Читать книгу Nie mehr Keks und Schokolade - Susanne Fülscher - Страница 6

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3Fast 55 Kilo. Himmel noch mal, ist das Leben ungerecht! Es gibt Bohnenstangen wie Billi, die futtern sich dumm und dämlich und bleiben trotzdem Bohnenstangen. Dann wiederum gibt es Möpse wie mich, die schon beim Anblick einer Kekstüte dick werden. Und was das Allerschlimmste ist: Es gibt Väter, die einen bereits seit hunderten von Jahren zu fett finden, aber nie einen Ton sagen, und plötzlich kommt es so ganz nebenbei raus. Ich wünschte Papa wäre früher ehrlicher zu mir gewesen. Und dann dieses verlogene Pummelchen-Gesäusel! Kann er mir nicht gleich knallhart mitteilen, dass ich für ihn nichts weiter als eine fette Kuh bin? Kein Wunder, dass ich noch keinen Freund habe – das ist es doch, was er in Wirklichkeit sagen wollte. Mädchen wie ich bleiben eben immer auf der Strecke …

Als Mama mich schließlich zum Abendbrot ruft, habe ich mich wieder einigermaßen beruhigt. Zumindest muss ich nicht mehr heulen. Und etwas Gutes hat Papas Ausrutscher immerhin: Der Appetit ist mir restlos vergangen.

»Warum isst du nichts?«, fragt Mama erstaunt, aber ich schlürfe nur meinen Tee und überlege mir, wie ich es am besten schaffen kann, abzunehmen.

Wenn ich gar nichts mehr esse, werde ich vielleicht ohnmächtig – das wäre nicht gerade vorteilhaft. Süßigkeiten weglassen – okay. Aber nach einem Teller mit Kartoffeln, Gemüse und einer Frikadelle schreit mein Magen förmlich nach Schokolade. FdH – Friss die Hälfte – kommt auch nicht in Frage. Habe ich erst mal mit dem Futtern angefangen, kann ich nicht mehr so schnell wieder aufhören. Und bei einer richtigen Diät aus einer Zeitschrift würde Mama sicherlich streiken.

Ich schnappe mir ein Stück Salatgurke, eine halbe Scheibe Käse und verziehe mich in mein Zimmer. Dort stelle ich eine Liste auf.

1. Nur noch Sachen essen, die wenig Kalorien haben und keine Lust auf mehr machen. Zum Beispiel:

– Salatgurke

– Rohe Möhren

– Knäckebrot

– Magerquark

– Saure Äpfel

– Wassermelone

– Zuckerfreien Pfefferminz

2. Möglichst ab sechs Uhr abends nichts mehr essen

3. Viel Sport machen (wieder in den Sportverein eintreten?)

4. Nicht neidisch werden, wenn andere essen

5. Beim Mittagessen nur das Gemüse rauspicken

6. Um Bäckereien einen großen Bogen machen

7. Um Supermärkte einen großen Bogen machen

8. Kalorientabelle besorgen

9. Kalorien auswendig lernen

10. Niemandem was von meiner Diät erzählen

Punkt zehn ist der wichtigste. Kein Mensch auf dieser Welt, nicht ein einziger, darf mitkriegen, dass ich abnehmen will. Und besonders nicht Mama, sonst wird sie mir garantiert einen Strich durch die Rechnung machen.

Ich falte das Blatt Papier zusammen und verschließe es in meinem Schreibtisch. Jetzt geht es mir schon erheblich besser.

Einen Plan zu haben ist die halbe Miete.

Fast gut gelaunt, laufe ich zu Großmutter rauf. Großmutter wohnt im selben Haus wie wir, hat im vierten Stock eine Zweizimmerwohnung. Ich klingele Sturm, aber niemand öffnet. Schließlich donnere ich mit der Faust an die Tür. Manchmal habe ich den Eindruck, dass Großmutter schon ein wenig schwerhörig ist.

»Bin hi-er!«, tönt es plötzlich von oben.

Mit zwei, drei Sätzen laufe ich auf den Dachboden.

Großmutter hat sich in ihrem Verschlag eine Art kleines Atelier eingerichtet, wo sie riesige Bilder in Öl malt, die sie dann ans Altersheim verscherbelt. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, ob die Leute dort überhaupt was mit ihren Bildern anfangen können. Meistens sind nur kreischige Farbkleckse drauf und das Ganze heißt dann »Rausch am Frühstückstisch« oder »Banane in der Badewanne«.

Heute malt sie eine alte, nackte Frau mit hängenden Brüsten.

Großmutter tritt einen Meter zurück und hält den Kopf schief.

»Wie findest du es?«

»Ganz schön«, sage ich, »aber die Frau ist hässlich.«

»So sieht man nun mal aus, wenn man älter wird.«

Großmutter lacht.

Oh Gott, denke ich. Wenn ich jetzt schon Probleme mit meinem Körper habe, wie soll das erst werden, wenn ich so alt wie die Frau auf dem Gemälde bin?

»Wer soll das sein?«, frage ich.

»Na, ich!« Großmutter strahlt mich an, als hätte ich ihr gerade gesagt, sie sähe aus wie Kim Basinger mit 20. Ziemlich peinlich, aber immerhin weiß ich, dass sie es mir nicht übel nimmt. Denn das ist das Tolle an Großmutter: Genauso wie sie immer geradeheraus ist, dürfen es auch die anderen sein.

»Ich glaube, hier sollte noch ein wenig Farbe hin«, meinte Großmutter und klatscht ihrem Ebenbild etwas Grünes ins Gesicht. Jetzt sieht die Frau aus, als sei ihr auch noch kotzübel.

»Und du meinst, die alten Leute wollen eine Nackte mit grünem Klecks im Gesicht sehen?«, frage ich vorsichtig.

»Was schert mich das? Kunst ist Kunst, und wenn das Altenheim mein Bild nicht möchte … – vielleicht geht es ja nach New York und wird für 20.000 Mark verkauft.« Großmutter legt die Palette auf einen Hocker und wischt ihren Pinsel in einem Lappen ab. »Auf meine alten Tage noch mal reich werden – das wäre doch eine feine Sache.«

»Was würdest du mit alldem Geld anfangen?«

Großmutter überlegte. »Meinen Enkelinnen was Schönes kaufen und … Na ja, ein paar Reisen unternehmen.«

»Afrika?«, frage ich. Ich weiß, dass Oma total auf Afrika abfährt. Ihre ganze Bude ist gerammelt voll mit nordafrikanischen Kunsthandwerk.

»Klar, Afrika. Aber auch Japan. Hm … London. Barcelona, die Ostsee – es gibt tausend Orte.«

Großmutter wirft einen letzten Blick auf ihr Gemälde.

»Was meinst du? Gemütlicher Fernsehabend in meiner Wohnung?«

Ich nicke. Vielleicht klingt das merkwürdig, aber mit Großmutter verstehe ich mich in der Regel besser als mit meinen Klassenkameradinnen.

Fünf Minuten später sitze ich auf Großmutters hartem Antiquitätensofa – der einzige Nachteil an ihrer Wohnung – und zappe mich durch die Kanäle. Irgendwie scheint überhaupt nichts zu laufen, was einen gemütlichen Fernsehabend verspricht.

»Bin gleich da!«, flötet Großmutter aus der Küche. Wenig später kommt sie ins Wohnzimmer – immer noch in dreckigen Malerklamotten – und stellt mir einen Teller mit leckeren Camemberthäppchen vor die Nase. Ich gucke sie nur kurz an, merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Camembert ist mein absoluter Lieblingskäse. Für Camembert würde ich sogar Tomatensuppe stehen lassen.

»Greif zu, ich ziehe mich nur schnell um.« Schon ist Großmutter wieder aus dem Raum.

Himmel noch mal, das Leben meint es wirklich nicht gut mit mir! Gerade habe ich mir vorgenommen abzuspecken und jetzt hocke ich hier – hilflos meinen Lieblingskalorienbomben ausgeliefert.

Nein, ich esse nichts, ausgeschlossen! Und wenn der Camembert gleich vor meiner Nase Cancan tanzt!

Ich setze mich in die äußerste Ecke des Sofas, möglichst weit weg von den Leckereien und schaue stur auf den Fernseher, wo sich zwei Brillenschlangen im Bademantel gerade so heftig küssen, dass ihre Gestelle gegeneinander krachen. Programmwechsel. Eine Kochsendung. Das kann ich jetzt wirklich nicht verkraften, also schalte ich zurück auf die Kusswütigen. Mittlerweile sind sie dazu übergegangen, sich Richtung Badewanne zu begeben, wo bereits ein tolles Schaumbad auf sie wartet.

Ich riskiere einen Blick auf die Häppchen. Sie sehen noch genauso lecker aus wie vor drei Minuten. Wären sie doch bloß schon verschimmelt! Ich beuge mich vor und schnuppere daran, als Großmutter mit einer Flasche Rotwein und einem Glas Orangensaft zurückkommt.

»Bedien dich doch!«, sagt sie fröhlich, und während sie sich einschenkt, fügt sie hinzu: »Schon einen Film ausgesucht?«

»Läuft nichts.«

Großmutter setzt sich neben mich und studiert die Programmzeitschrift.

»Wie wär’s mit einer Reportage über Herzinfarkte?«, fragt sie über den Rand ihrer Lesebrille hinweg.

»Bloß nicht!«

»Na gut.« Mit der Fernbedienung schaltet sie den Fernseher aus. »Dann werden wir uns eben so amüsieren müssen.« Großmutter deutet mit dem Kopf auf das Glas Orangensaft und prostet mir mit ihrem Wein zu.

Wie viele Kalorien hat Orangensaft?, überlege ich in einem Anflug von Panik, während ich einen winzigen Schluck nehme. 100? 200? Warum habe ich bloß noch keine Kalorientabelle? So kann das ja nichts mit mir werden!

»Magst du nicht?« Großmutter langt auf den Häppchenteller und fängt mit großen Appetit an zu essen.

»Ich hab mich beim Abendbrot total voll gestopft«, sage ich und starre auf die Bongos rechts neben dem Sofa. Eigentlich hat Großmutter es nicht verdient, dass ich sie anlüge, aber ich weiß mir eben nicht anders zu helfen.

»Billi nicht zu Hause?«, fragt sie weiter.

»Nö. Die probt neuerdings auch abends.«

»Ist nicht leicht für dich, mh?«

»Wie …?«

Ich setze mich aufrecht und sehe Großmutter an. Mir doch egal, ob Billi auch noch abends tanzt. Und wenn sie es die ganze Nacht lang täte!

»Dass Billi jetzt so erfolgreich ist, meine ich.« Großmutter setzt ihr Glas ab und klemmt sich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Quatsch«, sage ich und lange einfach so nach einem Camembert-Häppchen. Zu blöd, dass es nicht mal so gut schmeckt, wie ich erwartet habe.

»Ich weiß, dass Sabine jetzt nur noch Billi und das Ballett im Kopf hat, aber das hat nichts zu bedeuten …«

Nein. Hat es nicht. Und dass sich meine Mutter überhaupt nicht für meine Eins in Geografie interessiert, hat auch nichts zu bedeuten. Schwupps – landet ein zweites Camemberthäppchen in meinem Mund, dann ein drittes und schließlich ein viertes. Ich kaue mit vollen Backen, es schmeckt, und während ich nach einem weiteren Happen greife, denke ich noch, ist doch total wurscht, wie deine Figur aussieht, an Billi werde ich sowieso nie rankommen.

»Soll ich dir was verraten?« Großmutter legt ihre Stirn in Falten und schnappt sich auch ein Stückchen Käse. Wahrscheinlich hat sie Angst dass ich ihr noch alles wegfresse. »Nicht dass du denkst, ich habe die Tanzbegeisterung deiner Mutter damals gutgeheißen …«

»Ach, echt nicht?«, fragte ich erstaunt. Und ich war immer der Meinung, Ballett sei in unserer Familie so etwas wie ein Heiligtum.

Großmutter schüttelt eine ganze Weile den Kopf. Dann guckt sie mich etwas verwirrt an, als wäre sie gerade aus einem merkwürdigen Traum aufgewacht.

»Dass Billi Tänzerin wird, gefällt mir genauso wenig.«

Jetzt bin ich wirklich baff. »Und warum nicht?« Der vorletzte Camembert-Happen verschwindet in meinem gierigen Schlund.

»Es gibt viele Gründe.« Großmutter schenkt sich noch Wein nach und schiebt mir die Orangensaftflasche rüber. »Weißt du, diese Schinderei, tagein, tagaus – wofür das alles? Einmal im Rampenlicht stehen, schön und gut, aber mit dreißig ist die Karriere zu Ende und der Körper ausgelaugt.«

Mein Reden! Aber wenn Billi sich für das bisschen Applaus kaputtmachen will, bitte schön!

»Und wieso verbietet ihr es ihr nicht einfach?«, frage ich. Eine klasse Vorstellung. Billi würde zwar einen Monat lang nonstop heulen, aber danach wäre das Thema Spitzenschuhe und rosa Plüschzimmer wahrscheinlich ein für alle Mal vom Tisch.

Großmutter lächelt. »Jeder muss seine Erfahrungen machen, Nina. Seinen eigenen Weg gehen. Stell dir nur mal vor, ich würde dir verbieten diesen Camembert hier zu essen. Dann würdest du doch sofort in die Küche laufen und dir trotzig den ganzen Rest in den Mund stopfen!«

Wie Recht Großmutter hat! Am liebsten würde ich das jetzt wirklich tun. Da ich nun schon mal am Futtern bin …

Übellaunig greife ich nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Wie es der Zufall will, läuft gerade eine Reportage über eine Moskauer Ballettschule. Großmutter guckt sogleich interessiert auf den Bildschirm. So völlig egal scheint ihr Ballett wohl doch nicht zu sein. Ohne noch ein weiteres Wort zu reden, schauen wir uns die Reportage brav bis zu Ende an. Ich muss gestehen, dass mich die Geschichte dieses Mädchens, das mit seinen drei Geschwistern den Eltern und der Großtante in einer Dreizimmerwohnung lebt und alles dransetzt, einmal Tänzerin zu werden, doch sehr beeindruckt.

Dann ist es zehn. Zeit, endlich runterzugehen. Großmutter gibt mir einen Gutenachtkuss und fragt mich, ob ich Lust hätte, in den nächsten Tagen mit ihr ins Altenheim zu fahren, wo sie einen Termin bei der Geschäftsleitung hat.

»Mal sehen«, sage ich und schleiche mich irgendwie deprimiert in unsere Wohnung. Aus Billis Zimmer tönt leises Klaviergedudel. Wahrscheinlich beschließt sie ihren Tag mit ein paar eleganten Stretchingübungen.

Als ich in mein Zimmer komme und ich noch einmal den Diätzettel aus meiner Schreibtischschublade hole, bin ich nicht nur deprimiert, sondern geradezu verzweifelt. Erst ein paar Stunden ist es her, dass ich meinen Plan gefasst habe, und schon bin ich rückfällig geworden! Morgen muss alles anders werden.

Nie mehr Keks und Schokolade

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