Читать книгу Schuster und das böse Erwachen - Susanne Lieder - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеFreitag, 13. November, kurz vor 23 Uhr
Sie hätte auf ihren Bauch hören und nicht mit dem Kerl in die Wanne steigen sollen. Aber er hatte fünfzig Euro draufgelegt, und sie hatte nichts zu verschenken.
Er hockte ihr gegenüber auf dem Gummistöpsel, seine fleischigen Hände ausgestreckt, die gierig und doch zärtlich ihre Brüste kneteten. Sie überlegte, was sie später noch einkaufen müsste. Servietten, die mit den hübschen lilafarbenen Kreisen, die sie neulich im Supermarkt gesehen hatte. Und Spülmittel, das hatte sie nun schon zweimal vergessen. Sie wurde vergesslich, da biss die Maus keinen Faden ab.
Bruno knetete mit einem seligen Grinsen ihre linke Brust und nahm ihre Brustwarze zwischen zwei Finger. Bruno, nie im Leben hieß der Bursche wirklich so.
„Rutsch mal“, sagte sie zu ihm, drehte den Wasserhahn auf und ließ heißes Wasser zulaufen.
Bruno erhob sich kurz, um den großen Schwamm vom Rand zu nehmen. „Dein Haar ist toll“, murmelte er, während er sie wie ein kleines Kind damit abwusch.
Das alles hatte sie schon hundert Mal und wahrscheinlich öfter gehört. Hatten die Kerle nicht mal was anderes auf Lager?
Er tauchte den Schwamm ein und summte dabei vor sich hin. Dann warf er ihn plötzlich ins Wasser, sodass Schaum aufspritzte, und begann, sie durchzukitzeln. Sie schnappte nach Luft, halb erschrocken, halb verärgert. Sie war schrecklich kitzelig, schon immer gewesen. Mit einer Hand schlug sie nach ihm. „Lass das, Bruno.“
„Ach komm schon, das macht doch Spaß.“
„Dir vielleicht.“
Seine Hände lagen auf ihren Schultern und drückten sie unter Wasser. Weil sie völlig perplex war, versank sie bis zur Nasenspitze im Schaum und kam hustend und prustend wieder hoch. Jetzt schlug sie mit beiden Händen nach ihm. „Hör mal, wenn das ein Spiel sein soll, dann sag mir gefälligst vorher Bescheid“, schnauzte sie ihn an und strich sich das nasse Haar aus dem Gesicht.
Er sah aus, als würde ihm dieses bescheuerte Spiel wirklich gefallen. Kerle gab’s. Sie hatte schon eine Menge erlebt: Männer, die auf allen vieren vor ihr auf dem Boden rumkrabbelten und auf den nackten Hintern geschlagen werden wollten, andere hatten ihre Pumps und ihren Lippenstift getragen und wieder andere hatten nur stumm neben ihr gelegen und ihre Hand gehalten. Aber das hier war sogar ihr neu.
„Lass uns rübergehen“, schlug sie eher halbherzig vor, weil sie sich nichts weiter wünschte, als dass er seine Klamotten nehmen und abhauen würde.
„Killekille.“ Er kicherte wie ein Mädchen und begann wieder, sie zu kitzeln und unter Wasser zu drücken.
Ein eigenartiges, höchst beunruhigendes Gefühl durchflutete sie: Hatte der Kerl sie vielleicht nicht alle? War er womöglich gefährlich? Also wirklich gefährlich?
Sie bekam es mit der Angst zu tun. Sie wischte sich übers Gesicht und versuchte aufzustehen.
Blitzschnell packte er sie und hielt sie fest. „Nicht weglaufen.“
Sie versuchte ihn wegzustoßen, und als das nicht funktionierte, trat sie nach ihm. Dabei rutschte sie seitlich weg und schlug mit dem Kopf an den Wannenrand.
Er lachte. „Siehst du, das kommt davon, wenn man nicht brav ist.“ Wieder griffen seine wulstigen Finger nach ihr.
Es war verrückt, das hier war doch völlig verrückt! Sie musste träumen. Sie hockte nicht wirklich gerade mit einem durchgeknallten Irren in der Wanne und ließ sich kitzeln und unter Wasser drücken.
Mit beiden Händen schlug sie nach ihm, boxte und trat ihn. Er war verblüffend kräftig, das hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Dabei wirkte er eher schmächtig.
„Ich schreie um Hilfe“, fauchte sie ihn an.
„Mach das.“ Er nickte mit ernstem Gesicht. Dann urplötzlich hatte er einen anderen Gesichtsausdruck: aufgebracht, wütend, fast aggressiv. Mit rauer Stimme flüsterte er ihr ins Ohr: „Das tust du besser nicht.“ Dann lachte er wieder. „Ist doch nur Spaß, Carola. Nur Spaß.“
Das Letzte, was sie sah, waren sein grotesk aufgerissener Mund und seine Zungenspitze, die zwischen seinen blässlichen Lippen hervorkam. Scheiße, dachte sie in einem Anflug panischer Angst, verdammte Scheiße, ich komme hier nicht mehr raus …
Lauwarmes, seifiges Wasser schwappte in ihren Mund, ihre Augen und Nase. Hände lagen wie Blei auf ihren Schultern, ihr Herz pochte so heftig, dass es wehtat, ihre Lungen blähten sich auf. Sie schluckte mehr und mehr Wasser und spürte, wie die Kräfte sie verließen. Ihre Arme wurden ungeheuer schwer, und ihre Beine schienen ihr nicht mehr zu gehorchen.
Dann ein entferntes Lachen. Hatte sie selbst gelacht? Würde sie jetzt sterben? Fühlte es sich so an?
Bilder rasten vor ihrem geistigen Auge dahin: Sie als kleines Mädchen bei einem Waldspaziergang mit ihrer Großmutter. Da vorne, das ist ein Fliegenpilz, Mäuschen, siehst du ihn?
Sie mit ihrem ersten Schulranzen. Er war knallrot und roch furchtbar nach Kunststoff.
Sie und Jürgen, ihr erster Freund. Seine Lippen waren immer rau gewesen, und sie hatte ihm irgendwann einen Labello geschenkt. Sie hörte die weiße Plastikkappe klacken.
Sie musste lächeln. So schrecklich war der Tod gar nicht …
Am Morgen darauf in Stuhr-Heiligenrode
Louisa saß am Frühstückstisch, ein aufgeschlagenes Buch vor sich. Sie blickte auf, als Schuster reinkam.
Er hatte geschlafen wie ein Baby und streckte sich gähnend. „Morgen, Tochter. Schon so früh auf?“
„Französisch-Klausur.“
„Ach ja.“ Er setzte sich ihr gegenüber und schenkte sich den restlichen Kaffee aus der French Press ein. „Hast du wenigstens ein bisschen schlafen können?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Einigermaßen. Jonah hat heute Nacht geweint, und ich hab ihn getröstet. Er sagte, ein Monster mit zwei Köpfen sei in seinem Kleiderschrank gewesen. Ich hab nachgesehen, das Monster gepackt und aus dem Fenster geworfen. Jonah war zufrieden und ist gleich wieder eingeschlafen.“
Er trank seinen Kaffee aus. „Normalerweise höre ich, wenn einer der beiden weint. Aber letzte Nacht …“ Er seufzte. „Ich hab geschlafen wie ein Stein.“
Natürlich hatte er das. Und warum? Weil er eine halbe Schlaftablette genommen hatte. Die Nächte zuvor hatte er nämlich miserabel beziehungsweise so gut wie gar nicht schlafen können, und Jana hatte ihm eine Schlaftablette gegeben, damit er endlich zur Ruhe kommen konnte. Er hatte sogar erst die ganze nehmen wollen.
„Die Tablette hat mich total ausgeknockt.“ Er nahm eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter und Honig.
Während er aß, betrachtete er seine Adoptivtochter. Sie war enorm gewachsen in den letzten Jahren, hatte ihre Mutter längst hinter sich gelassen. Und sie war bildhübsch, hatte die gleichen funkelnden Augen wie ihre Mutter und zog die Nase beim Lachen genauso kraus wie sie. Er hatte sich dabei ertappt, wie er jeden jungen Burschen kritisch beäugte, der ins Haus kam. „Du benimmst dich wie ein klassischer Vater“, hatte Jana gemeint. Sie hatte recht, und so stand er auch weiterhin am Fenster, wenn Louisa nach Hause gebracht wurde, und löcherte sie hinterher mit Fragen, ob der junge Mann auch vernünftig fahren würde. „Am besten, ich mache selbst so schnell wie möglich den Führerschein“, hatte sie irgendwann gesagt. „Wenn du glaubst, dass ich dann nicht die halbe Nacht am Fenster stehe“, hatte er erwidert.
„Guten Morgen, ihr Lieben“, hörte er die Stimme seiner Frau hinter sich.
Sie kannten sich jetzt seit gut acht Jahren, aber er würde wohl bis an sein Lebensende dasitzen und sie anstarren, wenn sie am Morgen aus dem Bett kam. „Heiner Schuster, gleich bleibt dir der Mund offen stehen, und das möchtest du doch wohl nicht.“ Sie schnalzte mit der Zunge, lächelte ihn aber an. „Jonah besteht darauf, in kurzen Hosen in den Kindergarten zu gehen.“
„Hat er schon aus dem Fenster geschaut?“
Es regnete Bindfäden, und ein scheußlicher Wind wehte. Ein typischer Novembertag eben.
Sie nahm eine Scheibe Brot aus dem Korb. „Ja. Dann ziehe ich eben meine neuen Gummistiefel an, hat er gesagt.“ Dabei lispelte sie genauso, wie ihr kleiner Sohn das tat. Er und seine Zwillingsschwester Tilda waren im Mai drei Jahre alt geworden, und jeder von ihnen hatte einen drolligen kleinen Sprachfehler. Während Jonah über jedes „S“ stolperte, mühte seine Schwester sich nach Kräften, das „K“ zu sprechen. Meistens ließ sie es ganz weg, oder aber sie benutzte stattdessen ein „T“. So war aus Herrn Meier eine „Tatze“ geworden.
Der Kater war vor einem knappen Jahr an Altersschwäche gestorben. Schuster hatte ihn unter einem Strauch begraben. Das Tier war ihm unglaublich ans Herz gewachsen, die beiden hatten so viel miteinander erlebt.
„Er ist jetzt im Tatzenhimmel“, hatte Tilda verkündet.
Jonah kam in die Küche und blieb vor seinem Vater stehen. Schuster verkniff sich ein amüsiertes Grinsen. Sein Sohn trug kunterbunte Shorts, dazu einen Rollkragenpulli, lange Kniestrümpfe und Gummistiefel in Regenbogenfarben.
„Sieht das ssön aus, Papi?“
„Das sieht fantastisch aus, Jonah.“ Er hob ihn auf seinen Schoß und strich ihm übers Haar. Es roch nach Vanille. „Aber du wirst furchtbar frieren.“
Der Junge schüttelte energisch den Kopf. „Nachher sseint die Sonne.“
„Unser Sohn wird Meteorologe.“ Seine Frau zwinkerte ihm zu.
„Wenigstens einer, der es mal zu was bringt“, gab er zurück.
Tilda kam ins Zimmer gerannt, sie rannte eigentlich immer, und blieb atemlos vor ihrer Mutter stehen. „Da sitzt eine Tatze.“
„Wo, Schatz?“
„Vor der Tür.“
Jana blickte Schuster verwundert an, dann stand sie auf. „Ich sehe mal nach.“
Jonah bekam ein Marmeladenbrot, und Schuster bestand darauf, dass er beim Essen sitzenblieb, und nicht nebenbei noch ein paar wichtige Dinge wie Playmobil-Figuren und zwei kleine Feuerwehrautos in seine Kindergarten-Tasche packte.
Jana kehrte mit ihrer Tochter zurück. „Da sitzt wirklich ein kleines Kätzchen vor der Tür. Und sie hat mich ganz traurig angesehen.“
Das konnte er sich gut vorstellen. Seine Frau brachte es sogar fertig, Regenwürmer einzusammeln und von Beet zu Beet zu schleppen, während er sich mit dem Umgraben abplagte.
„Sie sieht ganz verhungert aus, Heiner.“
Er verkniff sich ein Grinsen.
„Und nass ist sie auch.“
Er aß einfach weiter.
„Was, wenn sie kein Zuhause hat?“
Er schenkte sich seelenruhig frischen Kaffee nach, den Louisa gerade gekocht hatte.
„Dann wohnt sie bei uns“, sagte Tilda strahlend.
Er konnte seiner kleinen Tochter grundsätzlich nichts abschlagen, und seine Frau wickelte ihn sowieso nach wie vor um den kleinen Finger.
„Heiner Schuster, du sitzt da und scheinst dich nicht im Mindesten für das Schicksal dieser armen kleinen, hungrigen, verwahrlosten und klatschnassen Katze zu scheren. Du solltest dich schämen.“
Er grinste in sich hinein und schwieg.
„Stattdessen sitzt du da und frühstückst in aller Ruhe, während dieses arme Tier vor Kälte schlottert und ihr Magen bis hierher zu hören ist.“
Betont gemächlich stand er auf, bedeutete seinem Sohn sitzenzubleiben und weiterzuessen, und ging zur Haustür.
Ein hellbraun-weiß gestreiftes Kätzchen hockte auf der Fußmatte und sah ihn mit großen Augen an. Dieser Blick bedeutete ganz klar: Wenn du mich mit reinnimmst, werde ich dir das treueste, süßeste und unkomplizierteste Kätzchen sein, das dieser Planet je hatte.
Er kniete sich hin und streckte die Hand aus.
Die Katze erhob sich und schnupperte daran. Langsam kam sie näher und strich um seine Beine. Er entschied, sie mit ins Haus zu nehmen, zu füttern und dann weiterzusehen.
Mit erhobenem Schwanz lief sie vor ihm her und schien sich bestens auszukennen. Sie begab sich geradewegs in die Küche und blieb erwartungsvoll vor dem Tisch sitzen.
„Sie hat ganz besstimmt ssrecklichen Hunger.“ Jonah reichte ihr kurzerhand sein Marmeladenbrot.
„Jonah, seit wann essen Katzen Erdbeermarmeladenbrote?“ Kopfschüttelnd nahm Louisa dem Kätzchen das Brot weg und ging zum Regal, wo noch zwei Dosen von Herrn Meiers Lieblingsfutter standen. Sie gab ein paar Löffel auf eine Untertasse und stellte sie der Katze hin. Die begann sofort gierig und laut schmatzend zu fressen.
„Es ssmeckt ihr.“ Jonah nickte zufrieden, nahm das Marmeladenbrot und biss hinein.
Schuster nahm es ihm hastig aus der Hand. „Ich mache dir ein neues.“
Sein Handy klingelte, und er klemmte es sich zwischen Kinn und Schulter, während er das Brot schmierte.
Es war sein Kollege Lahm. „Wir haben eine Leiche.“
Er hatte vor einem Monat ihre gemeinsame Kollegin Simone Berner geheiratet und würde nächste Woche in die Flitterwochen fliegen.
Schuster bedeutete seiner Frau mit einer ausladenden Geste, dass er sofort losmüsse und sich Schuhe anziehen wolle. Er ging auf den Flur und schlüpfte in ein Paar ausgelatschte Sportschuhe, die er heiß und innig liebte und bereits zweimal wieder aus der Mülltonne gefischt hatte. „Ich bin schon fast auf dem Weg. Wo ist die …“ Aus den Augenwinkeln sah er seinen Sohn näher kommen. „Ähm … du weißt schon.“
„Im Viertel.“ Lahm nannte ihm die Adresse.
„Gut. Bin in einer halben Stunde da, wenn alles gutgeht.“
Was bedeutete, dass es durchaus auch mal eine gute Dreiviertelstunde dauern konnte, wenn entsprechend viel los war auf den Straßen.
Er eilte in die Küche, wo seine Frau einen Stapel Brote für den Kindergarten und die Schule zubereitete, und gab ihr einen Kuss aufs Haar. „Bis heute Abend.“
„Eine Leiche?“, flüsterte sie, und er nickte.
„Was geschieht jetzt mit der Katze?“, raunte sie. „Ich werde sie nicht vor die Tür setzen“, fügte sie gleich noch hinzu.
„Dachte ich mir.“ Er nickte in Richtung Einkaufskorb, der neben dem Regal stand, und in dem es sich die kleine Katze bereits gemütlich gemacht hatte. „Sie scheint sich bei uns wohlzufühlen.“
„Dann hättest du nichts dagegen, wenn sie …“
Er schaute sie streng an. „Wofür hältst du mich? Für einen Kerl, der niedliche kleine Katzen im November vor die Tür setzt?“