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2.1.2.2.1 Formale Struktur des Seins

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Zur Bestimmung der formalen Struktur des Seins greift Balthasar die thomanische Lehre von der Realdistinktion, i. e. von einer alles weltlich Seiende durchwaltenden „reale(n) Differenz zwischen dem Sein als Wirklichkeit und den einzelnen Wesen“126 auf. Das Sein, so betont Balthasar immer wieder, ist hier zum letzten Mal Mysterium, bevor es zum eindeutigen Begriff formalisiert wird.127 Sein Anliegen ist es, diese Geheimnishaftigkeit wieder neu bewusst zu machen, um dergestalt einen Ansatzpunkt zur Überwindung der Formalisierung des Seinsbegriffs zu einer Kategorie menschlichen Denkens und somit auch des theologischen Bewältigungsdenkens zu gewinnen. In diesem Sinne also greift er die Realdistinktionslehre auf, um sie ausgehend vom Einzelmenschen über vier Stufen vertiefend zu entfalten.128 „Dabei sieht Balthasar die Differenz nicht nur zwischen … Seienden und Sein, Wesenheiten und Sein sondern zutiefst als die Differenz zwischen allgemeinem Sein und Gott.“129

Ansatzpunkt ist die Erfahrung der Kontingenz des eigenen Daseins, der jeder Mensch in der Begegnung mit anderen Seienden unweigerlich ausgesetzt ist. „Ich kann mich … nie als ein solches Glied am Organismus des Weltseins verstehen, daß ohne mein Dasein dieser Organismus nicht bestehen und heil funktionieren könnte. Ich kann mir nicht die Seinsdignität und den Notwendigkeitsgrad zudenken, die der Welt im ganzen eignen.“130 Es klafft also zunächst einmal eine Differenz auf zwischen der Zufälligkeit des je einzelnen Daseins und der Faktizität des Seins der Welt.

Weil der Mensch nun ein soziales Wesen ist, begreift er zugleich darüber hinaus, „daß alle übrigen Seienden zum Sein im gleichen Verhältnis stehen“131. Somit vertieft sich die Differenz auf einer zweiten Stufe: Weil alle Seienden in Ihrem Wirklich-Sein das Sein als Ganzes in sich haben, ist das Sein keinesfalls mit der Summe der Seienden identisch zu setzen. Vielmehr hat das Sein einerseits eine unerschöpfliche, auch über die Summe aller möglichen Seienden hinausgehende Fülle, wobei es aber andererseits zu seiner Verwirklichung gleichzeitig notwendig auf ein konkretes Seiendes angewiesen ist. Beide Momente, das Da-Sein wie das konkrete So-Sein, sind unlösbar miteinander verbunden, ohne jedoch jemals zusammenzufallen oder auf einander rückführbar zu sein. „Das Ganze der Wirklichkeit existiert je nur im Fragment eines endlichen Wesens, aber das Fragment existiert nicht, es sei denn durch das Ganze des Wirklichseins.“132

An dieser Stelle zeigt sich, dass sich Balthasars „metaphysische Wende zum Singulären“133 keineswegs auf einen rein gnoseologisch motivierten Perspektivenwechsel beschränkt, sondern auch sein Seinsverständnis zutiefst durchdringt. Seine Ausführungen zur thomanischen Lehre von der Realdistinktion weichen nämlich deutlich von der traditionellen Interpretation ab, die ein Gefälle implementierte, indem sie dem Sein die Funktion zusprach, das Wesen ins Dasein zu rufen. Balthasar betont demgegenüber den wechselseitigen Bedingungszusammenhang zwischen Da-Sein und So-Sein.134 „Das Sein ist selber auf die Wesenheiten ‚angewiesen‘.“135 Indem Individualität dergestalt als konstitutives Moment des Seins ausgewiesen wird, wird ihr zugleich eine ganz neue Dignität zugesprochen.136

Balthasars Sicht auf die ontologische Differenz impliziert aber noch ein Weiteres. Wenn nämlich jedes Seiende seinem Wesen nach immer in der unauflösbaren Spannung zwischen der Überfülle der Seinsmöglichkeiten und seinem faktischen So-Sein steht, dann ist „das Wesen … also weit davon entfernt, jeweils verwirklicht zu sein.“137 Vielmehr ist weltliches Sein als eine unaufhaltsame Bewegung, als ein Pendeln zwischen den beiden Polen zu beschreiben. In diesem Sinne ist „eine mit der Dasein-Sosein Polarität im endlichen Seienden unmittelbar mitgegebene Struktur … dessen Zeithaftigkeit.“138 Zeit wird zunächst einmal als Gegenwart erfahren; „in ihr meldet sich das Da des Seins“139. Weil nun aber die Fülle des Seins immer weit über die an ihr teilhabende konkret daseiende Verwirklichung hinausgeht, wohnt jedem Dasein zugleich die Verheißung zukünftiger Möglichkeiten inne. „Zukunft ist der Überschuß über die Gegenwart, der aber nicht hinter, sondern gerade in ihr verborgen liegt“.140 Balthasar geht deshalb so weit zu mutmaßen, Realdistinktion und Zeit seien letztlich nichts anderes, als zwei unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Wirklichkeit.141 Er rückt also deutlich von dem zeitlos-statischen Seinsbegriff der klassischen Metaphysik ab und setzt seinerseits ein Verständnis dagegen, wonach „das Phänomen der Zeit ins Herz der geschöpflichen Ontologie hinein gehört“142.

In der Erkenntnis der wechselseitigen Bedürftigkeit von Sein und Seiendem wird nun nach Balthasar das menschliche Denken weitergetrieben. Indem es begreift, dass das Sein keinen Bestand in sich hat, muss es auf einer dritten Stufe unweigerlich auch einsehen, „daß das Sein im ganzen oder das Wirklichsein alles Wirklichen die wirklichen Wesenheiten nicht aus sich selber entlässt, weil verantwortendes Auszeugen von Formen selbstbewußten freien Geist voraussetzen würde.“143 Hinter dem zu seiner Verwirklichung auf das Seiende angewiesenen und in diesem Sinne unfreien Sein muss also notwendig ein dieses Sein und damit auch alles weltlich Seiende begründendes, freies, subsistierendes, absolutes Sein gedacht werden. An der Nichtsubsistenz des Seins „bricht … die letzte (vierte; S. H.) Tiefe der Differenz, die Gegenüberständigkeit von Gott und Welt auf.“144

Damit nun sieht Balthasar die thomanische Definition des Seins als „die erste von Gott ausströmende Weltwirklichkeit, woran teilnehmend alle Wesen wirklich sind“145, eingeholt. Er erkennt gerade darin die „schöpferische Hauptleistung“146 des Thomas, in aller Deutlichkeit zwischen dem Sein als Weltwirklichkeit und Gott als Quelle eben dieser Wirklichkeit unterschieden zu haben. Zum einen wird dadurch natürlich „Gott … über alles Weltsein, alle Berechenbarkeit und Anzielbarkeit hinaus entrückt, als das ernstlich Ganz-Andere“147. Indem Balthasar diese Bestimmung seinerseits über einen anthropologischen Zugang zu bestätigen sucht, trägt er also zunächst einmal seinem Anliegen Rechnung, das absolute Sein Gottes auf auch für heutiges Denken plausible Weise als jedem Zugriff durch die menschliche Vernunft grundsätzlich entzogen auszuweisen und so jedwedem Bewältigungsdenken den Boden zu entziehen. „Gott kann von der Welt aus nicht dadurch ‚konstruiert‘ werden, daß dem ‚einfachen, unteilbaren, aber nicht subsistierenden‘ Wirklichen eine un-endliche Wesenheit gleichgesetzt wird“148.

Zum anderen aber führt diese aus der Betrachtung der formalen Struktur erwachsene fundamentale Unterscheidung zwischen Gott und Sein von Balthasar auch zur Bestimmung der inhaltlichen Struktur des Seins.

Sperare Contra Spem

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