Читать книгу Schuster und das böse Erwachen - Susanne Lieder - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеSie konnten. Wenigstens einigermaßen.
Sonja Nasic war Carolas beste Freundin gewesen, die beiden hatten sich seit über zwanzig Jahren gekannt. Sie war noch immer vollkommen aufgelöst, heulte, schluchzte, stöhnte auf, fluchte und heulte wieder. Sie war etwas älter als Carola Langen, vermutete Schuster, hatte genauso rotes Haar, das zu einer Art Bienenkorb aufgetürmt war. Sie trug einen schwarzen, sehr engen Rock und eine buntgeblümte Bluse, deren Ausschnitt vermutlich so manchen Mann ins Schwitzen bringen würde.
„War das einer ihrer Freier?“, zischte sie, nachdem Schuster ihr ein weiteres Taschentuch gegeben hatte.
„Wir wissen noch viel zu wenig, um …“
„Ich hab immer Angst gehabt, dass irgendwann mal einer kommt und …“ Sie verstummte.
„Wir haben mit Berti Bauer gesprochen, und er …“
„Berti“, schnaubte sie verächtlich, „der soll bloß seine dämliche Klappe halten. Nix hat er für Carola getan, gar nix, nur zahlen sollte sie. Lästige Kerle, solche, die Sachen von ihr wollten, die sie nicht wollte, darum hätte er sich kümmern sollen!“
„Warum hat Carola nicht auf eigene Rechnung gearbeitet?“, fragte Kuhn. Mittlerweile ließ Schuster seinem jüngeren Kollegen vollkommen freie Hand, auch bei Verhören. Kuhn hatte meistens ein viel besseres Händchen als er selbst, das hatte er sich längst neidlos eingestehen müssen. Und Kuhn hörte zwischen den Zeilen. Auch etwas, das er selbst nicht halb so gut beherrschte. Außerdem war sein Kollege nach wie vor ehrgeizig und ließ sich bereitwillig zu jedem Seminar, jedem Lehrgang schicken, ohne sich zu beklagen. Im Erstellen eines Täterprofils war er ebenfalls immer noch ungeschlagen.
„Weil sie Schiss vor Berti hatte, deshalb.“
„Dann hätte er sie nicht einfach so freigegeben?“
„Sie haben es erraten, Herr Kommissar.“ Sonja Nasic musterte Kuhn ausgiebig, ihr Blick blieb an seinem blonden Haar hängen, und sie lächelte versonnen. „Sie sind verdammt hübsch, wissen Sie das?“
„Vielen Dank.“
Schuster wusste, dass seinen Kollegen so etwas nur noch selten aus der Fassung brachte. Viel zu oft hatte er sich schon anhören müssen, wie niedlich, drollig oder hübsch er sei und was für schöne Augen und wundervolles Haar er doch habe. Frauen waren da enorm einfallsreich.
„Frau Nasic, gab es einen Mann in Carolas Leben? Sie wissen schon, einen Freund.“
„Nein.“
„Sind Sie ganz sicher?“
„Ich bin ihre beste Freundin, Herr Kommissar.“ Sie hielt inne, dann schluchzte sie laut auf. „Ich war ihre beste Freundin. Wie furchtbar!“
Kuhn gab ihr ein frisches Taschentuch. Schusters Packung war längst leer. „Und Angehörige? Was ist mit Eltern, Geschwistern?“
„Ihre Eltern sind lange tot, und Geschwister … Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie hatte nur mich.“
„Und Berti“, fügte Lahm leise hinzu.
Sonja funkelte ihn aufgebracht an. „Berti! Pah! Dem werde ich was erzählen!“
„Sie haben offenbar keine Angst vor ihm“, meinte Kuhn und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
„Ich hab vor nichts und niemandem Angst, Herr Kommissar. Wie heißen Sie mit Vornamen?“
„Moritz.“
„Moritz. Wie niedlich! Wie der von Max und Moritz.“
„Ja, ich …“
„Aber Sie sind viel hübscher.“
„Danke. Hat Carola mit Ihnen über ihren … Beruf gesprochen?“
Sie nickte und griff nach einem weiteren Taschentuch. „Lange mache ich das nicht mehr, Sonja, hat sie erst letzte Woche zu mir gesagt.“
„Wissen Sie, ob es einen Grund dafür gab? War irgendwas passiert, weswegen sie aufhören wollte?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht. Gesagt hat sie nichts, nur, dass sie die Schnauze voll hatte.“
„Aber sie hat mit Ihnen über die Männer gesprochen, die herkamen?“
„Manchmal.“
„Wohnen Sie hier in der Nähe?“
Wieder nickte sie und zeigte nach rechts. „Drei Häuser weiter.“
„Und was machen Sie beruflich?“
Sie hob den Kopf und sah ihn herausfordernd, fast schon trotzig an. „Ich arbeite nicht als Prostituierte, falls Sie das meinen, Herr Kommissar. Ich hab einen kleinen Tabakwarenladen ein paar Straßen weiter.“
„Es ist wirklich wichtig, dass Sie uns weiterhelfen, Frau Nasic. Sie können helfen, den Tod Ihrer Freundin aufzuklären.“
Sie reckte das Kinn. „Das werde ich.“ Dann sackte sie wieder in sich zusammen. „Aber erst brauch’ ich einen Kaffee. Und was zu essen. Mir ist das total auf den Magen geschlagen.“
Rechtsmedizin
Einige Stunden später waren Schuster und Kuhn beim Doc.
„Sie hat eine Perücke getragen?“, fragte Schuster verblüfft, als er die tote Frau sah, die auf dem Metalltisch lag.
Carola Langen wirkte plötzlich wie eine brave Hausfrau, die sich nicht allzu viel aus ihrem Äußeren gemacht hatte. Sie sah fast bieder aus.
Der Doc nickte und zeigte nach rechts, wo die rote Langhaarperücke lag. Dann deutete er auf die Schultern und den Oberkörper der Toten. „Sehr wahrscheinlich wurde sie unter Wasser gedrückt. Ich habe in ihrer Lunge etwas von dem Wasser gefunden, in dem sie aufgefunden wurde.“
„Gibt es Abwehrverletzungen?“, wollte Schuster wissen.
„Nein.“
„Aber sie wird sich doch gewehrt haben“, sagte Schuster mehr zu sich selbst.
„Oder vielleicht war es eine Art Spiel“, meinte Kuhn nachdenklich. „Wir hatten doch mal einen Fall, wo sich ein Paar gegenseitig die Luft bis kurz vor der Ohnmacht abgedrückt hatte. Das hatte sie so richtig angemacht.“
Der Doc zuckte mit den Schultern. „Es gibt noch ganz andere Spielchen. Ihr wisst doch, die Psyche eines Menschen ist unergründlich.“
„Das Spiel, wenn wir es mal so nennen wollen, hat also einfach einen blöden Verlauf genommen? Den Tod der armen Frau nämlich? Komm schon, das glaubst du nicht im Ernst.“
„Die Frau war eine Prostituierte, Heiner“, sagte Kuhn, „die müssen sich eine ganze Menge gefallen lassen.“
„Dazu gehört doch wohl kaum, dass sie nur mit viel Glück am Leben bleiben, Moritz.“
Die beiden sahen sich einen Moment lang betreten an, dann seufzte Schuster. Er sagte aber nichts.
„In ihrer Mundhöhle hab ich Sperma gefunden. Das könnte darauf hindeuten, dass er sie nach ihrem Tod … ihr wisst schon. Ansonsten hätte sie auch im Magen Sperma gehabt. Vielleicht war das Ganze ein tragischer Unfall“, meinte Stello und nahm seine Brille ab, um sie an seinem Kittel sauberzumachen. „Ihr Spiel ist einfach aus dem Ruder gelaufen.“
„Und er wollte nicht abwarten, bis wir kommen und unangenehme Fragen stellen.“
Kuhn verzog das Gesicht. „Und als sie tot war, hat er sie … das ist echt krank!“
Schuster seufzte erneut und schüttelte den Kopf. „Hatte sie Geschlechtsverkehr vor ihrem Tod?“
Der Doc steckte seine Brille in die Brusttasche seines Kittels. „Ich konnte nichts nachweisen. Nur, wie schon gesagt, Sperma in Mundhöhle, Nase und Haar. Den Laborbericht bekommt ihr morgen.“
Schuster gab seinem jungen Kollegen ein Zeichen und ging in Richtung Tür. „Danke, Doc.“
Als sie zurück im Präsidium waren, kam ihnen im Flur Lahm entgegen. Er blieb vor ihnen stehen.
„Ich mach dann Feierabend.“ Er kratzte sich am Kopf. „Ist schon ein komisches Gefühl. Morgen um diese Zeit liege ich mit meiner Frau am Pool, schlürfe einen Cocktail und lasse mir die Sonne auf den Bauch scheinen.“
Schuster klopfte ihm auf die Schulter. „Schöne Flitterwochen.“
„Von mir auch.“ Kuhn grinste vielsagend, weil die Tür zum Treppenhaus aufging und Simone Berner, die jetzt Lahm hieß, strahlend auf sie zueilte. „Da ist ja deine Angetraute.“
„Ich wollte dich abholen“, begrüßte sie ihren Mann und wurde gleich darauf ernst. „Hab gehört, dass ihr eine tote Prostituierte im Viertel habt.“
Schuster nickte. „Das ist aber nichts, womit ihr euch noch belasten solltet.“ Er wedelte mit den Händen und scheuchte die beiden in Richtung Treppenhaus. „Und schreibt mal ’ne Karte.“
Er blickte ihnen nach, wie sie durch die Glastür verschwanden, dann wandte er sich seinem jungen Kollegen zu. „Und wir machen jetzt auch Feierabend. Morgen sind wir hoffentlich etwas schlauer.“
Am nächsten Tag im Polizeipräsidium
Als er tags darauf am frühen Morgen ins Präsidium kam, traf er auf eine ältere, dunkelhaarige Frau, die ihn misstrauisch musterte, während er den Gang entlangkam. „Sind Sie der Kommissar?“
„Worum geht’s denn?“
„Um Carola.“
Er nickte ihr zu und bedeutete ihr, mit in sein Büro zu kommen. Lahms leerer Schreibtisch wirkte seltsam verlassen, und Kuhn war offensichtlich noch nicht da. „Setzen Sie sich doch, Frau …?“
„Frieling, Wilma Frieling. Hab gehört, was mit Carola passiert ist.“
„Von wem?“
„Sonja hat’s mir erzählt.“ Sie nahm auf dem Stuhl Platz, der vor seinem Schreibtisch stand.
„Waren Sie eine Freundin von Carola?“
Sie nickte.
„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“
„Vorgestern, da haben wir zusammen gefrühstückt. Wie ist sie denn ähm … gestorben?“
„Dazu darf ich Ihnen vorerst nichts sagen.“
„Aber ich …“
„Tut mir leid.“
Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, an der ein kleiner Plüsch-Eisbär hing. „Wir kannten uns seit Jahren, Herr Kommissar. Und jetzt ist sie tot. Ich kann das einfach nicht glauben.“
„Kennen Sie Herrn Bauer, Berti Bauer?“
„Ob ich Berti kenne? Machen Sie Witze, Herr Kommissar?“
„Ist er auch Ihr …?“ Ihm fiel kein passendes Wort ein.
„Aufpasser?“ Sie verzog das Gesicht zu einem hämischen Grinsen. „Das behauptet er nämlich gern von sich selbst. Ja, ist er.“
„Er sprach von irgendwelchen Tabletten, die Carola nahm. Wissen Sie was davon?“
„Tabletten? Was für Tabletten?“
„Das frage ich Sie.“
Wilma Frieling war früher vermutlich hübsch gewesen. Ihr Gesicht, das sich unter einer dicken Schicht Make-up verbarg, wirkte aufgedunsen und verlebt. Außerdem trug sie künstliche Wimpern, was ihr zusätzlich etwas Anrüchiges verlieh.
„Carola nimmt keine Tabletten“, sagte sie entschieden.
„Er meinte, sie habe schlecht geschlafen in der letzten Zeit.“
„Tja …“ Darüber schien sie nachzudenken und schüttelte schließlich den Kopf. „Ich weiß nichts von Tabletten.“
„Hat Carola Ihnen mal von einem Mann erzählt, der seltsame … sagen wir Praktiken, Spielchen liebte?“
Einen Moment lang schaute sie ihn verblüfft an, dann brach sie in lautes Lachen aus.
Kuhn kam herein, und sie drehte sich kurz zu ihm um, noch immer lachend. „Fragen Sie mich das im Ernst, Herr Kommissar? Warum fragen Sie mich nicht, ob es Kerle gibt, die ganz normalen Sex wollen? Da müsste ich wesentlich länger überlegen.“
Schuster kratzte sich am Kinn. Er hatte miserabel geschlafen, das schien zur Gewohnheit zu werden. Zweimal in der Nacht war er aufgestanden und hatte nach seinem Sohn sehen müssen, der geschworen hatte, dass das Monster wieder im Schrank war.
Schließlich hatte er seine Handschellen geholt, das imaginäre Monster aus dem Schrank gezerrt und in Handschellen aus dem Zimmer gebracht. Sein Sohn hatte sich dabei unter der Bettdecke versteckt. „Es muss ins Gefängnis“, hatte er zu ihm gesagt, „Monster, die nicht hören wollen, kommen ins Monster-Gefängnis. Dort ist es dunkel und eiskalt, und die meisten kommen nie wieder raus.“
Er blinzelte, um seine Gedanken zu vertreiben. „Tut mir leid, aber ich dachte immer, Männer gehen zu einer Hure, weil sie Sex haben wollen.“
„Für die ist es ja auch Sex, Herr Kommissar, nur eben anders.“
Sie schwiegen eine Weile, dann fragte er sie, weshalb sie eigentlich gekommen war.
Sie seufzte leise. „Ich wollte wissen, wie sie … wie Carola gestorben ist. Ich hab gehört, dass sie in der Badewanne gefunden wurde. Aber wie kann das sein? Ich meine, wie ist das möglich, dass sie in der Badewanne gestorben ist?“ Sie schlug eine Hand vor den Mund. „Oh Gott, sie hat sich doch nicht …?“
Er schwieg.
Sie stand langsam auf und ging zur Tür.
„Ach, Frau Frieling, würden Sie mir eine Liste machen mit Namen und Telefonnummern von Carolas Freundinnen, Bekannten und …?“ Tja, wie sollte er das nennen? Arbeitskolleginnen?
Sie nickte müde. „Klar.“
Am späten Nachmittag hatte er den Laborbericht in der Hand.
Carola Langen hatte eine geringe Menge Alkohol im Blut, genauer gesagt 1,1 Promille, und in ihrem Magen wurden Reste eines Aufputschmittels gefunden.
„Kein Schlafmittel?“, fragte er Stello verwundert.
Der Doc schüttelte den Kopf. „Wenn sie ein Schlafmittel genommen hat, dann muss das länger her sein.“
„Könnte das Aufputschmittel schuld sein, dass sie ertrunken ist?“
„Das glaube ich nicht.“
„Hmm …“ Schuster nickte und ging wieder nach draußen.
Die Kollegen hatten in Carola Langens Wohnung jede Menge Fingerabdrücke gefunden, natürlich, schließlich hatten sich dort die Kunden die Klinke in die Hand gegeben. Es war also mehr als wahrscheinlich, dass der Mann, mit dem sie in der Wanne gesessen hatte, ebenfalls seine Abdrücke dort hinterlassen hatte. Bis sämtliche Fingerabdrücke abgeglichen waren, würde es noch eine Weile dauern, und ob sie das dann weiterbringen würde, war eine ganz andere Sache.