Читать книгу Schöne Mädchen fallen nicht vom Himmel - Susanne Fülscher - Страница 5

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Der Sommer, in dem mein Leben den gewissen Kick kriegte, war heiß und schwül. Jahrhundertsommer sagten die einen, Klimakatastrophe die anderen. Mir war das mehr oder weniger egal. Hauptsache, ich konnte ins Schwimmbad gehen, regungslos auf einer Decke liegen und dem Flug der Schwalben zusehen. Eigentlich waren sie ständig und überall zu hören, sie waren sozusagen das Aushängeschild des Sommers, und manchmal träumte ich von ihrem flirrenden Gezirpe.

Ansonsten träumte ich von gar nichts. Weil das Leben alles in allem ziemlich langweilig war: Schule, Basketball, abends Fernsehen, am Wochenende Disco – ein ewiger Kreislauf. Nichts passierte groß, außer dass ich Englisch mal vergeigte, mal nicht, und ab und zu gab es einen Jungen, der sich auf der Straße nach mir umdrehte. Das war auch schon alles. Ödnis total.

Anna sagte immer: »Karen, du hast eben keine wirklichen Probleme. Denk an die vielen Kinder, die verhungern, misshandelt werden oder krank sind …« Natürlich hatte sie Recht, natürlich war ich ein undankbares Wohlstandskind, wofür ich mich auch schämte, aber was half mir diese Erkenntnis, wenn es darum ging, mal wieder ein paar langweilige Stunden rumzukriegen?

Und dann kam doch alles anders, dann kam der Tag aller Tage. Am Morgen sah die Welt noch aus wie immer: Ich stand auf den letzten Drücker auf, warf mich ohne zu duschen in meine Klamotten, Zähneputzen, eine Tasse Tee im Stehen, in aller Eile zur Schule radeln. Natürlich verspätete ich mich, was aber nicht so schlimm war, weil wir ohnehin demnächst Zeugnisse kriegten und alle Noten feststanden. Ebenso gleichgültig verbrachte ich auch den Tag. Ich starrte aus dem Fenster, quatschte ein bisschen mit Elfi und verabredete mich mit unserer Mädchenclique für den Nachmittag im Schwimmbad. Meistens gingen wir zu viert oder fünft, je nachdem, was noch so anstand, und da wir alle ohne Freund waren, stand eigentlich selten etwas anderes an.

Heute konnten nur drei von uns: Lena, Katja und ich. Elfi wollte mit ihren Eltern ins Reisebüro, Annett zum Ballettunterricht. Nichts, aber auch gar nichts deutete darauf hin, dass heute der Tag aller Tage sein würde, alles war eigentlich wie immer: Bevor ich zu Hause meine Badesachen packte, schob ich Minibaguettes in die Mikrowelle, die ich dann bei offener Balkontür vor dem Fernseher aß. Am frühen Nachmittag kam zwar nichts Vernünftiges, aber es war immer noch besser, sich idiotische Talkshows anzugucken, als den Geräuschen einer Wohnung zu lauschen, in der höchstens mal der Kühlschrank surrte.

Thema: dicke Beine. Im Studio standen fünf Frauen mit mehr oder weniger unförmigen Beinen. Eine hatte sich Fett absaugen lassen, eine andere machte die vierundsiebzigste Diät (ohne sichtbaren Erfolg), die dritte trug nur lange Röcke, während die übrigen beiden so taten, als würden sie zu ihren monströsen Stampfern stehen. Dazu gesellten sich drei Milchbubis, von denen zwei dicke Beine abstoßend fanden und einer meinte, es wäre ihm egal, Hauptsache, er würde sich mit seiner Freundin gut verstehen. Die Moderatorin, eine hübsche Dunkelhaarige mit sehr schlanken Beinen, hopste durch die begrünte Studiodekoration und hielt hier und da ihr Mikro in die Menge.

Irgendwie fühlte ich mich angesprochen. Ich hatte nämlich ein ziemlich mieses Verhältnis zu meinen Beinen. Zwar musste ich mich nicht auf zwei Elefantensäulen durchs Leben schleppen, aber da die Natur mich mit schnurgeraden Stelzen in der Farbe eines Harzer Käses ausgestattet hatte, die zudem oben, wo Schenkel normalerweise zusammenkommen, nur ein unförmiges Loch bildeten, schämte ich mich in gewissen Momenten zu Tode. Beispielsweise beim Sport oder im Schwimmbad, wo ich meinen knochigen Körper meistens mit schlabbrigen T-Shirts verhüllte.

Kaum hatte ich meine Baguettes aufgegessen, stellte ich den Fernseher aus, ging in mein Zimmer und öffnete meinen Kleiderschrank. Ein durch und durch trostloser Anblick: Die zwei alten Jeans lagen unter einem Stapel langweiliger Sweatshirts und außer den halbwegs neuen Shorts gab es überhaupt nichts, was mich vom Hocker riss. Vielleicht sollte ich in den Ferien jobben, um mir endlich mal ein paar neue Sachen zulegen zu können. Ein Urlaub mit meinen Eltern war sowieso nicht drin. Vor knapp einem Jahr hatten sie eine Pizzeria gepachtet und damit so viel um die Ohren, dass sie den Laden nie und nimmer für die Ferien dichtmachen würden.

Ich zog die Shorts an, fuhr dann mit meiner Badetasche in die City. Ein kleiner Abstecher zu meinen Eltern. Anna rannte hektisch hin und her, um ein paar Männern mit Schlips und Kragen Pizza zu servieren.

»Wenn du was essen möchtest«, rief sie mir zu. »Robert macht dir schnell ein paar Nudeln.«

»Ich habe schon gegessen. Wollte nur Hallo sagen.«

Anna strich mir im Vorbeigehen über den Kopf. »Iss wenigstens einen Salat.«

»Jaja.«

Ich ging nach hinten in die Küche, wo Robert ebenso hektisch in mehreren Töpfen herumfuhrwerkte. Antonio, sein Boy für alle Fälle, zerhackte gerade Kräuter.

»Na, Kleines?«

»Papa, ich bin eins siebenundsiebzig!« Manchmal, wenn ich guter Laune war, sagte ich zu meinen Eltern Papa und Mama, auch wenn sie sich dann so schrecklich alt fühlten.

»… und du bist mindestens fünf Zentimeter kleiner.«

Das war Antonio. Er kam hinter seinem Tisch hervorgesprungen und küsste mir galant die Hand. Antonio war Klasse. Gut aussehend, ziemlich italienisch und vor allem einen ganzen Kopf kleiner als ich.

»Und du bist jetzt entlassen!« Robert lachte Antonio an, ich klaute eine Tomate und biss hinein.

»Hunger? Möchtest du Scampi?«

»Ich hab gerade gegessen!« Ich fand es ja nett, dass meine Eltern mich so umsorgten, trotzdem konnte ich mich ab und zu auch mal um mich selbst kümmern. Wir redeten noch eine Weile – Antonio machte mir wie immer schöne Augen –, dann zuckelte ich wieder ab.

Ich wollte mich gerade auf mein Fahrrad schwingen, als eine Frau mittleren Alters auf mich zugeschossen kam und mich am Arm festhielt. Ich dachte zuerst, ich hätte irgendeine Verkehrsregel missachtet oder einen Rentner angerempelt, aber da fragte sie mich, ob sie ein Polaroid von mir machen dürfe.

»Wieso das?«, stotterte ich.

»Weil ich glaube, dass du alle Voraussetzungen hast, um Model zu werden.«

»Model? Ich?« Ich war total perplex und fing einfach an zu lachen. Die Frau musste sich irren, das war doch völlig absurd.

Ohne auf meine Frage zu antworten stellte sie sich als Hilke Deny von der Agentur Today Model Agency vor, sie sei Talent-Scout, immer auf der Suche nach jungen, frischen Gesichtern.

Warum ich?, dachte ich die ganze Zeit. Das ist doch ein Scherz! Ich bin dürr und bleich und meine Haare sind voller Spliss – von wegen frisch!

Dann ging alles ganz schnell. Die Frau zückte ihre Kamera, ich versuchte besonders nett zu gucken, klick, klick, klick machte es, schon notierte sie Namen, Adresse und Telefonnummer in einem roten Lederkalender unter der Nummer 35.

»Du hörst von uns. Und vielen Dank.« Mit diesen Worten verschwand die Frau in der Menge.

Ich stand wie bedeppert da. Erst jetzt merkte ich, dass mir der Schweiß den Rücken runterlief. Ich und Model! Models waren schöne Frauen, mondän mit sinnlichen Mündern, sie hatten dickes glänzendes Haar und nicht einen Pubertätspickel im Gesicht! Keine sah aus wie ein bleiches Gerippe, keine bewegte sich hölzern und ungeschickt!

Egal. Schließlich hatte ich nichts unterschrieben, niemand würde irgendetwas von mir verlangen können. Ich machte mich auf den Weg ins Schwimmbad und maß dem Vorfall einfach keine große Bedeutung bei.

Lena lag schon wie tot auf ihrem Handtuch.

»Du bist verrückt, dich so in die Sonne zu knallen«, sagte ich und lief einfach an ihr vorbei unter den nächsten Baum. Zwei Minuten später kam sie angekrochen.

»Neben dir sehe ich ja superbraun aus«, meinte sie stolz.

»Ja und? Ich werde eben nur knallrot. Also kann ich die Braterei doch gleich lassen.«

Es nervte mich schrecklich, dass mich alle Welt auf meine weiße Haut ansprach. Natürlich hätte ich es auch schöner gefunden, knusprig und goldbraun wie ein Imbisshähnchen durchs Leben zu laufen, aber was nicht ging, ging eben nicht.

Lena ließ sich auf ihr Handtuch plumpsen, Füße in den Schatten, Kopf in die Sonne. Ich betrachtete sie – besonders hübsch war sie eigentlich nicht, und nur weil sie eine andere Hautfarbe als ich hatte, brauchte sie sich noch lange nichts einzubilden.

»Eben hat mich eine Frau auf der Straße angesprochen. Sie meinte, ich könnte Model werden.«

»Waaas?« Mit einem Ruck kam Lena hoch.

»Sie hat Polaroids von mir gemacht.«

»Fantasierst du?«

»Kein bisschen.«

Ich merkte, wie ich langsam sauer wurde – schließlich war ich doch keine Schreckschraube mit Aussatz im Gesicht. Im gleichen Moment kam zum Glück Katja anmarschiert, sonst hätten wir uns wahrscheinlich richtig in die Haare gekriegt.

»He, Karen wird Model!«, rief Lena ihr zu.

Katja blieb daraufhin erst mal ganz cool. Ich musste die Geschichte mit den Polaroids ein zweites Mal erzählen; Katja merkte dann nur nüchtern an, das sei ja das absolute Klischee, ein Mädchen wird auf der Straße angesprochen, man macht Fotos von ihr und ein paar Monate später ist sie auf der Elle.

»Solche Typen wollen doch nur die Mädchen ins Bett kriegen«, sagte Lena.

»Blödsinn. Und außerdem – es war eine Frau.« Keine Ahnung, warum Lena es mir nicht gönnte, dass mich diese Frau aus der Menge herausgepickt hatte.

»Oder sie lotsen dich in irgendeine Modelschule, wo du viel Geld bezahlst und hinterher nicht einen einzigen Job kriegst.«

»Ist doch gar nicht gesagt«, meinte Katja. »Wart doch erst mal ab.« Sie stupste mich in den Arm. »Gib bloß niemandem deine Kröten. Das geht nur nach hinten los.«

»Ich bin ja nicht blöd!« Schnell rappelte ich mich hoch und lief zum Becken. Hätte ich nur nicht davon angefangen! Jetzt zerrissen sie sich die Mäuler, jede wollte es besser wissen, dabei war die Modelsache überhaupt noch nicht spruchreif. Ich würde später mal Tierärztin werden oder Journalistin, von mir aus auch Köchin in unserer Pizzeria – aber Model??

Das kühle Wasser tat gut. Mit voller Kraft schwamm ich ein paar Bahnen, und als ich endlich schnaufend am Rand Halt machte, quetschte sich ein Junge neben mich. Wir sahen uns an und ich dachte, seltsam, dass jahrelang nichts passiert und dann verliebt man sich auch noch Knall auf Fall.

Schöne Mädchen fallen nicht vom Himmel

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