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Kapitel 2

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Im Viertel

Lahm wartete vor dem mehrstöckigen, frisch gestrichenen Haus.

Schuster parkte seinen dunklen Kombi direkt davor, wobei er halb auf dem Gehsteig stand.

Sie liefen zwei Treppen hoch und blieben vor einer geöffneten Tür stehen. Dort begrüßten sie zwei Kollegen, die in weißen Overalls auf dem engen Flur standen, und schoben sich an ihnen vorbei.

„Wo ist die Leiche?“, wollte Schuster wissen.

„Im Bad“, rief irgendwer.

Carsten Stello, der Rechtsmediziner, kam aus der Tür. „Meine Herren.“ Er drosch erst Schuster, dann Lahm auf die Schulter. „Sie liegt in der Badewanne.“

„Wissen wir schon mehr?“, fragte Lahm ihn.

„Nicht viel.“ Er deutete nach rechts. „Aber seht selbst.“

Schuster folgte seinen Kollegen in das weiß gekachelte Bad. In der Ecke stand eine Badewanne, etwa halb voll mit Wasser, darin lag eine Frau, deren Alter er nicht auf Anhieb schätzen konnte. Ihr rötliches, langes Haar war halb um ihren Kopf gewickelt, der leicht nach hinten gebeugt war. Sie trug knallroten, verschmierten Lippenstift, ihr Mund stand offen. Etwas Eigenartiges, Weißes klebte ihr am Mundwinkel. Schaum? Erbrochenes?

Lahm ging näher heran, um sie zu betrachten. „Wissen wir schon, wer sie ist?“

„Carola Langen, zweiundvierzig. Sie arbeitete als Prostituierte“, sagte Kuhn hinter ihnen.

Schuster drehte sich zu ihm um. „Moritz. Sag bloß, du warst vor uns da? Und was haben wir sonst? Irgendwelche Einbruchspuren?“

Er schüttelte den Kopf, zwängte sich an Schuster vorbei und kniete sich neben die Badewanne. Er zeigte erst auf den Mund der Frau, dann auf ihren Oberkörper. „Sperma.“

„Wie Sperma?“, fragte Schuster.

„Sie hat Sperma im Mund, an den Lippen, der Nase, sogar auf dem Kopf.“

Lahm stellte sich neben Schuster. „Also ein Freier, der übers Ziel hinausgeschossen ist?“

„Möglich wär’s.“

Die Wohnung sah nicht so aus, als sei sie nach irgendetwas durchsucht worden. Einen Raubüberfall konnte man also offenbar ausschließen.

„Kannst du uns schon ungefähr sagen, wie lange sie tot ist, Doc?“, fragte Schuster.

„Ich denke, zwischen acht und zehn Stunden.“

Lahm sah auf seine Armbanduhr. „Dann muss es zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr nachts passiert sein. Keine Spuren von äußerer Gewalteinwirkung?“

Die rosafarbenen Brustwarzen der Frau hoben sich auf eine skurrile Weise ab und leuchteten im trüben Wasser.

Der Doc zeigte auf den bleichen Oberkörper der Toten. „Seht ihr das?“

Schuster trat näher und nickte. „Hämatome.“

„Hat sie sonst noch irgendwo Sperma?“, fragte Lahm.

„Im vaginalen Bereich, meinst du? Das kann ich euch erst später sagen. Oder dachtest du, ich hab sie schon mal eben aus der Wanne gehievt, nachgesehen und anschließend wieder ins Wasser gesetzt?“ Stello streifte seine Handschuhe ab und ging zur Tür. „Genaueres heute Nachmittag. Frühestens.“ Er ging hinaus.

„Wer hat sie eigentlich gefunden?“, fragte Schuster.

„Ihre Freundin Sonja. Sitzt in der Küche und heult“, sagte Kuhn.

„Hast du schon mit ihr gesprochen?“

Er nickte. „Viel hab ich nicht rausgekriegt. Erst musste sie kotzen, dann hat sie geheult.“

„Hat sie einen Schlüssel zur Wohnung?“, wollte Lahm wissen, der sich wieder neben die tote Frau gekniet hatte.

„Nein, sie hat geklingelt, und Carola Langen brauchte etwas, um aufzumachen. Natürlich hat sie einen Schlüssel, wie sollte sie sonst reinkommen?“

Lahm drehte sich zu Kuhn um. „Seitdem du auf diesem blöden Lehrgang warst, wirst du täglich unverschämter.“

Kuhn deutete eine Verbeugung an. „Und seitdem du verheiratet bist, wirst du gedanklich täglich träger.“

Lahm grinste, erwiderte aber nichts. Er zog Handschuhe an und nahm vorsichtig eine Hand der toten Frau. „Keine Kratzer, nichts.“ Als er sich wieder erhob, knackten seine Knie.

Schuster seufzte kopfschüttelnd. „Lasst uns sehen, ob es Zeugen gibt. Hier wohnen sechs Parteien, wenn ich nicht irre. Irgendwer wird was mitgekriegt haben.“

Marlene Koslowski, die direkt über der toten Carola wohnte, zuckte nur mit den Schultern. „Was glauben Sie, wer hier alles ein- und ausgeht, Herr Kommissar!“ Sie blickte Schuster und Lahm abschätzig an. „Frau Langen war ’ne Öffentliche, das wissen Sie doch sicher längst. Da haben sich die Kerle die Klinke in die Hand gegeben.“ Sie betrachtete ihre hellrot lackierten Fingernägel und hustete.

Raucherhusten, ging Schuster durch den Kopf.

„Frau Koslowski“, er schenkte ihr ein freundliches Lächeln, „was war Frau Langen für ein Mensch? Sie haben sie doch sicher gekannt.“

„Gekannt.“ Sie schnaubte. „Was heißt schon gekannt? Sie hat unter mir gewohnt, mehr nicht. Manchmal hat sie zu laut Musik gehört, dann bin ich runter und hab an die Tür geklopft. Sie hat immer gleich wieder leiser gemacht.“

„Wissen Sie, ob hier im Haus noch mehr …“

Weiter kam Lahm nicht, denn Marlene Koslowski schoss vor und funkelte ihn wütend an. „Noch mehr Öffentliche arbeiten, wollten Sie sagen? Nein. Eine war schon schlimm genug. Wir sind ein anständiges Haus.“

„Na klar.“ Er war einen Schritt zurückgetreten. „Ist Ihnen nie was aufgefallen, ein Mann, der Ihnen komisch vorkam, oder vielleicht gab es Männer, die regelmäßig kamen?“ Bei dem letzten Wort stutzte er und räusperte sich dann.

Schuster versuchte, sein Grinsen zu verbergen.

„Ich gehe davon aus, dass die Männer regelmäßig kamen, Herr Kommissar“, erwiderte sie ungerührt und ohne ihn aus den Augen zu lassen.

„Es gab aber keinen … ähm, Freund oder so was?“

„Kennen Sie ’nen Kerl, der so ein Lotterleben seiner Freundin ertragen würde, Herr Kommissar?“

„Persönlich nicht.“

„Sehen Sie.“

Die Befragung war in dem Moment beendet, als sie ihnen die Tür vor der Nase zuknallte und so scheußlich hustete, dass Schuster das Gesicht verzog.

„Danke fürs Gespräch“, knurrte Lahm und wandte sich ab.

Kuhn, der die Bewohner auf der unteren Etage befragt hatte, kam die Treppe hoch, seinen Notizblock in der Hand.

„Nichts, rein gar nichts.“ Er verdrehte die Augen. „Männer tauchen hier dauernd auf, aber niemandem ist irgendwas aufgefallen.“

„Erst mal sollten wir rausfinden, ob Carola Langen auf eigene Rechnung gearbeitet hat. Wenn sie nämlich …“

Die Haustür wurde aufgestoßen, und ein breitschultriger Mann in hellem Lederblouson und schwarzer Stoffhose mit Bügelfalte kam die Treppe hoch. Er trug eine Art Herrenhandtasche bei sich, wie Schuster amüsiert feststellte. Vielleicht ein Versicherungsvertreter. Als er vor ihnen stand, sagte er mit einer Stimme, die so gar nicht zu ihm passen wollte: „Unten steht überall die Bullerei rum. Is’ was passiert?“

„Erst mal interessiert mich, wer Sie sind.“

„Wieso?“

„Weil ich von Natur aus neugierig bin. Also?“

„Berti. Berti Bauer. Und wer sind Sie, wenn ich mal so dreist fragen darf?“

„Hauptkommissar Schuster, Kripo Bremen.“ Er zeigte ihm seinen Ausweis.

„Ach du Kacke. Is’ was mit Carola?“

Schuster hätte wetten können, dass er sich den Namen gerade ausgedacht hatte. Kein Mensch hieß Berti Bauer, außer vielleicht eine Figur bei Benjamin Blümchen. „Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“

„Klar.“ Der Mann zückte seinen Ausweis und hielt ihn Schuster unter die Nase. Und tatsächlich, da stand: Berthold Bauer. Dieser Name wollte genauso wenig zu dem Mann passen wie seine helle Fistelstimme. „Alle sagen Berti“, erklärte er. „Was is’ denn jetzt mit Carola?“

„In welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr, Herr Bauer?“

Er trat einen Schritt näher. „Ich bin ihr Beschützer, wenn Sie so wollen. Und heute is’ Zahltag.“

„Ach, dann bezahlt sie dafür, dass Sie sie beschützen?“, fragte Lahm ihn.

„Umsonst ist der Tod. Kann ich jetzt zu ihr?“

„Nein.“

„Und wieso nicht?“

„Carola Langen wurde heute früh tot aufgefunden, Herr Bauer“, erklärte Schuster ihm.

Er hielt sich am Treppengeländer fest. „Das is’ … Sie machen Witze.“

„Leider nein.“

„Aber was … wie …?“

Carolas Tod schien ihn umzuhauen, das war mehr als deutlich zu sehen. Er nahm die Sonnenbrille ab und kaute auf dem Bügel herum. Dann schob er sie aufs schüttere, hellblonde Haar, nahm sie gleich darauf wieder ab und steckte sie in die Jackentasche. „Carola ist also tot“, murmelte er. „Und wie? Ich meine, wie ist sie umgekommen? Ich wette, sie hat wieder zu viel von diesen Scheißpillen gefressen.“

„Was für Pillen?“, wollte Schuster wissen.

„Keine Ahnung, Pillen eben. So welche, von denen man besser pennt. Carola konnte schlecht schlafen in der letzten Zeit.“

Schuster nickte. Das kam ihm bekannt vor. „Wurden die Tabletten von einem Arzt verschrieben?“

„Keine Ahnung. Ich glaub schon.“ Seine Hand war noch immer um das Geländer gekrallt. „Kann ich sie noch mal sehen?“

„Erst mal nicht. Gibt es Angehörige, Herr Bauer?“

„Ich bin nicht verheiratet, falls Sie das meinen. Und meine Eltern …“

„Ich meinte Angehörige von Frau Langen.“

„Ach so.“ Er kratzte sich am Kopf. „Nee, soweit ich weiß, nich’. Ich hab nur dich, Berti, hat sie immer gesagt.“ Er schlug sich mit der Faust an die Stirn. „Mann, dauernd hab ich gesagt, hör auf, diese Scheißpillen zu fressen, Carola, die sind nich’ gut für dich.“ Er ließ das Treppengeländer los. „Kann ich jetzt gehen?“

„Wo waren Sie gestern Abend zwischen elf und ein Uhr nachts?“

„Warum wollen Sie das wissen?“

„Ich sagte doch, ich bin von Natur aus neugierig“, sagte Schuster.

„Lassen Sie mich überlegen … gestern Abend … da war ich mit Muschi im Jacuzzi.“

„Was ist das denn?“, fragte Schuster verblüfft.

„Eine Art Whirlpool“, erklärte Lahm ihm. „Das kann diese … Muschi bezeugen?“

Bauer nickte. „Klar. Muschi ist meine Freundin. Eigentlich heißt sie Muriel, aber wer heißt schon Muriel?“

„Sie können dann erst mal gehen, halten Sie sich zur Verfügung, Herr Bauer.“

Er tippte sich an die Stirn, lief die Treppe hinunter, rutschte auf der untersten Stufe aus und verlor dabei seine Handtasche. Hastig hob er sie auf und knallte die Haustür hinter sich zu.

„Und wir?“, fragte Kuhn Schuster.

„Wir sehen mal, ob wir jetzt mit Sonja sprechen können.“

Schuster und das böse Erwachen

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