Читать книгу Nie mehr Keks und Schokolade - Susanne Fülscher - Страница 7
Оглавление4Immer noch 54 ½ Kilo – daran ist nichts zu rütteln. Der Camembert – natürlich … Ich stehe bei Brenneke an einem der Stehtische, trinke eine Tasse Kaffee und blättere eine Modezeitschrift durch. Die ersten beiden Stunden Deutsch bei Frau Brückner fallen aus, was mir sehr entgegenkommt. Mode für Mütter mit Kind, Langhaarfrisuren … interessiert mich nicht so brennend, aber dann stoße ich auf eine Kalorientabelle zum Heraustrennen.
Wow! – eigentlich könnte ich sie doch eben mal schnell einstecken.
Zum Glück schauen die Kaffeeverkäuferinnen gerade nicht hin, als ich kurz entschlossen meine Schultasche öffne und das kleine Heftchen hineingleiten lasse. Immerhin ein Anfang – der Anfang eines neuen Lebens?
Die restlichen vier Stunden Unterricht werden heute für mich zur Strapaze. Weil ich einerseits aufpassen muss, andererseits aber viel lieber in der Tabelle lesen will. Ich bin ziemlich neugierig, wie viele Kalorien zum Beispiel eine Banane hat, ein Apfel, ein Riegel Schokolade …
In der zweiten großen Pause schließe ich mich im Klo ein und vertiefe mich ins Heftchen. Das hat gleich zwei Vorteile: Ich lerne etwas dazu und komme dabei nicht auf die Idee, das Pausenbrot aufzufuttern, das Mama dick mit Gorgonzola belegt hat. Leider muss ich es nach der sechsten Stunde in den Müll werfen, tut mir Leid, liebes Brot, aber Vorsätze sind nun mal Vorsätze. So eine Schlappe wie gestern möchte ich nicht noch einmal erleben.
Zwar habe ich Mama versprochen pünktlich zum Mittagessen zu erscheinen, aber die Vorstellung, dass es heute Nudeln in Lachssahnesoße gibt – mein Lieblingsgericht Nummer zwei! –, lässt mir den kalten Schweiß ausbrechen. Und schon habe ich einen anderen Plan. In der Hoffnung, dass noch Einheiten auf meiner Telefonkarte sind, laufe ich in die nächste Zelle.
Schnauf – Glück gehabt!
»Mama?«, sage ich atemlos in den Hörer.
»Ist was passiert?«
»Nein! Du, ich stehe hier gerade mit ein paar Mädels aus meiner Klasse, wir wollen noch Hamburger essen gehen und danach …«
»Hast du Geld dabei?«, redet Mama dazwischen.
»Ja! Und später schaue ich noch beim Sportverein vorbei. Mal sehn, was da so läuft.«
»Aber wieso, ich dachte …«
»Eigentlich würde ich ganz gerne wieder eintreten«, sage ich schnell. »Handball wäre nicht schlecht.«
Einen Moment lang ist kein Pieps zu hören. Dann meint Mama mit monotoner Stimme. »Ist in Ordnung. Wenn du wieder zum Sport gehen möchtest – von mir aus.«
»Danke!«, sage ich und lege auf.
Der Sportverein, ich und meine Mama – das ist so ein Thema. Was ich auch verstehen kann. Zumindest ein bisschen. Ich war nämlich schon einmal angemeldet, dann hat mir die Turngruppe aber gestunken und Mama hat mich wieder abgemeldet, zwei Wochen später wollte ich doch wieder hin und Mama musste mich erneut anmelden. So ging das ein paar Mal, bis Mama meinte, Schluss, aus, sie habe keine Lust mehr. Entweder würde ich mich fürs Turnen entscheiden oder ich solle es eben bleiben lassen.
Ich weiß auch nicht, warum das so ein Hin und Her bei mir ist, aber irgendwie finde ich, dass ich ein Recht habe, verschiedene Dinge auszuprobieren. Und auf Handball hätte ich wirklich Lust. Erstens bin ich in der Schule eine der Besten darin, zweitens kann man sich dabei so richtig auspowern und drittens macht die Leiterin Andrea einen sehr netten Eindruck.
Andrea trainiert gerade die A-Jugend, als ich in die Halle komme. Ich winke ihr zu und hoffe, dass sie mich wieder erkennt. »Bin gleich bei dir!«, ruft sie mir sogleich zu und verdammt die Kids zu ein paar Runden Dauerlauf. Andrea streicht ihre kurzen blonden Haare zurück und sprintet einmal quer durch die Halle auf mich zu.
»Nina. Richtig? Du heißt Nina.«, begrüßt sie mich so freundlich, als würde ich schon x Jahre bei ihr trainieren. Sie tippt mir vorne auf die Jacke. »Turnst du noch bei Elke?«
»Nein …«, fange ich an, aber Andrea unterbricht mich im selben Atemzug und sagt, sie würde sich sehr freuen, wenn ich zu ihr in die Mannschaft käme, ich sei doch sicher ein richtiges Handball-Ass, und überhaupt – Turnen sei ja auch nur was für Tussis, nichts für echte Mädchen.
Klasse. Ich stehe da und brauche gar nichts weiter zu sagen. Andrea nimmt mir die ganze Arbeit ab. Zehn Minuten später sind wir uns einig. Ab sofort bin ich Mitglied der B-Jugend, muss dafür dreimal die Woche zum Training kommen und mir die Wochenenden für Turniere freihalten.
Nichts lieber als das. Je mehr Bewegung, desto schneller schmilzt mein Fett.
»Dann morgen Nachmittag um drei?«, fragt Andrea, während sie schon wieder ihre Gruppe ansteuert.
»Morgen um drei!«
Bestens gelaunt dackele ich zum Bus. Irgendwie ist mir jetzt verdammt nach einem Schokoriegel oder wenigstens nach einem klitzekleinen Bonbon, aber das verkneife ich mir lieber. Selbstdisziplin ist alles im Leben.
»Mensch! Pass doch auf!«, höre ich eine knattrige Stimme, gleich darauf sehe ich einen Jungen mit Sporttasche vor mir groß – blond und ziemlich dünn – wir sind gerade ziemlich unsanft zusammengeprallt.
»Ich geb dir einen Tipp«, sagt der Typ jetzt. »Mach einfach die Augen auf, wenn du die Straße langgehst.«
»Selber!«
Schon laufe ich weiter. So ein Motztyp hat mir gerade noch gefehlt! Von dem lasse ich mir jedenfalls nicht meine Laune verderben! Zumal das Wetter wunderwunderschön ist. Blauer Himmel, ein paar Schäfchenwölkchen ziehen ihre Bahn und es ist herrlich mild.
Zu Hause bin ich immer noch gut gelaunt. Und als Mama mich fragt, ob sie mir die Nudeln aufwärmen solle, gebe ich vor von den zwei Riesenhamburgern noch pappsatt zu sein.
Das ist natürlich gelogen. In Wirklichkeit kneift und pikt es vor Hunger in meinem Magen und es hilft auch nichts, dass ich permanent draufklopfe und ihm befehle gefälligst damit aufzuhören. Die Hausaufgaben überstehe ich gerade eben noch, dann wird mir wirklich fast übel und ich laufe schnell in die Küche, um mir einen Apfel zu holen.
Zu meinem Erstaunen ist Billi da. Sie sitzt am Küchentisch, näht Bänder an ihre Spitzenschuhe und stopft sich in einer Tour Jogurtschokolade rein. Die Frau hat’s gut.
»Was machst du hier?«, pampe ich sie an, weil ich es ziemlich frech finde, dass sie mit ihrem Tanzkram die ganze Wohnung in Anspruch nimmt.
»Siehst du doch. Schuhe ausbessern.«
»Keine Probe? Kein Training?« Hektisch beginne ich einen Apfel zu schälen.
»Nö.« Sie sieht kurz hoch und lächelt zuckersüß. »Heute Nachmittag hatten wir frei. Der Choreograf für »Sacre« kommt erst übermorgen aus L. A.«
»Ach so.« Gierig stopfe ich mir ein Stück Apfel in den Mund. Aus L. A. kommt er, der Choreograf für »Sacre«! Genauso gut könnte sie mir erzählen, dass es in Hintertupfingen eine neue Müllverbrennungsanlage gibt.
»Hey – wie findest du mein Trikot?« Billi springt vom Stuhl und lüpft ihr Kleidchen. Darunter kommen lange und dünne Beine, umhüllt von Synthetikwürsten in einer undefinierbaren Schlammfarbe, zum Vorschein.
»Ist das jetzt der letzte Schrei?«, frage ich.
»Cool, was?« Billi macht eine Arabesque.
»Ich weiß, dass du tanzen kannst«, sage ich noch eine Spur zickiger.
»Nur kein Neid!« Billi setzt sich wieder und wirft mir einen mütterlich fürsorglichen Blick Marke Mama zu.
»Du könntest übrigens auch mal ein paar neue Klamotten gebrauchen.«
Ach was. Super Erkenntnis. Ich schaue an mir runter.
Gut, die Kneif-Jeans kombiniert mit Papas altem Schlabbersweatshirt hat nicht gerade was von Haute Couture, aber der kackbraune Rock von neulich müsste doch eigentlich ganz nach Billis Geschmack sein.
»Was geht dich das überhaupt an?«, blaffe ich Billi an.
»Es kann dir doch vollkommen egal sein, wie ich rumlaufe.«
Fast kommt es mir vor, als wäre Billi eine Sekunde lang irritiert oder erschrocken, aber dann legt sie sofort wieder ihr überhebliches Grinsen auf.
»Hör mal, jeder will doch … sagen wir … vorteilhaft aussehen. Kannst mir nicht erzählen, dass es auch nur einen Menschen auf der Welt gibt, der völlig uneitel ist!«
»Ach, und du findest also, dass ich unvorteilhaft aussehe – im Gegensatz zu dir, mh?«
»Na ja …« Billi senkt den Kopf, um sich wieder ausführlich ihren Stopfarbeiten zu widmen. Am liebsten würde ich ihr ein paar scheuern. Was bildet sich die Gans überhaupt ein? Ist einfach von Natur aus mit Schönheit, einer bombastischen Figur und Talent ausgestattet worden und maßt sich an bei ihrer dicklichen, kleinen Schwester die Typberaterin zu spielen!
Ohne groß nachzudenken, stehe ich auf, laufe zum Kühlschrank und zerre die Käsebox raus. Ein ziemlich fettes Stück Gorgonzola landet in meinem Mund, und während ich es runterwürge, denke ich nur, Mist, Mist, Mist, jetzt ist meine Schwester schuld, dass ich meine Diät nicht durchhalte!
»Mampf, mampf, mampf!«, kommt sogleich ihre süßsaure Stimme aus Richtung Küchentisch. »Von Käse kriegt man Pickel!«
Ich knalle die Käsebox auf die Spüle und will gerade aus der Küche laufen, als Mama mir den Weg versperrt.
»Was ist denn hier los?«
»Nichts«, meint Billi ungerührt. »Ich war nur so nett und wollte Nina ein paar schwesterliche Tipps geben. Aber wenn sie nicht auf mich hören will …«
Mama schaut mich an und ich weiß, was sie denkt. Immer musst du den Familienfrieden stören, das waren noch Zeiten, als du brav mit deinem Püppchen Lorelei gespielt hast, was ist neuerdings bloß mit dir los? Aber Mama traut sich nicht die Wahrheit zu sagen, natürlich nicht, und auch Billi tut, als habe sie das Sprechen verlernt. Mama löst sich jetzt aus ihrer Erstarrung.
»Wer von euch geht einkaufen?« Ihre sonst so wohl geordnete Frisur sieht heute ziemlich strubbelig aus. So, als hätte sie mit Papa rumgeknutscht, was sie aber mit Sicherheit schon seit tausend Jahren nicht mehr getan hat.
»Wieso gehst du nicht einkaufen?«, fragt Billi divenmäßig.
»Weil ich schon den ganzen Tag für euch schufte, da ist es wohl nicht zu viel verlangt …«
»Ich habe meine Exercice noch nicht gemacht«, unterbricht Billi sie und schaut mich erwartungsvoll an. Mich! Die fette Kuh der Familie, den Trampel vom Dienst.
»Nina …?« Mama richtet jetzt ebenfalls die Augen auf mich.
»Warum denn immer ich? Ich muss noch eine Mathearbeit vorbereiten, Englischvokabeln lernen, Französisch …«
»Dir als Streberin wird eine halbe Stunde Schulbuchabstinenz wohl kaum schaden«, sagt Billi.
Ich wünschte, ich könnte meine Schwester mit einer Rakete zum Mond schießen. Einmal fort – immer fort.
»Bitte, Nina! Du darfst dir auch was Leckeres mitbringen. Der Einkaufszettel liegt im Schuhregal.«
Nur weil ich Mamas sorgentriefenden Blick nicht ertragen kann, schnappe ich mir meine Jacke und laufe zum Supermarkt um die Ecke. Erst als ich ein Markstück in den Schlitz des Einkaufswagens stecke, beruhigen sich meine Nerven langsam wieder. Eigentlich ist es doch allemal besser, auf diesem graubraun gemusterten Kachelboden Schlangenlinie zu fahren, als zu Hause die ewig gleichen Gesichter meiner Familienmitglieder zu studieren!
Plötzlich habe ich eine Idee. In der Gemüseabteilung lege ich Möhren, Salatgurken und Boskopäpfel in den Wagen – meine Ration für die nächsten Tage –, ansonsten werfe ich Kartoffeln, zwei Pakete Butter, zwei Becher Créme frâiche, zwei Becher Sahne, drei Pakete geriebenen Käse und vier besonders fett aussehende Hühnerbeine oben drauf.
Hihi! So viele schöne Kalorien, mit denen sie sich voll stopfen werden!
Zu Hause hat Billi inzwischen das Feld geräumt. Mama beschäftigt sich mit ihren Topfpflanzen – jedenfalls kommt so ein gleichmäßiges Schnippschnapp-Geräusch aus dem Arbeitszimmer. Das ist eine eiserne Regel in unserer Familie. Sobald Mama sich mit ihren Blumentöpfen abgeschottet hat, darf man sie nicht behelligen. Ich habe mich oft gefragt, was sie da vor sich hin denkt, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es irgendwie mit uns und ihrer verkorksten Karriere zu tun hat. Ich bin schuld daran, dass sie nie das getan hat, was sie immer tun wollte. Klar, Billi auch. Aber die ist wenigstens so nett und zeigt Mama, wie man eine vorbildliche Ballettkarriere hinlegt.
Umso besser, dass mich niemand stört. Ich habe freie Bahn … Zunächst schäle ich die Kartoffeln, schneide sie in dünne Scheiben und schichte sie in eine Auflaufform. Darauf kommt eine Masse aus viel Butter, Sahne, Créme frâhe und drei Packungen Reibekäse. Yippie! Ich sehe schon, wie Billi das Zeug in sich reinschaufelt, und vielleicht wird sie sogar zunehmen. Ebenso Mama, die immer so verbissen auf ihre Linie achtet. Alle werden sie mein Gratin essen und keine Ahnung haben, wie viel fettiges Zeug gerade in ihren Magen wandert.
Nachdem ich den Auflauf in den vorgeheizten Ofen geschoben habe, mache ich mich ans Würzen der Hühnerbeine. Salz, Pfeffer, da steht Mama plötzlich in der Küche. Sie sieht um einiges besser gelaunt aus als vorhin, was wahrscheinlich hauptsächlich daran liegt, dass ich sie mit der Kocherei überrasche.
»Wie nett von dir! Was gibt’s denn Leckeres?«, flötet sie.
Typisch. Sobald man was für den Familienfrieden tut, ist man die beste Tochter der Welt. Aber sie haben sich geschnitten! Ahnen nicht, was in Wirklichkeit hinter meiner Liebkind-Fassade steckt …
»Hühnerbeine in Salbeisoße und Kartoffelgratin.« Ich grinse selbstgefällig.
»Hm!«
Mama tätschelt mir die Wange, wie sie es vielleicht vor zehn Jahren zuletzt getan hat, geht dann mit den Worten raus: »Ich decke schon mal den Tisch.«
Ha! Reingelegt! Was für ein teuflisches Vergnügen kochen doch sein kann! Denn während das Fleisch so schön in der Pfanne vor sich hin brutzelt, hole ich den letzten Topf Sahne aus dem Kühlschrank, kippe den Inhalt zusammen mit einer halben Hand voll Salbei zu den Hühnerbeinen und als Krönung spendiere ich noch ein riesiges Stück Butter.
Mittlerweile duftet es schon richtig lecker aus dem Ofen. Ohne dass ich es verhindern kann, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Nein, ich werde nichts essen, ich habe keinen Hunger, im Gegenteil – eigentlich bin ich schrecklich satt! Zwar fängt es gerade in meinem Bauch an, zu rumoren, aber das hat nichts zu sagen. Ein bisschen Salatgurke muss reichen.
Ich stelle die Gasflamme kleiner, stopfe mir ein Stück Gurke in den Mund und hole rasch die Kalorientabelle aus meinem Zimmer.
Zuerst schaue ich nach, wie viele Kalorien mein Camembert-Ausrutscher vorhin gehabt hat. Mich trifft fast der Schlag. Ein Happen Camembert und gut 100 Kalorien verfetten meinen Körper! Das muss anders werden. Von jetzt an werde ich nur noch Sachen mit wenig Kalorien essen.
Zum Beispiel Buttermilch. Ein Glas hat 78 Kalorien, eins mit Magermilch nur 72. Was ist noch wichtig? Ah ja – Knäckebrot. Eine Scheibe hat 32 Kalorien – in Ordnung, ein Esslöffel Hüttenkäse 27, ein Apfel 70, ein Riegel Schokolade 100, ein Milchkaffee …
»Wow – es gibt was Geiles zu futtern?« Im selben Moment steht Billi neben mir und spechtet neugierig in die Pfanne mit den Hühnerbeinen.
Hastig verstecke ich die Kalorientabelle unter meinem Pullover, was Billi natürlich nicht entgeht.
»Was hast du denn da?«
»Geht dich das was an?«
»Na, los! Zeig her!«
Billi stürzt sich mit Karacho auf mich und wühlt sich unter meinem Pullover.
»Hau ab!«, kreische ich, so laut ich kann. Zwei Sekunden später erscheint zum Glück Mama und bringt uns auseinander.
»Was soll das? Seid ihr vollkommen verrückt geworden?«
»Nina versteckt was vor mir«, sagt Billi prompt. Ich wusste ja schon immer, dass sie IQ-mäßig gerade mal auf der Stufe eines Huhns steht.
»Dann ist es noch lange kein Grund, es sehen zu wollen. Nina muss dir nicht alles zeigen.«
Eins zu null für mich. Es beruhigt mich kolossal, dass in dieser Familie wenigstens hin und wieder noch Gerechtigkeit herrscht – auch wenn ich es diesmal nur meinem Kocheinsatz zu verdanken habe.
Eine halbe Stunde später essen wir.
»Georg hat leider noch in der Kanzlei zu tun«, sagt Mama in meine Richtung. »Aber ich stelle ihm was von deinem köstlichen Essen warm.«
Das Essen schmeckt tatsächlich köstlich. Jedenfalls beteuern das Mama und Großmutter immer in einer Tour. Billi sagt gar nichts, stopft aber, was das Zeug hält. Grund genug, mich diebisch zu freuen.
»Isst du nichts?«, will Großmutter wissen.
»Ich hab beim Kochen ungefähr hundertmal probiert, ehrlich, ich bin total satt. Vielleicht esse ich später noch mit Papa einen Happen.«
Keiner sagt was. Alle glauben mir und sehen nicht, wie hungrig ich in Wirklichkeit bin. Wenn ich wollte, könnte ich Mama, Großmutter und Billi die Teller wegreißen und alles, was noch drauf ist, in einem heftigen Fressanfall wegschaufeln. Könnte ich … Und dann noch zum Kühlschrank rennen und den ganzen Camembert aufessen, die Schokolade im Vorratsschrank, das leckere Graubrot mit dick Butter und Honig bestreichen …
Ich reiße mich zusammen. Schaue, wie sie Happen für Happen in ihrem Mund verschwinden lassen, wie sie kauen und schlucken und ziemlich widerliche Geräusche machen, und fühle dabei so etwas wie Triumph. Ich bin stark! Ich schaffe es! Ich hab es nicht nötig, mich mit so banalen Dingen wie Essen abzugeben!
»Was grinst du denn so?«, fragt Billi. »Bist du gerade dabei, uns zu vergiften, oder was?«
Im selben Moment krümmt Billi sich und fängt an zu stöhnen, dann röchelt sie und sinkt in Zeitlupentempo von ihrem Stuhl. Mama und Großmutter gucken entsetzt, schließlich reagiert Mama und kniet neben Billi nieder.
»Was hast du?«, ruft sie mit weinerlicher Stimme und brüllt dann hysterisch in Großmutters und meine Richtung: »Ruft doch den Notarztwagen! Schnell!«
Im gleichen Moment schlägt Billi die Augen auf und grinst Mama an. War doch klar, dass sie nur Theater gespielt hat. Wie kann man nur so blöd sein und auf so etwas reinfallen!
»Okay, Leute«, sage ich ungerührt. »Ich gehe Hausaufgaben machen.«
Schon bin ich aus dem Raum und erspare mir die Fortsetzung dieser finsteren Angebervorstellung. Warum muss meine Schwester nur immer im Mittelpunkt stehen?