren. Meine beste Freundin Junko behauptet nämlich, dass sich im Mai die grässlichsten, aber auch schönsten Dinge ereignen. Liebeskranke Tauben flattern vor Busse, Geister begegnen einem im Schlaf und zwölfjährige Mädchen kriegen so viele Küsse, dass sie es im Nachhinein kaum noch schaffen, all die kusswütigen Anwärter auseinander zu halten.
Möglich, dass Junko einen Knall hat oder der Monat einfach noch nicht weit genug fortgeschritten ist, denn weder habe ich irgendwo eine vom Bus zermatschte Taube entdeckt noch ist mir im Schlaf ein Geist begegnet, geschweige denn dass ich auch nur ansatzweise von einem Jungen geküsst worden wäre. Die bittere Wahrheit ist: Ich bin noch nie geküsst worden. Was an mehreren Faktoren liegen könnte:
– Mein Bruder Lukas – genannt der Mutant – wirkt abschreckend auf potenzielle Anwärter. Er gehört zu der Gattung Angeber, die sich am liebsten den ganzen Tag lang auf ihre (so gar nicht muskulöse und behaarte) Brust trommeln würde.
– Die winzige Wohnung, in der Mama, der Mutant und ich leben, wirkt abschreckend.
– Der Beruf meiner Mutter (Arzthelferin in einer orthopädischen Praxis) wirkt abschreckend. Hammerzehen, Krummrücken und verwachsene Hüften – um nur ein paar Beispiele zu nennen ...
– Ich selbst wirke abschreckend. Ständig Pickel am Kinn. Ständig Mitesser auf der Nase. Zwar lange, dafür aber sehr dünne Haare. Hautfarbe: frischkäsebleich.
– Wenn ich mit meiner Freundin Junko zusammen bin, fliegen alle nur auf sie. Japanerin. Exotisches Gesicht. Schöne, glänzende Haare. Außerdem ward noch nie ein Pickel in ihrem zauberhaften Antlitz gesichtet.
Wie üblich sitzen wir nach der Schule in Junkos türkisblauem Meerzimmer und langweilen uns. Wir langweilen uns so sehr, dass wir fast dazu bereit wären, noch ein paar Hausaufgaben mehr als verlangt zu machen. Vielleicht eine kleine, fiese Versuchsanordnung für Chemie aufzustellen, einen haarigen Dreisatz zu lösen oder grammatikalische Sonderfälle im Englischen zu pauken, bis uns die Ohren klingeln. Aber weil dann doch unsere Trägheit siegt, macht sich Junko daran, ihre Füße zu pflegen. Mausetote Hornhaut rieselt zu Boden, während sie über ihr Problem Nummer eins jammert. Zu wenig Geld. Ständig Ebbe im Portemonnaie. Keine Kohle da für nix ...
Um mir den Blick auf ihre aparten Füße zu ersparen, spaziere ich derweil im Zimmer umher und bestaune zum x-ten Mal die ausgefallene Einrichtung. Die Wände leuchten in einem hellen Türkis, der Teppichboden schimmert grünblau wie die Meeresoberfläche, überall verstreut liegen Muscheln und Seesterne; der absolute Knüller jedoch ist der blau-weiß gestreifte Strandkorb, den Junko zu ihrem zwölften Geburtstag bekommen hat. Klar, dass ich auch gern so einen hätte, allein schon um mich mit Junko darüber austauschen zu können, wie sich das Lebensgefühl verändert, wenn man den Großteil seiner Freizeit in einem hübsch gestreiften Standkorb liegen und eine türkisfarbene Zimmerdecke betrachten kann. Doch immer wenn ich Mama darauf anspreche, sagt sie nur zwei Wörter: »Zu teuer.« Manchmal sagt sie auch drei Wörter, die lauten dann: »Viel zu teuer.« Und dann seufze ich in mich hinein und ärgere mich darüber, dass meine Mutter das ganze Geld für uns allein ranschaffen muss. Weil sich mein Dad von uns verabschiedet hat, als ich gerade mal zwei Jahre alt war. Nicht dass ich ihn vermissen würde, ich kenne ihn ja nicht mal, aber dass er sich irgendwo als selbst ernannter Fotokünstler in der Weltgeschichte herumtreibt und uns nie Geld zukommen lässt, damit ich mir vielleicht mal einen Strandkorb zulegen kann, macht mich wirklich rasend.
Dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher als so ein nettes gestreiftes Teil. Vermutlich würden sich all meine Probleme in Luft auflösen, wenn ich erst einen Strandkorb in meinem Zimmer stehen hätte. Die Tatsache, dass Mama so wenig Zeit für mich hat, dass ich Mathe nur in den seltensten Fällen kapiere und Junko schon mal geküsst worden ist.
Junko ist da anderer Meinung. Ein Strandkorb löse keine Probleme, im Gegenteil, er schaffe bloß neue. In ihrem Fall bedeutet es, dass sie sich zusätzlich zum Strandkorb noch eine alte Badekabine (als Alternative zu ihrem Ikea-Schrank namens Björk) wünscht, außerdem einen neuen Computer mit Flachbildschirm. Offen gestanden begreife ich nicht, warum ihre Eltern ihr die Sachen nicht kaufen, am Geld kann es bei den Iwakis jedenfalls nicht liegen. Ihr Vater ist Forscher für irgendwelche Mikroben oder Bazillen, ihre Mutter Orchestermusikerin – beides keine schlecht bezahlten Jobs.
Junko hört einen Moment mit ihrem Gejaule auf, dann wirft sie ganz unvermittelt die Hornhautfeile von sich und schießt wie eine Rakete vom Bett hoch. Ich zucke vor Schreck derart zusammen, dass ich gegen den Strandkorb taumele, mir das Schienbein stoße und fast zu Boden gehe.
Doch anstatt gefälligst mal Erste-Hilfe-Maßnahmen bei mir einzuleiten stammelt Junko nur wie in Trance: »Ich hab’s, Effi, ich hab’s!«
So wie es aussieht, ist sie gerade verrückt geworden. Will ich das wirklich? Bis zu meinem Lebensende mit einer zwar besten, aber durchgeknallten Freundin vorlieb nehmen?
»Wir werden arbeiten!«, tiriliert Junko jetzt wie eine Opern-Diva. »Geld verdienen! Reich werden! Dann können wir uns alles leisten und pfeifen auf unsere unspendablen Eltern!«
Mit schmerzendem Schienbein lasse ich mich in den Strandkorb plumpsen. »Und wo willst du bitte schön arbeiten ? Niemand stellt uns in unserem Alter ein.«
Junko legt ihre Stirn in Falten. Mit spätestens 30, so ihr fester Vorsatz, will sie richtig schöne Denkerfalten haben. Damit sie intelligenter wirkt, als sie tatsächlich ist. Ersatzweise hat sie sich schon eine Brille zugelegt. Mit Fensterglas. Sooft ich ihr auch zu erklären versuche, sie würde so oder so einigermaßen intelligent aussehen, Junko will nichts davon wissen. Schon seit Wochen geht sie nicht mehr ohne Brille aus dem Haus.
» Wir könnten babysitten«, überlegt sie. »Zum Beispiel bei dem Mondgesicht.«
Nur ungern erinnere ich sie daran, dass uns im Umkreis von 100 Kilometern kein Mensch mehr als Babysitter einstellen wird, weil Junko es einmal fertig gebracht hat, ein vier Monate altes Stillbaby mit einer Kindermilchschnitte zu füttern. Was dem kleinen Wurm gar nicht gut bekommen ist.
»Dann fragen wir im Supermarkt nach, ob wir Regale einräumen können.«
»Vergiss es. Das wäre Kinderarbeit.«
Junko angelt sich ein Stück Lakritze aus einer meerblauen Schale mit Süßigkeiten und wirft mir einen verzagten Blick zu. »Und wenn wir morgens vor der Schule Milchflaschen verteilen?«
Ich zeige ihr einen Vogel. »Das gibt’s nur in amerikanischen Filmen!«
»Du kannst einem aber auch alles vermiesen.« Junko gibt stöhnende und ächzende Laute von sich. »So komme ich nie zu meinem Computer!«
»Sei froh, dass du wenigstens schon einen Strandkorb hast. Was soll ich dagegen sagen?«
Aber Junko zieht weiterhin einen Flunsch. Sie hat sich auf die Badekabine und den Computer eingeschossen und basta. Dass andere Wesen (man denke nur an mich) viel schlimmer dran sind (nämlich strandkorblos), will einfach nicht in ihren Dickschädel.
Plötzlich sind Schritte auf dem Flur zu hören, dann öffnet sich die Tür behutsam und Junkos Mutter kommt herein.
»Guten Tag, Effi!«, ruft sie, indem sie ihre langen Haare sortiert. Das Wort lang ist dabei eine schamlose Untertreibung. Um genau zu sein, ragen Frau Iwakis Haare bis über beide Pobacken und glänzen, als wären sie mit Lack überzogen.
»Guten Tag, Frau Iwaki«, erwidere ich, indem ich mich leicht verbeuge. Junkos Mutter macht das auch immer so bei mir, also habe ich es mir einfach abgeguckt. Genau wie dieses ewige Gekicher. Frau Iwaki kichert, wenn man ihr sagt, dass das Essen gut schmeckt, sie kichert, wenn man ankündigt gleich nach Hause zu gehen, und sie kichert, wenn sich draußen Wolken zusammenbrauen und sich in einem heftigen Gewitter zu entladen drohen. Anders ausgedrückt: Sie kichert immer und ständig. Ganz im Gegensatz zu Mama, die meistens nur genervt oder angestrengt in der Gegend herumguckt.
»Junko, wenn du so freundlich wärst rasch deine alten Sachen auszusortieren.«
Das ist auch typisch Frau Iwaki – höflich bis zum Anschlag. Allein mir zuliebe redet sie mit Junko deutsch (normalerweise unterhält sich die Familie auf Japanisch) und dann formuliert sie die Sätze, als wäre Junko nicht ihre Tochter, sondern irgendeine Königin oder die Erfinderin des Sushi, der Lieblingsspeise der Familie. Ich kann diesen Reisteilchen, die kunstvoll mit rohem Fisch belegt oder mit Seetangblättern umwickelt sind, nicht allzu viel abgewinnen, aber Junko zuliebe esse ich sie ohne mit der Wimper zu zucken. Obwohl Mama jedes Mal fast einen Würganfall kriegt, wenn ich ihr berichte, dass mein Magen gerade mal wieder rohen Fisch verdaut.
»Oh – das hätte ich fast vergessen.« Schon ist Junko aufgesprungen und an ihrem Schrank, der leider keine Badekabine ist.
»Magst du etwas essen, Effi?« Im Gegensatz zu Junko, die in Deutschland geboren ist, hat Frau Iwaki einen starken Akzent. Auch wenn sie beim Sprechen kaum Fehler macht, klingt es immer so, als würden sich die Wörter zwischen Zunge und Gaumen verheddern.
»Nein, danke, Frau Iwaki!«, erwidere ich ehrerbietig, um nicht zu sagen gestelzt. Bei Mama hätte ich wahrscheinlich bloß nee oder nö gesagt und dann weiter in mich hineingemuffelt.
»Junko, wenn du fertig bist, steck die Sachen doch bitte in die große Tüte auf dem Flur.«
Junko nickt, dann ist ihre Mutter wieder draußen.
»Wofür sollst du die Klamotten denn so dringend aussortieren ?«
»Altkleidersammlung«, tönt es aus den Tiefen des Kleiderschranks. Ein Teil nach dem anderen fliegt im hohen Bogen durchs Zimmer. Ein ausgeleiertes T-Shirt landet auf meinem Schoß, eine Jeans auf dem Schreibtisch, ein Pullover auf dem Boden, eine Unterhose ebenfalls, so geht es in einer Tour weiter. Wobei sich mir automatisch die Frage aufdrängt, ob Junko überhaupt noch ein paar ihrer Sachen behalten oder in Zukunft splitterfasernackt durch die Gegend rennen will.
Nachdem ihr Schrank so ziemlich leer gefegt ist, hält sie sich alle Kleidungsstücke der Reihe nach an. Die meisten gefallen ihr dann doch noch (und mir sowieso), weder sind sie aus der Mode gekommen noch kaputt oder verwaschen, also kommen letztlich bloß zwei T-Shirts (das ausgeleierte und eins mit einem Loch am Ärmel) und drei Unterhosen (zu klein, zu geblümt, zu kindlich) auf den Stapel für die Altkleidersammlung.
»Ich brauche dringend neue Sommersachen!«, klagt Junko.
»Ich auch!«, seufze ich gleich hinterher, wobei mir schon klar ist, dass Junko sicher demnächst mit topmodischen Sachen von Zara oder Mango angetanzt kommt, während das bei mir wieder mal am lieben Geld scheitern wird.
Kurz darauf muss ich schon los. Wegen Mama. Meistens reagiert sie reichlich verschnupft, wenn ich statt mit ihr und dem Mutanten zu Abend zu essen rohen Fischkadaver bei den Iwakis vorziehe.
Wir stehen auf dem Flur, Junko will gerade ihre aussortierten Klamotten in die Tüte ihrer Mutter stopfen, als sie auf einmal einen spitzen Schrei ausstößt.
»Oh Gott, was ist denn jetzt schon wieder?«
»Das ist – !«
Mit glühenden Wangen zieht Junko einen petrolblauen Pullover aus der Tüte. Ich gucke sie nur verständnislos an.
»Kapierst du nicht?«, quäkt Junko.
»Doch. Du hältst einen Pulli in der Hand. Er ist hässlich, hat riesige Schulterpolster und außerdem ziemlich viele Wollmäuse an den Ärmeln.«
»Das ist die Idee ... die absolute Hammeridee!«
Während Junko wie weggetreten den Pullover anpliert, wird mir ihre Begeisterung immer suspekter.
»Manche Leute würden für so ein Teil über Leichen gehen. Achtziger Jahre! Total angesagt!«
»Ja und?«
Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Nicht dass es mich an den häuslichen Abendbrottisch zieht, aber ich kann es nun mal nicht leiden, wenn Junko ewig lang um den heißen Brei herumredet.
»Wir machen eine Agentur auf!«, trompetet sie endlich. »Für Secondhandklamotten. Und ich verspreche dir – damit werden wir ...« Sie rollt so sehr mit den Augen, dass nur noch das Weiße zu sehen ist. »STINK-REICH! «
Für einen Moment bin ich sprachlos. Mit dem ausrangierten Eigentum anderer Leute vermögend werden – darauf muss man erst mal kommen. Ich lasse den Vorschlag kurz sacken, gebe dann allerdings zu bedenken, dass wir vielleicht gar nicht ausreichend coole Kleidungsstücke zusammenbekommen, um eine Agentur zu eröffnen. Ganz zu schweigen von der Kundschaft. Wer weiß, ob der Durchschnittsmensch unsere ausgefallene Ware überhaupt zu schätzen weiß.
Doch Junko verscheucht meine Einwände wie eine lästige Fliege.
»Mach dir darüber mal keine Sorgen.«
Nur eine Sekunde später fangen ihre Augenlider jedoch an zu flattern.
»Was ist los?«, frage ich beunruhigt. In meiner Fantasie ist der Strandkorb schon in greifbare Nähe gerückt.
»Ich frage mich nur gerade, wo wir unsere Agentur eigentlich aufmachen wollen. Auf der Straße etwa? Geht ja wohl schlecht.«
Da hat Junko Recht. Schließlich kann nicht jeder Hans und Franz seine abgelegten, stinkigen Klamotten auf der Straße verkaufen.
Schade.
Ein Drama, dass die frisch geborene Idee schon gleich wieder gestorben ist.