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d) Die klassische Rechtswissenschaft
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Die Juristen des Prinzipat, von Augustus bis etwa 230 n. Chr., werden traditionell als besonders vorbildlich (klassisch) angesehen, weil ihre Schriften in den Digesten Justinians überliefert sind und lange das Bild vom römischen Recht prägten. Aber schon die republikanischen Juristen hatten viel Vorarbeit geleistet (Rn. 110 ff).
Die klassische Jurisprudenz unterteilt man weiter in die Frühklassik (bis Ende des 1. Jh. n. Chr.), die Hochklassik (Blütezeit im 2. Jh.) und die Spätklassik (bis ca. 235, die Zeit der severischen Kaiser).
Außer in den Kaiserkonstitutionen bildeten diese Juristen das Privatrecht durch ihre Bücher weiter. In der klassischen Literatur entwickelte neue Rechtssätze wurden als Gewohnheitsrecht (consuetudo) wegen der ihnen eigenen gedanklichen Überzeugungskraft anerkannt. Sie galten also imperio rationis, kraft der in ihnen zum Ausdruck kommenden Vernunft.
Erst die nachklassischen Zitiergesetze (Rn. 211) legten den Werken gewisser, als besonders bedeutend angesehener Klassiker Gesetzeskraft bei. Hintergrund war der Versuch, Lösungen für Streitigkeiten oder Widersprüche in ihren Schriften zu finden. Zu Kodifikationen unter Einbeziehung von Juristenschriften kam es in den westgotischen Königreichen (Rn. 214). Der byzantinische Kaiser Justinian erhob schließlich eine umfangreiche Sammlung von Zitaten aus der klassischen Rechtsliteratur (Digesten) zum Gesetz (Rn. 218).
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Am Anfang des Prinzipats waren Juristen auch als Rechtsberater Privater tätig. Dies erfolgte nach wie vor aufgrund eines unentgeltlichen Mandats (Rn. 131, 156). Einigen dieser Juristen verlieh der Kaiser das ius respondendi ex auctoritate principis, kurz ius respondendi, also das Recht, mit kaiserlicher Autorität Anfragen zu beantworten. Hinter den Gutachten stand damit die besondere Autorität des Kaisers.
Die sog. Respondierjuristen stammten anfangs durchweg aus dem Senatsadel, der also bevorzugt wurde. Als erstem Ritter wurde das ius respondendi dem Masurius Sabinus von Tiberius, der Nachfolger des Augustus, verliehen. Im Laufe der klassischen Zeit finden sich dann zunehmend Ritter und aus den Provinzen Stammende unter den bedeutenden Juristen.[9]
Von der Hochklassik an wirkten diese Männer zunehmend in den Beratungsgremien (consilia) der Kaiser. Fast alle gehörten sie der politisch führenden Schicht an und bekleideten hohe politische Ämter, so in der Spätklassik das Amt des praefectus praetorio, des höchsten Ministers und damit das des „zweiten Mannes“ nach dem Kaiser.
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Die klassische juristische Literatur[10] umfasste vor allem drei Gattungen. Viele Autoren schrieben libri ad Sabinum (Bücher zu Sabinus). Das waren systematische Darstellungen des ius civile, des Zivilrechts im engeren Sinne (im Gegensatz zum prätorischen Recht). Die Bezeichnung geht zurück auf das (nicht erhaltene) Zivilrechtssystem des Masurius Sabinus.
Daneben gab es seit Servius (Rn. 113) Kommentare zum prätorischen (und ädilizischen) Edikt. Diese Gattung nannte man ad edictum.
Außerdem sammelten die meisten Klassiker ihre Stellungnahmen zu praktischen Fällen als quaestiones (Anfragen), responsa (Antworten) oder digesta (von digerere, aneinander reihen, vgl. das englische Wort digest). Außerdem schrieben sie zu Einzelfragen (Monographien).
Diese libri (Bücher) waren Buchrollen auf Papyrus. Folianten aus gebundenen Einzelseiten (Pergament) kamen erst in nachklassischer Zeit auf.[11] Von den Originalwerken der Klassiker ist so gut wie nichts auf uns überkommen. Mit Ausnahme der Institutionen des Gaius (Rn. 168), einem Anfängerlehrbuch, stehen fast nur die Zitate zur Verfügung, die Justinian in seinen Digesten (Rn. 218) zusammenstellen ließ.
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Früh- und Hochklassik sind gekennzeichnet durch zwei Juristenschulen, die Sabinianer und die Proculianer. Diese waren keine Schulen im heutigen Sinne, also keine organisierten Unterrichtsanstalten. Sie pflegten jedoch die Traditionen bestimmter Lehrmeinungen, weshalb man vom Schulengegensatz spricht. Letztlich waren es wohl Vereinigungen im Sinne von Innungen oder vielleicht auch Klubs, über deren Verfassung wir nichts Näheres wissen. Als Vorstand wurde das jeweils angesehenste Mitglied auf Lebenszeit berufen.
Ursache der Entstehung verschiedener Schulen soll nach der Überlieferung die Rivalität zwischen dem kaisertreuen Capito und dem kritischen Labeo (Rn. 165) gewesen sein. Vermutlich entstanden die Schulen aber erst eine Generation später, wofür die Benennung nach ihren frühklassischen Häuptern spricht: nach Sabinus (auch Cassianer nach Cassius) und Proculus.
Man hat versucht, die beiden Schulen nach generellen Merkmalen zu charakterisieren. Es ist jedoch schwer zu sagen, ob wirklich grundlegende Unterschiede bestanden.[12] Die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Schule zeigt sich in unterschiedlichen Ansichten der Juristen zu Streitfragen. Die Proculianer stellten dabei eher auf Begriffe und systematische Zusammenhänge ab, wohingegen die Sabinianer eher auf sachlogische Lösungen bedacht waren und daher Treu und Glauben (bona fides) eine besondere Bedeutung zumaßen.
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Beispielsweise beim dauerhaften Austausch von Sachen nahmen die Sabinianer einen Kaufvertrag an, die Proculianer hingegen wegen der fehlenden Gegenleistung in Geld einen Tausch (permutatio). Letztere sahen in der vorleistenden Hingabe zu Tauschzwecken lediglich einen gültigen Übereignungsgrund (causa traditionis), keinen verbindlichen, gegenseitigen Vertrag (vgl. aber Rn. 188). Allerdings hatte der gegenseitige Vollzug der Leistungen auch nach dieser Ansicht die gleichen Wirkungen wie ein Kauf, nur dass mit einer actio in factum geklagt werden musste, nicht mit der Kaufklage. Hintergrund des Streits war also letztlich die Frage, mit welcher Klage man vorgehen musste. Entsprechend unserer heute rein materiell-rechtlichen Sichtweise verweist § 480 BGB ganz unproblematisch auf die Vorschriften über den Kauf.
In der Frage, ob eine durch Verarbeitung (specificatio) entstandene neue Sache dem Eigentümer des Materials gehören sollte oder dem Verarbeitenden, entschieden sich die Sabinianer für den Eigentümer des Materials, die Prokulianer für den Verarbeitenden. Damit folgten die Juristen einem philosophischen Streit darüber, ob das Wesen einer Sache in ihrer äußeren Gestalt (forma = Proculianer im Anschluss an Aristoteles) oder ihrem Material (materia = Sabinianer im Anschluss an die Stoa) liege. Justinian wählte eine im Ansatz wohl schon in der Spätklassik (durch Paulus) aufgekommene Zwischenlösung: die Sache wurde Eigentum des Stoffeigentümers, wenn die Verarbeitung rückgängig gemacht werden konnte. Wirtschaftlich betrachtet geht es darum, ob bei einer vom Eigentümer nicht gewollten Verarbeitung das Material oder die Arbeit wertvoller ist, weshalb heute nur darauf abgestellt wird (vgl. § 950 BGB).
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Die wichtigsten klassischen Juristen sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden. Unter Augustus wirkte M. Antistius Labeo. Er gehörte zur senatorischen Opposition gegen das Prinzipat des Augustus. Politisch gelangte er bis zur Prätur; das Angebot des Augustus, consul suffectus zu werden, lehnte er ab. Trotz seiner politisch konservativen Ansichten, regte er für das Privatrecht zahlreiche Neuerungen an. Labeos Werk ist allerdings fast nur durch Zitate seiner Ansichten in den Schriften späterer Autoren bekannt. Möglicherweise hat er die prokulianische Schule begründet. Sein Schüler Proculus war jedenfalls als Schulenoberhaupt Namensgeber.
Von Masurius Sabinus war ebenfalls schon die Rede. Sein berühmtes, aber verloren gegangenes Hauptwerk waren drei Bücher zum Zivilrecht (libri tres iuris civilis). Deren System, an welchem sich spätere Juristen orientierten (Rn. 163), sah vielleicht so aus: Erbrecht – Personenrecht – Obligationenrecht – Sachenrecht. Gegenüber dem „republikanischen“ System des Quintus Mucius Scaevola (Rn. 113) waren demnach Sachen- und Schuldrecht vertauscht.
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Zur Hochklassik leitet Iavolenus Priscus über. Von ihm stammt die Warnung omnis definitio in iure civili periculosa est (Dig. 50, 17, 202 – jede Definition im Zivilrecht ist gefährlich). Er war Haupt der Sabinianer und Lehrer des Publius Salvius Iulianus – eines besonders herausragenden Juristen seiner Zeit. Julian stammte aus der Provinz, aus Hadrumentum in Afrika, machte eine große politische Karriere und wurde u. a. Statthalter in Untergermanien, dessen Hauptstadt das heutige Köln war und wo sich auch heute noch eine Statue Julians befindet. Um 130 redigierte er im Auftrag Hadrians das prätorische Edikt (Rn. 154). Seine quaestiones (Gutachten) sind durch seinen Schüler und Nachfolger im Vorsitz der sabinianischen Schule African(us) überliefert.
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Als besonders origineller Kopf unter den römischen Juristen gilt der Prokulianer Publius Iuventius Celsus (Celsus filius). Von ihm stammt die Wendung scire leges non haec est verba eorum tenere, sed vim ac potestatem (Dig. 1, 3, 17 – die Gesetze kennen bedeutet nicht, dass man ihren Wortlaut behält, sondern ihre Kraft und Macht, d.h. ihre Bedeutung). Überhaupt gilt Celsus als der Meister griffiger Formulierungen, wie etwa der Grundsatz impossibilium nulla obligatio est (Unmögliches kann nicht Gegenstand einer Verbindlichkeit sein, d.h. muss nicht geleistet werden) zeigt.[13]
Auf Celsus geht die Zerlegung von Zuwendungen in sog. Dreiecksverhältnissen in zwei Leistungen zurück, heute feste Grundlage des Anweisungs- und Bereicherungsrechts mit Ausstrahlungen bis in das Sachenrecht (Durchgangserwerb beim sog. Streckengeschäft). Ein einfaches modernes Beispiel zur Illustration: Wenn ich meine Bank anweise, meinem Gläubiger Geld zu überweisen, und die Bank tut dies, so bewirkt die Zahlung der Bank an den Gläubiger zugleich eine Leistung der Bank an ihren Kunden (mich) sowie eine Leistung des Kunden an den Gläubiger. Celsus hat diesen Vorgang soweit ersichtlich als erster dahin erklärt, man müsse ihn so auffassen, als sei das Geld vom Angewiesenen (Bank) „durch“ den Anweisenden (Kunden) an den Empfänger (Gläubiger) gelangt (Celsinische Durchgangstheorie; vgl. etwa Dig. 24, 1, 3, 12).
Persönlich war Celsus für seine ungehaltenen Antworten bekannt („Celsinische Grobheiten“):
Dig. 28, 1, 27:
Celsus libro quinto decimo digestorum: Domitius Labeo Celso suo salutem. Quaero, an testium numero habendus sit is, qui, cum rogatus est ad testamentum scribendum, idem quoque cum tabulas scripsisset, signaverit. Iuventius Celsus Labeoni suo salutem. Non intellego quid sit, de quo me consulueris, aut valide stulta est consultatio tua: plus enim quam ridiculum est dubitare, an aliquis iure testis adhibitus sit, quoniam idem et tabulas testamenti scripserit.
Übersetzung:
Celsus im 15. Buch seiner Digesten: Domitius Labeo grüßt seinen Celsus. Ich frage, ob unter die Zahl der Zeugen derjenige zu rechnen ist, der, wenn er aufgefordert wird, das Testament zu schreiben, dann auch, als er das Testament geschrieben hatte, unterzeichnete. Iuventius Celsus grüßt seinen Labeo. Ich verstehe nicht, was es sein soll, worüber du mich um Rat fragst, oder deine Anfrage ist sehr töricht. Es ist nämlich mehr als lächerlich zu zweifeln, ob jemand zu Recht als Zeuge zugegen war, weil er selbst das Testament geschrieben hatte.
Wir haben in diesem Fragment Anfrage und (unfreundliche) Antwort überliefert. Die Anfrage des Domitius Labeo war gar nicht so dumm. Sieben Zeugen sollten die Testamentserrichtung bekunden, und da kann man durchaus zweifeln, ob jemand als neutraler Zeuge geeignet ist, der an der Errichtung selbst mitgewirkt hat. Historisch gesehen hatte Celsus allerdings recht. Das alte Libraltestament war nämlich eine mancipatio, mit der der Erblasser sein Vermögen (familia pecuniave) an einen Treuhänder übereignete, damit dieser es nach dem Tode des Erblassers nach dessen Anordnungen verteilte (Rn. 66, 114). Für die mancipatio waren jedoch nur fünf Zeugen nötig. Der sechste und der siebente Beteiligte bei der Testamentserrichtung sind der frühere Käufer (Treuhänder) sowie der einstige Waagehalter. Und wenn davon einer schreibt, schadet es wohl nichts.
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Sextus Pomponius, der in der Mitte des 2. Jahrhunderts lebte, war ein fleißiger, etwas lehrhafter Sammler, von dem die einzige erhaltene, rechtshistorische Darstellung aus klassischer Zeit stammt (Dig. 1, 2, 2).
Von Gaius, gestorben nicht vor 178 n. Chr., kennen wir nicht einmal den vollen Namen. Auch sonst gibt seine Person viele Rätsel auf.[14] Die juristischen Kollegen ignorierten ihn, d.h. sie zitierten ihn in ihren Werken nicht, was sie sonst ausgiebig untereinander taten. Er gehörte, seinen Ansichten nach Sabinianer, offenbar nicht zu den vornehmen Juristen. Aufgrund seiner Werke wird vermutet, er habe nicht in Rom, sondern im Osten des Reiches gelebt. Von ihm haben wir die einzige fast vollständig überlieferte klassische Schrift, die institutiones.[15] Dabei handelt es sich um ein eingängig geschriebenes Anfängerlehrbuch. Der Historiker Barthold Georg Niebuhr entdeckte es 1816 in Verona auf einem sog. Palimpsest (Rn. 15) unter einem Text des Hl. Hieronymus. Der Gaius-Text enthält zuweilen Ungereimtheiten, und man hat daher bezweifelt, dass uns ein klassisches Original vorliegt. Die Handschrift stammt jedenfalls erst aus dem 5. Jahrhundert. Man hat vermutet, es handele sich um einen unfertigen Entwurf oder die Nachschrift eines Studenten, ein Kollegheft. Spätere Urkundenfunde bestätigen indessen, dass die Veronenser Handschrift jedenfalls einen in der Spätantike verbreiteten Standardtext wiedergibt. Die in den Digesten Justinians zitierten res cottidianae oder aureae (tägliche oder goldene Angelegenheiten) des Gaius weisen nachklassische Einflüsse auf, sodass wir hier offenbar eine spätere Überarbeitung vor uns haben.
Gaius stellte in seinem Lehrbuch den zivilrechtlichen Stoff nach dem sog. Institutionensystem in 4 Büchern dar. Dieses didaktische System hat griechische Wurzeln. Für das römische Recht ist es uns vor allem eben durch Gaius überliefert. Die Grobeinteilung bilden die wichtigsten rechtlichen Kategorien. Der Stoff wird dann (ungleichgewichtig) zugeordnet bzw. eingebaut. Konkret handelt es sich um folgende Gliederung: 1. Buch: Über das Recht im Allgemeinen und persona (Personen, mit Familienrecht); 2. Buch: res (Sachen, incl. Erbrecht); 3. Buch: obligationes (Schuldverhältnisse); 4. Buch: actiones (Klagen). Noch im Naturrecht wurde dieses System für Kodifikationen verwendet (Rn. 523, 542), aber auch weiterentwickelt – ebenso in der Pandektistik (Rn. 743), wobei jedoch die actio (Klage) in das zunehmend getrennt behandelte Prozessrecht wanderte.
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Die Spätklassiker versuchten, die vorhandene große Stoffmenge in den Griff zu bekommen. Das eigenständige Argumentieren ging zu Gunsten des Sammelns, Zitierens und Systematisierens zurück.
Aemilius Papinian(us) war Freund und Schwager des Kaisers Septimius Severus, adsessor (Beisitzer) des praefectus praetorio, Vorsteher der Kanzlei a libellis (Rn. 158) und ab 203 n. Chr. selbst praefectus praetorio. In der Nachklassik hatte er den Ruhm, der größte aller römischen Juristen gewesen zu sein. Das Zitiergesetz von 426 n. Chr. (Rn. 211) legte fest, dass bei Stimmengleichheit die Meinung Papinians ausschlaggebend sein sollte. Als Ruhmesblatt Papinians (so Ernst Rabel) wird die actio ad exemplum institutoriae actionis bezeichnet, die gegen einen freien Procurator gewährt und damit wegweisend für die Entwicklung der unmittelbaren (direkten) Stellvertretung wurde (vgl. Rn. 133 f und Rn. 210).
Severus hatte vor seinem Tode Papinian seine Söhne Caracalla und Geta anvertraut. Doch die Versuche Papinians, Frieden zwischen den Brüdern zu stiften, scheiterten. Im Jahre 212 n. Chr. ließ schließlich Caracalla Papinian hinrichten, weil dieser den Mord Caracallas an seinem Bruder und Mitkaiser Geta vor dem Volk und dem Senat nicht juristisch rechtfertigen wollte. Auch heute noch gilt er, nicht zuletzt wegen seines Märtyrertodes, als ein außergewöhnlich genialer und talentierter Jurist, den die Quellen asylum et doctrinae legalis thesaurus (den Hort des Rechts und die Schatzkammer der Gesetzeswissenschaft) nennen[16] und dem im 17. und 18. Jahrhundert jeweils eine Tragödie gewidmet wurde.
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Schüler Papinians und sein adsessor im Amt des praefectus praetorio sowie zusammen mit ihm Mitglied im kaiserlichen Consilium war Iulius Paulus. Schon der äußere Umfang seines Werkes imponiert: 16 Bücher (libri) ad Sabinum, 80 Bücher ad edictum, dazu quaestiones, responsa und Monographien. Ein Sechstel der justinianischen Digesten stammt von Paulus. Seine Werke zeigen Aufgeschlossenheit und noch viel Originalität, aber auch Ungenauigkeiten. Von ihm stammt die „Regel aller Regeln“, Dig. 50, 17, 1: non ex regula ius sumatur, sed ex iure quod est regula fiat – nicht der Regel wird das Recht entnommen, sondern aus dem Recht, wie es ist, entsteht die Regel.
Ebenfalls Schüler und Beisitzer Papinians war Domitius Ulpian(us) aus Tyros in Phönizien. Er hat noch mehr geschrieben als Paulus, war aber weniger originell. Etwa ein Drittel der Digesten Justinians besteht aus Zitaten seiner Werke. Von Kaiser Elagabal verbannt, holte ihn dessen Nachfolger, der noch minderjährige Severus Alexander in das nach dem Kaiser höchste Staatsamt des praefectus praetorio zurück. Ulpian übte auf den jungen Kaiser erheblichen Einfluss aus, was immer wieder zu Machtkämpfen führte, als deren Folge er vermutlich 223 n. Chr. bei einer Revolte seiner Prätorianer getötet wurde.
Als letzter Klassiker gilt Herennius Modestin(us), wohl ein Schüler Ulpians. Er bekleidete zwischen 224 und 244 n. Chr. das Amt des praefectus vigilum (Rn. 141), erteilte dem Sohn des Kaisers Maximinus Thrax (235-238) Rechtsunterricht und 239 n. Chr. folgte Kaiser Gordian III. in einem Reskript (Rn. 158) einem Gutachten des Modestin.
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Zur allgemeinen Charakterisierung der Schriften der Klassiker ist hervorzuheben, dass sie sich streng an die Erörterung konkreter Fälle halten. Ihre Entscheidungen sind knapp, oft gar nicht begründet. Sie sollen aus sich selbst heraus überzeugen. Gegenüber Verallgemeinerungen, Regeln, Definitionen waren die Klassiker skeptisch.
Das klassische Recht ist weit entfernt davon geblieben, ein geschlossenes System zu bilden. Allgemeine Regeln etwa über Willenserklärungen, Verträge und Leistungsstörungen wurden nicht aufgestellt. Insofern könnten manche moderne Lehrbücher des römischen Privatrechts einen falschen, auf den Systematisierungen der Pandektistik insbesondere im 19. Jahrhundert (Rn. 738) beruhenden, Eindruck vermitteln. Einschlägige Probleme wurden nur im Hinblick auf konkrete Vertragstypen erörtert. Der Irrtum etwa wurde nicht allgemein (wie in § 119 BGB) behandelt, sondern im Hinblick auf die Kaufsache (Rn. 184).
In manchen Fragen bildeten sich „herrschende Meinungen“, bezeichnet mit placuit oder placebat (von placere = gefallen, zusagen, billigen); placet deutet daraufhin, dass es sich um die Ansicht eines Juristen handelt. Maßgebende Entscheidungsgesichtspunkte waren die berechtigten Interessen der Beteiligten und das Beherrschungsvermögen, aber auch die Billigkeit (aequitas) im Sinne gerechter Güterzuteilung. Gelegentlich wurden philosophische Erwägungen herangezogen. Das gilt nicht nur für die Definition des Rechts überhaupt, sondern auch für Einzelfragen, etwa die Abgrenzung relevanter Irrtümer von irrelevanten oder das Eigentum an einer durch Verarbeitung entstandenen Sache (Rn. 164). Hier überzeugen die Ergebnisse oft weniger.
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Während wir es gewohnt sind, zunächst die materielle Rechtslage zu klären – z. B. das Bestehen eines Vertrages oder den Verbleib des Eigentums – und erst dann die sich daraus ergebenden Ansprüche (etwa aus § 433 oder § 985 BGB) sowie Rechtsbehelfe (Klagen usw.) ermitteln, gingen die römischen Klassiker in ihrer Argumentation direkt von der actio (Klage) aus.[17] Das materielle Recht erscheint in ihren Schriften als Anhängsel der actio. Solches „aktionenrechtliches Denken“ gibt es aber manchmal auch im modernen Recht, z. B. in den Art. 16 Abs. 2 WechselG, 21 ScheckG. Dort tritt das materielle Recht am Wechsel bzw. Scheck hinter dem Herausgabeanspruch zurück. Oder: Vom Herausgabeanspruch hat man auf das zugrunde liegende materielle Recht zu schließen. Auch im Verfassungs- und Verwaltungsrecht denkt man heute zunächst an die Klage und fragt in diesem Rahmen nach den Rechten.
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Angesichts der sozialen Stellung der großen römischen Juristen überrascht es nicht, wenn das römische Recht als ein Recht aus der Sicht der gehobenen Klassen erscheint („Honoratiorenrecht“). Nicht zuletzt das Klientenwesen und die Möglichkeit der Berufung haben den Juristen aber auch gelegentlich den Blick auf die Rechtsfragen der kleinen Leute eröffnet. So erörtert z. B. Ulpian (Dig. 9, 2, 5) den Fall, dass ein ungehaltener Schuhmacher seinen Lehrling mit dem Leisten schlägt und der Lehrling dabei ein Auge einbüßt, oder Paulus (Dig. 18, 16, 13) den Sachverhalt, dass ein Ädil, um Ordnung zu schaffen, verkaufte, auf öffentlicher Straße gelagerte Bettgestelle zerschlagen lässt.
Ein besonderer, ebenfalls schon hervorgehobener Zug des klassischen Privatrechts ist die Abgehobenheit, die „Isolierung“ von der sozialen Wirklichkeit seiner Zeit (Rn. 148), die durch kaiserlich-staatliche Reglementierung determiniert war. So erscheint der Eigentümer des klassischen Privatrechts frei, während er in Wirklichkeit durch viele Vorschriften der Polizeiverwaltung eingeengt war, beispielsweise auch umweltrechtliche.[18] Dieser Zug zeigt sich noch Ende des 19. Jahrhunderts, bei der Entstehung des BGB (Rn. 734)