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I. Vom Sinn und Gegenstand der Rechtsgeschichte
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In Deutschland nahm die Bedeutung der Rechtsgeschichte im akademischen Unterricht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, also mit der zunehmenden Kodifikation des Rechts, kontinuierlich ab. Das Recht stand nun systematischer als jemals zuvor in den Gesetzestexten, wozu noch seine Geschichte bemühen? (Rn. 739) Rechtshistoriker engagieren sich seither für ihre Verteidigung. Das geschieht nicht nur, weil die Einheit von Lehre und Forschung dem Humboldt'schen Bildungsideal entspricht, sondern auch weil es um die Existenzberechtigung einer ganzen Disziplin angesichts begrenzter ökonomischer Ressourcen geht.
Es stellt sich aber ein klassisches Henne-Ei-Problem: Wer mit der Rechtsgeschichte vertraut ist, der weiß, dass sie für die Rechtswissenschaft genauso existentiell ist, wie die Geschichte und generell eine humanistische Bildung für das Leben in einer Gesellschaft, und das Recht ist ein wichtiger Teil jeder Gesellschaft. Wer als (angehender) Jurist hingegen auch allgemein kein solches Interesse hat, für den wird es schwierig, in der Rechtsgeschichte einen Sinn zu erkennen. Die Rechtfertigung der Rechtsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin der Gegenwart ergibt sich letztlich aus der Geschichtlichkeit des Rechts selbst.
Um längere Ausführungen zu vermeiden: Wer sich bemüht, dieses Lehrbuch zu durchdringen, der kann dadurch sehr viel vom geltenden Recht verstehen. Dieses Verständnis reduziert das mühevolle Auswendiglernen des heutigen Prüfungsstoffes, weil es hilft, die Sinnhaftigkeit des Rechtsstudiums zu erkennen. Hinter rechtlichen Problemen, Normen und Streitigkeiten stehen verschiedene individuelle Interessen oder gesellschaftliche Konflikte, deren Lösung bzw. Ausgleich die wichtigste Aufgabe des Rechts ist. Das übersieht man leicht, wenn man sich nur mit den einzelnen dogmatischen Problemen beschäftigt.
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Rechtsgeschichte hat heute eine andere Fragestellung als die Dogmatik, welche sich um die geltenden rechtlichen Regelungen und ihre Anwendung bemüht. Die Rechtsgeschichte ist – wie die Rechtssoziologie und die Rechtsphilosophie (Rechtstheorie) – Grundlage der Dogmatik. Alles zusammen genommen ergibt die Rechtswissenschaft (Jurisprudenz).
Die Rechtswissenschaft ist eine hermeneutische Disziplin (vgl. auch Rn. 28). Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen, ist die allgemeine Theorie der Auslegung. Die Bezeichnung ist abgeleitet vom Namen des griechischen Gottes Hermes, des Gottes für Wissen und schnelles Handeln. Er brachte die Botschaften des Göttervaters Zeus vom Olymp.
Das hermeneutische Erkenntnisverfahren besteht darin, sich in die Lage des Textverfassers zu versetzen, um dessen Vorstellungen nachzuvollziehen. Der kontinentaleuropäische Dogmatiker, dem heute systematische Kodifikationen zur Verfügung stehen, bemüht sich in erster Linie um das Verständnis (als Voraussetzung der Anwendung) des geltenden Gesetzes. Der Rechtshistoriker hingegen möchte einen unwiderruflich vergangenen rechtlichen Gegenstand um seiner selbst verstehen. In dieser Hinsicht sieht er den Erkenntnisauftrag der Rechtsgeschichte wie den jeder anderen Geschichtsbetrachtung; es geht nicht um die unmittelbare Nützlichkeit der einzelnen erkannten Fakten für die Gegenwart im Detail, obwohl mit Geduld immer wieder auch dafür genug abfällt.
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Früher war es die vorrangige Aufgabe des Rechtshistorikers, aktuelle Rechtstitel und Ansprüche historisch zu begründen. Dies galt vor allem für das Mittelalter und die Barockzeit, als man insbesondere die Quellen des römischen Rechts zur Beantwortung rechtlicher Fragen heranzog. Das Naturrecht (Rn. 487 ff) des 17. und 18. Jahrhunderts, mit seiner ursprünglichen Ahistorizität, eröffnete neue Wege, denen man im 19. Jahrhundert weiter folgte, aber auch eine Auslegung der Rechtssätze mit den Mitteln der historischen Rechtsschule (Rn. 656 ff) vornahm.
Bei solcher Behandlung historischer Texte zwecks Ermittlung des verwendbaren, dogmatischen Textsinns spricht man von Applikation, also Anwendung dieses Sinns auf eigenes, gegenwärtiges Handeln. Eine richtige Entscheidung lässt sich aus der Tatsache, dass etwas so und nicht anders gewesen war, indes nicht erschließen. Etwas ist nicht deswegen gerecht oder ungerecht, weil es so und nicht anders in der Vergangenheit geregelt war.