Читать книгу Nie mehr Keks und Schokolade - Susanne Fülscher - Страница 5
Оглавление254 ½ Kilo. Das ist wirklich der Gipfel! Hätte ich gestern nur nicht so viel gefressen, aber was passiert ist, ist passiert.
Zum Ausgleich kriege ich wenigstens eine Eins in Geografie zurück. Und zwar als Einzige in unserer Klasse! Ich atme erstmal tief durch, bevor ich anfange zu glauben, dass es auch tatsächlich stimmt. Die Klassenarbeit war nämlich himmelschreiend schwer, übers Ozonloch und so. Eigentlich kann das mit der Eins gar nicht stimmen. Weil ich normalerweise kein Geografie-Ass bin, auch wenn ich mich diesmal wirklich ins Zeug gelegt habe. Aber sooft ich auch auf die letzte Seite meiner drei Zettel gucke, es bleibt dabei: Ich habe eine dicke, fette und unglaublich rot geschriebene Eins!
Julie Brown sieht mich ziemlich ungnädig von der Seite an, was ich durchaus verstehen kann, weil sie normalerweise diejenige ist, die in Geo die Einsen einheimst. Aber diesmal hat sie nur eine Drei. Triumph! Triumph! Schadenfroh grinse ich in mich rein. Wenn ich ehrlich bin, geschieht Julie Brown dieser kleine Dämpfer nur recht. Wer den besten Notendurchschnitt hat und so. Natürlich war sie sich hundertprozentig sicher, dass sie als klare Siegerin hervorgehen würde, sonst hätte sie den Kram gleich bleiben lassen. Julie Brown ist nämlich in einigen Fächern sozusagen von Natur aus besser. Mit einem Amerikaner als Vater spricht sie natürlich perfekt Englisch und in Musik ist sie ein Ass, weil sie seit ihrem fünften Lebensjahr Geige spielt.
Aber jetzt hat deine Stunde geschlagen, Julie Brown, jetzt kommt die Stunde der Wahrheit und der Rache.
Da klingelt es. Unterrichtsschluss. Arrogant hebe ich eine Augenbraue, wie ich es mir bei Billi abgeguckt habe, und stolziere mit meiner neuen Leinenschultasche nach draußen. Der Babyranzen ist schon seit Ewigkeiten ausrangiert. Ich könnte mich über Julies Tournisterding kaputtlachen. Hässlich bunt gemustert und mit idiotischen Boygroupaufklebern zugepappt!
Schnell zur Bushaltestelle. Ich kann es gar nicht erwarten, Mama meine Eins zu zeigen.
Schon als ich in den Hausflur komme, rieche ich es, dass Mama heute mein Lieblingsessen gekocht hat: Tomatensuppe! Für Tomatensuppe würde ich über Leichen gehen. Ich esse dann meistens so viele Teller, dass ich nicht gerade platze.
»Ne Eins in Geo!«, rufe ich Mama entgegen, als sie die Tür öffnet. »Ist das nicht der Wahnsinn? Die einzige Eins in der Klasse!«
»Fein.« Mama grinst und streicht mir flüchtig über die Haare. Dann geht sie vor in die Küche, um uns aufzufüllen.
»Was für ein Glück, dass ich vorsichtshalber Tomatensuppe gekocht habe«, sagt sie.
Ich nehme die Klassenarbeit aus meiner Leinentasche und lege sie auf den Küchentisch. Aber Mama blättert sie nur kurz durch, »Ganz toll«, sagt sie dann und fängt an zu essen. Mehr nicht.
Okay, ich erwarte ja nicht, dass sie meine Arbeit Wort für Wort durchliest und kommentiert, aber ein bisschen mehr Anteilnahme hätte ich schon erwartet. Kaum hat Mama ihren Teller geleert, schiebt sie mir das Tagesblatt rüber. Ich fasse es nicht! Ein dicker, fetter Artikel über die gestrige Ballettaufführung. Jetzt wird Mama plötzlich gesprächig. Billi sei zweimal namentlich erwähnt, schwarz auf weiß stünde da, ihr stehe eine große Karriere bevor … Wie wunderbar, dass ich so ein Genie von Schwester habe!
Was soll ich schon dazu sagen? Lieber fülle ich mir noch einen Teller Suppe auf und noch einen und irgendwann habe ich wirklich das Gefühl, platzen zu müssen. Schluss mit Einsen. Ich schnappe mir meine Klassenarbeit und gehe raus.
»Nina?«, ruft Mama mir nach.
»Was denn?» Wehe, jetzt kommt noch eine Strafpredigt wegen gestern, aber Mama lächelt und sagt, dass sie sehr stolz auf ihre kluge Tochter sei.
Mein Zimmer ist der einzige Ort auf der Welt, an dem ich mich einfach klasse fühle. Zum Glück hat meine Sippschaft davon abgesehen, sich in die Gestaltung einzumischen, dafür bin ich auch für alles selbst verantwortlich. Ich meine, aufräumen und putzen und so.
Letztes Jahr habe ich die Wand, an der mein Bett steht, eidottergelb gestrichen, die gegenüberliegende Wand himmelblau. Billi findet es immer noch entsetzlich – ihr Zimmer ist die reinste Plüschbude mit roten Schleifchen und Ballettpostern an den Wänden –, aber von Mama über Papa bis hin zu Großmutter sind alle schwer begeistert. Ansonsten gibt’s nichts Spektakuläres in meiner Bude: ein kleiner Holztisch, an dem ich Schularbeiten mache, ein blau-weiß gestreifter Stoffschrank mit Rollverschluss, ein roter Plastikstuhl (für Gäste) und natürlich mein Bett, auf das ich tagsüber einen weißen Tüllstoff drapiere, sodass es aussieht, als wolle das Ding bald heiraten.
Meine neueste Errungenschaft ist ein Minifernseher. Mama und Papa sind zwar im Grunde dagegen, dass ich eine eigene Glotze habe, aber da ich seit einiger Zeit jeden Abend die Serie »Fünf unter einem Dach« schaue, haben sie doch in den sauren Apfel gebissen und mir zum Geburtstag so ein Teil in Miniformat gekauft. Dem Himmel sei Dank! Denn »Fünf unter einem Dach« in Anwesenheit der Eltern zu gucken ist die reinste Strafe. Ständig palavern sie dazwischen oder lästern über die Schauspieler oder die Dialoge.
Dabei haben sie einfach keine Ahnung. Serien sind das Einzige, worauf man sich verlassen kann. Wie das Amen in der Kirche sind alle Mitspieler jeden Abend bei mir im Wohnzimmer versammelt, aber sie machen mich nicht fertig und mischen sich auch nicht in mein Leben ein, sie sind einfach da, und das ist phantastisch.
Am liebsten habe ich Fanny. Fanny sieht aus wie eine Göttin. Sie trägt ihre kupferroten Haare kinnlang und hat ihre schmalen Augen immer schwarz mit Kajal umrandet. Sphinxhaft. Geheimnisvoll. Und dann ihre tolle Figur. Groß und dünn mit meterlangen Beinen, die meistens in hautengen Stretchhosen stecken. Ich gäbe einiges drum, nur mal einen Tag lang wie Fanny auszusehen.
Heute mache ich mich gut gelaunt an die Hausaufgaben, auch wenn es Mama so ziemlich wurscht ist, ob ich Einsen, Dreien oder Vieren schreibe. Dann ackere ich eben nur für mich alleine. Meine Family wird mir schon zu Füßen liegen, wenn ich eines Tages erst mein Einserabi in der Tasche habe! Arme Billi, kann ich da nur sagen. Ihre Glanzzeiten sind schneller vorbei, als sie sich umgucken kann, und dann versauert sie als Kartenabbeißerin in einem Nullachtfuffzehn-Theater, während ich den Nobelpreis in irgendwas gewinne …
Mathe, Bio, Englisch – zwei Stunden kritzele ich in mein Heft, danach bequeme ich mich in die Küche, um mir was Leckeres zu holen.
Mama sitzt am Tisch und klebt Fotos in ein Album.
»Na? Fertig mit den Hausaufgaben?«, fragt sie und lächelt mich aus ungeschminkten Augen an. Im Gegensatz zu Billi sieht sie nicht angepinselt um Klassen besser aus.
Ich nicke und gehe an den Schrank, in dem es meistens eine Tüte Kekse oder so gibt.
»Triffst du dich noch mit jemandem?«, fragt sie weiter.
»Mit Julie?«
»Wieso denn mit Julie?«
»Ich dachte, ihr seid befreundet.«
»Na ja«, sage ich nur und lasse mich auf keine weitere Diskussion ein. Julie Brown und meine Freundin! Nur weil ich einmal mit ihr im Kino war! Eher freunde ich mich mit einem Rasenmäher an.
Mama nervt zum Glück nicht weiter rum, aber als ich mit ein paar Plätzchen auf dem Teller rausgehen will, hält sie mich zurück.
»Setz dich doch grad mal«, sagt sie.
Ich gucke sie irritiert an und bleibe wie Piksieben im Türrahmen stehen.
»Nina, das hört sich jetzt vielleicht blöd an, aber …«
Mama pult an ihren Nägeln herum, dann rückt sie endlich mit der Sprache raus. »Ich finde es merkwürdig, dass du so gar keine Freundin hast. Als ich in deinem Alter war …«
»Ich habe Freundinnen«, unterbreche ich Mama. In meinem Magen fängt es auf einmal wie wild an, zu brennen und zu stechen.
»Ich meine aber eine beste Freundin.«
»Mama! Ich vermisse nichts. Ehrlich!«
Mama leckt hektisch an einer Fotoecke. »Aber wenn du wüsstest, wie es ist, würdest du vielleicht eine Freundin vermissen.«
»Wenn, wenn, wenn. Wenn ich dreihundert Kilo wiegen würde, würde ich jetzt durch den Fußboden brechen und unseren Nachbarn auf den Kopf fallen!«
Mit diesen Worten marschierte ich ab. Mama kann mich mal mit ihrem Gelaber. Nur weil sie damals mit ihrer besten Freundin Hildegard durch dick und dünn gegangen ist und unheimlich lustige und freche Jungmädchenstreiche gemacht hat, muss ich ja nicht das Gleiche tun. Meistens bin ich schon froh, wenn ich mich einfach auf dem Bett ausstrecken und die himmelblaue Wand anstarren kann. Just for fun.
Kurz vor sechs hole ich mir eine zweite Ladung Kekse, schlüpfe in eine bequeme Gymnastikhose und stelle den Fernseher an. Nur noch drei Minuten, bis »Fünf unter einem Dach« anfängt. Das ist immer der schönste Augenblick des Tages. Wenn ich weiß, gleich geht es los, eine halbe Stunde Alltag-Ausblenden liegt vor mir! Die heutige Folge beginnt damit, dass die fünf Mädels aus der Wohngemeinschaft – Betty, Clau, Anna, Selma und natürlich Fanny – am Frühstückstisch sitzen und darüber spekulieren, ob der Hausbesitzer die Riesenwohnung tatsächlich für sich selbst haben will und die Mädchen eiskalt rausschmeißen wird. Das wäre natürlich furchtbar, weil sie erstens nicht so schnell wieder eine Wohnung mit fünf Zimmern finden würden, und falls doch, wäre sie wahrscheinlich unbezahlbar. Anna schlägt vor, man könnte sich ja notfalls auch trennen oder zwei Wohnungen in einem Haus anmieten, aber der Rest der Mannschaft ist entschieden dagegen. Was ich nur zu gut verstehen kann. Ich fände es auch übel, wenn die Wohngemeinschaft auseinander ziehen müsste.
Ansonsten bahnte sich in dieser Folge ein Techtelmechtel zwischen Fanny und ihrem Fitnesstrainer Rolf an. Fanny geht ins Studio – natürlich in einem superengen, supergrünen und bauchfreien Sportdress, der ihre schmalen Hüften und ihren knackigen Po betont, setzt sich aufs Trimmrad und dann kommt Rolf rein und fragt sie ganz harmlos, ob er ihr mal eine neue Übung für die Bauchmuskeln zeigen soll. Na klar will Fanny die Übung kennen lernen. Na klar will sie ihren eh schon platten Muskelbauch noch platter und noch muskulöser trainieren. Sie legt sich also auf die Matte und Rolf grabbelt an ihr rum und sagt, nö, so nicht, ein bisschen höher das Becken und die Pobacken einziehen und so weiter, und ich denke, gleich küssen sich die beiden, aber da wird auf die Wohngemeinschaft umgeschaltet. Wie gemein! Der öde Hausbesitzer hockt mit den vier restlichen Mädels um den Tisch und verklickert ihnen, dass er die Wohnung auf jeden Fall für sich will. Das ist ja nun wirklich der Gipfel! Wie kann er nur …
Zum Glück kriegen wir noch einmal das Fitnessstudio zu sehen. Fanny weiß natürlich noch nichts von der Sache mit der Wohnung, aber dafür zeigt Rolf ihr gerade eine wahnsinnig effektive Übung für den Trizeps, Fanny lacht so ziemlich affektiert und dann beugt sich Rolf tatsächlich vor und küsst Fanny. Schluss, aus, Ende, Titelmusik und Abspann.
Na ja … Ich finde es ja grundsätzlich okay, dass Fanny sich einen Typen anlacht, aber muss es denn ausgerechnet dieser blöde Muskel-Rolf mit dem kleinen Kopf und den Segelohren sein? Gibt es für eine Göttin wie Fanny nicht wenigstens einen richtigen Gott?
Ich will gerade die Kiste ausschalten, als es an die Tür klopft.
»Ja?«
Papa kommt rein, zerwuselt meine Haare und drückt mir ein Fünfmarkstück in die Hand.
»Für die Eins«, sagt er und ich denke, wenigstens einer, der es zu schätzen weiß, dass ich klug bin. Papa lächelt.
»Mach nur weiter so.«
Ich grinse verlegen. »Logisch. Was denkst denn du?«
Papa ist schon wieder halb aus der Tür. »Ich muss noch mal in die Kanzlei«, sagt er.
»Och nö … Wir wollten doch alle zusammen Abendbrot essen.«
»Geht heute leider nicht.«
Wie blöd. Immer ist mein Vater am Schuften. Morgens, mittags, abends, von Zeit zu Zeit sogar nachts.
Manchmal wünschte ich ihn mir als Verstärkung an meiner Seite, um das Billi-Mama-Gespann besser zu ertragen.
Papa lächelt, dann kommt er noch mal zurück, um mir einen Schmatzer aufzudrücken. »Bis später. Mein Pummelchen.«
Schon ist er draußen – ich kippe fast hintenüber.
Pummelchen! So etwas hat er noch nie zu mir gesagt! Ich schaue an mir runter, sehe zwei Wurstbeine in der Pelle, den leer gefutterten Keksteller – Papa hat Recht! Papa hat absolut Recht! Ich bin verdammt noch mal ein dickes, fettes Pummelchen, kein zartes Wesen wie Billi, keine schlanke Göttin wie Fanny, ich bin ein Koloss – das ist die bittere Wahrheit! In einem Anfall von Wut fege ich den Keksteller vom Bett, sodass jetzt der ganze Teppichboden voller Krümel ist. Mir doch egal! Das Pummelchen wird bestimmt nicht aufstehen und den Teppich sauber machen. Das Pummelchen will mit Keksen und Schokolade, mit Bonbons und Hamburgern nämlich nichts mehr zu tun haben! Das Pummelchen wird ab sofort nur noch Grünfutter essen und kalorienreduziertes Wasser trinken.
Wütend zertrete ich die Krümel auf dem Teppich und werfe mich aufs Bett, um eine Runde zu heulen.