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Kapitel 4
ОглавлениеWenige Tage später auf dem Riensberger Friedhof
Schuster und Kuhn hatten sich unter eine Linde zurückgezogen.
Es regnete feine Bindfäden, und Schuster stülpte sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf. Die kleinen Tröpfchen auf seiner Brille sorgten für eine schlechte Sicht.
Kuhn schob die Hand in seine Jackentasche und holte einen Schokoriegel hervor, den er Schuster unter die Nase hielt. „Schoko und Keks. Magst du?“
„Danke.“ Schuster nahm den Riegel und versuchte, ihn möglichst leise auszuwickeln. Und doch meinte er, das leise Rascheln sei so laut, dass es alle hören würden.
Heute war es nasskalt, und am frühen Morgen hatte es lästigen, hartnäckigen Frühnebel gegeben, der die Landschaft mit einem grauen Schleier überzogen hatte. Wie er den November hasste!
Sogar die Zwillinge blieben bei diesem Wetter am liebsten im Haus und spielten mit ihrem neuen Mitbewohner, der kleinen Katze. Offenbar gab es niemanden, der das Kätzchen vermisste, wahrscheinlich stammte es von einem der umliegenden Höfe und hatte sich ein neues Zuhause suchen wollen. Louisa hatte das Tier Lotti taufen wollen, allerdings handelte es sich um einen jungen Kater, was sie erst später gesehen hatten. Und so war aus Lotti Fiete geworden, und der fühlte sich allem Anschein nach pudelwohl bei ihnen.
Schuster steckte beide Hände tief in die Jackentaschen, nachdem er den Schokoriegel aufgegessen hatte.
Die Freundinnen von Carola Langen hatten zusammengelegt und dafür gesorgt, dass sie einen hübschen Sarg bekommt.
Alle hatten sich, dem Anlass entsprechend, unauffällig gekleidet und auf grelle Schminke verzichtet.
Trotzdem war ihnen anzusehen, wer und was sie waren.
Eine besonders große, platinblonde Frau stolzierte zum Grab und hielt eine Rede. Sie sprach so laut, dass Schuster das meiste mithören konnte. „Carola, du warst eine echt Nette. Immer für einen da, immer freundlich, immer hilfsbereit. Es ist eine verdammte Schande, dass dir das passiert ist.“
Bei dem Wort „verdammt“ hob Schuster die Augenbrauen.
„Ich versprech’ dir eins, meine Süße, wir kriegen raus, wie das passiert ist. Kein Mensch glaubt, dass du einfach abgesoffen bist. Nee, ganz bestimmt nicht. Irgendwas ist da passiert …“ Den Rest verschluckte der Wind, der plötzlich aufkam, so als habe Carola dafür gesorgt, dass die Worte ihrer Freundin angemessen untermalt wurden. „… verdammt, ich krieg’s raus, ich schwör’s dir.“
Die anderen Frauen murmelten zustimmend.
Carola Langen war nicht in der Kirche gewesen, und der Laienprediger, der bis vor wenigen Minuten mehr oder weniger verloren herumgestanden hatte, machte nun, dass er wegkam.
„… und wenn’s das Letzte ist, was ich tue! Amen!“
„Gut gemacht, Penny“, hörte Schuster eine der Frauen sagen.
„Ja, war `ne tolle Rede.“
„Lasst uns abhauen, ist arschkalt hier.“
Zwei Frauen warfen Blumen ins Grab und folgten den anderen. Nach einigen Minuten war der Friedhof menschenleer – bis auf Schuster und Kuhn und eine ältere Frau, die mit einer knallgrünen Gießkanne in der Hand an ihnen vorbeiging.
„Hast du gehört, was sie gesagt hat?“ Kuhn hatte den Kragen hochgeschlagen.
„Dass es arschkalt ist? Ja, hab ich.“
Kuhn grinste. „Alles andere auch?“
„Meine Ohren funktionieren noch ziemlich gut, Moritz. Wenigstens hat sie ein anständiges Grab bekommen. Und eine flammende Grabrede.“
Polizeipräsidium, am Tag darauf
Die platinblonde Frau, die die Grabrede gehalten hatte, war auch auf der Liste, die Wilma Frieling gemacht hatte.
Jetzt saß sie vor Schuster und wirkte nicht halb so energisch wie auf der Beerdigung. Sie machte einen nervösen Eindruck, und er fragte sich, ob er eine andere Frau vor sich hatte. Draußen warteten drei weitere Frauen, und eine vierte war gerade bei Kuhn.
„Sie heißen also Penny Lühmann.“
„Eigentlich Penelope, Herr Kommissar, ein bekloppter Name. Wollte mein Vater damals unbedingt. Penelope, wie die Frau dieses Kerls, der zehn Jahre auf dem Schiff rumgeschippert ist.“
„Odysseus.“ Er nickte. Als Kind hatte er diese Geschichten geliebt. „War Ihnen irgendwas an Carola aufgefallen, war sie vielleicht nervös, stiller, nachdenklicher, irgendwas in der Art?“
„Nicht, dass ich wüsste. Carola war wie Carola.“
Er machte „Hmm“. Was tat er hier überhaupt? Das Ganze war eine Schnapsidee. „Wo gehen Sie Ihrer Arbeit nach, Penny?“
„Warum fragen Sie?“ Sie schürzte die Lippen. „Wenn Sie mal vorbeikommen möchten …“
„Nein, aber vielen Dank fürs Angebot.“
„Ich arbeite auch im Viertel, genau wie Carola, nur eine Straße weiter.“ Sie nannte ihm die Adresse, die er sich in seinem Notizblock aufschrieb.
Nach ihr kam Christiane. Bei ihr war eine sehr junge, bildhübsche Frau mit langem schwarzem Haar. Christiane hatte den Arm um sie gelegt. „Das ist Alina, Herr Kommissar. Sie spricht kaum Deutsch. Ich kümmere mich um sie.“ Mit einem breiten Lächeln stellte sie sich vor. „Jahrgang ’78, Herr Kommissar. Für Sie Chrissie.“
„War Ihnen irgendwas an Carola aufgefallen?“, fragte er müde und unterdrückte ein Gähnen. Er sollte sich zusammenreißen.
„Nein, sie war wie immer. Aber sie hatte die Schnauze voll, wollte raus, aussteigen.“
Er nickte. Das hatte Sonja Nasic auch gesagt. „Wie alt ist sie?“, fragte er Christiane, während er Alina ansah.
„Einundzwanzig“, antwortete Christiane wie aus der Pistole geschossen.
„Und sie hat keine Papiere. Verstehe.“ Als er sah, dass Christiane etwas erwidern wollte, hob er die Hand. „Ich bin nicht von der Sitte, mich interessiert nur, was mit Carola Langen passiert ist.“
„Ich hab sie unter meine Fittiche genommen“, erklärte Christiane. „Alina meine ich.“
Sie wollte offenbar noch etwas sagen, doch das Mädchen neben ihr legte die Hand auf ihren Arm. „Lass gut sein, Chrissie, ich kann für mich selbst sprechen.“
„Ach, sieh mal an, sie spricht ja doch Deutsch, und das sogar ganz hervorragend“, sagte Schuster.
„Ich wollte ja nur … ich meinte … Also ich wollte nicht, dass sie Schwierigkeiten kriegt.“
„Von mir hat sie nichts zu befürchten.“
Christiane beugte sich vor und runzelte die Stirn. „Wenn ich den in die Finger kriege, der Carola das angetan hat …“
„Das überlassen Sie schön uns.“
„Jaja.“
„Schicken Sie mir bitte die nächste Frau rein.“ Er gähnte und streckte die Beine aus.
Eine brünette, ebenfalls recht hübsche Frau kam herein. Im Vorbeigehen umarmte sie Christiane und gab Alina einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm.
„Und Sie sind?“ Er betrachtete sie über den Rand seiner Brille hinweg.
„Andrea, Herr Kommissar. Andrea Wagenfeld. Sie wollen wahrscheinlich wissen, ob Carola in der letzten Zeit irgendwie anders war.“
Er stutzte, und bevor er etwas erwidern konnte, sagte sie: „Ich sehe mir gern Krimis im Fernsehen an. Und da fragen sie einen immer so was. Nein, mir war nichts an Carola aufgefallen. Wir halten zusammen, und wir passen aufeinander auf. Es kommt immer mal vor, dass Kerle bei uns aufkreuzen, die wir am liebsten gleich wieder wegschicken würden. Manche wollen auf allen vieren durchs Zimmer krabbeln und uns die Füße lecken. Das ist okay. Aber es gibt auch welche, die wollen verprügelt werden und freuen sich, wenn du so richtig zuhaust. Andere sind brutal, wollen bloß von hinten oder so, und das ist nicht immer angenehm, Herr Hauptkommissar.“ Sie machte eine Pause. „Wir erzählen uns also nicht jeden Tag, wenn mal wieder einer da war, der Hund spielen wollte oder uns Himbeergelee irgendwo reinschmieren wollte. Es ist gut möglich, dass hier ein Kerl durch die Gegend streift, der es nicht unbedingt gut mit uns meint.“ Es klang knallhart und abgestumpft, aber Schuster ahnte, dass es nur Show war. „Jede von uns hat laufend Kerle, die sie nicht alle haben.“ Sie tippte sich an die Stirn. „Haben Sie nicht manchmal Angst?“, fragte er sie.
„Doch. Manchmal ist es ziemlich gruselig, wenn einer kommt und Bärbel zu mir sagen will, obwohl ich Andrea heiße. Manche Kerle wollen Dinge, von denen träumen Sie nicht mal. Bei mir war neulich einer, der kann nur, wenn ich so tue, als würde er mir wehtun. Verstehen Sie? Und ein anderer Kerl hat sich so dämlich angestellt, dass mir gleich klar war, dass er zum ersten Mal zu ’ner Hure geht. Er hat furchtbar rumgestammelt, und als er dann in Fahrt war, konnte ich ihn kaum bremsen. So ist das eben.“
Schuster unterdrückte ein Seufzen. „Verstehe. Ich gebe Ihnen meine Karte. Wenn Sie irgendwas hören, mitbekommen, egal was und egal wann, rufen Sie mich an. Auch wenn Ihnen irgendwas, irgendwer komisch vorkommt, einverstanden?“
Zwei Tage später
Einige der Fingerabdrücke, die in Carola Langens Wohnung gefunden worden waren, hatten inzwischen zugeordnet werden können. Sie gehörten zwei Männern, die bereits wegen Diebstahl und Rauschgiftbesitz gesessen hatten.
Schuster hatte Berti Bauer hergebeten und fragte ihn nach einem gewissen Toni Gärtner.
Bauer schnappte wütend nach Luft. „Ob ich den kenne? Dieser Hurensohn latscht seelenruhig zu meinen Mädels und will einen auf neuen Beschützer machen! Dem hab ich …“ Er verstummte.
„Was?“, fragte Schuster ihn.
„Ich hab ihm eine reingehauen.“ Er schlüpfte aus seinem Wildlederblouson und hängte ihn über die Stuhllehne. „So läuft das nicht. Keiner latscht einfach zu meinen Mädels, verstehen Sie? Das ist ungeschriebenes Gesetz und so.“
„Aha, verstehe. Dann war Herr Gärtner also nicht als Kunde bei Carola.“
Bauer lehnte sich zurück und sah Schuster so belustigt an, dass der ebenfalls grinsen musste. „Wie das klingt: Herr Gärtner.“ Er schlug sich vor Lachen auf den Schenkel. „Toni Gärtner ist so wenig ein Herr wie ich ein Bernhardiner bin, ehrlich.“ Er wurde schlagartig ernst. „Nee, der war todsicher nich’ als Kunde bei Carola. Bei Chrissie war er auch, die Arschgeige.“ Er verschränkte die Arme. „Aber nich’ mit mir.“
Toni Gärtner hatte ein Alibi für den Abend und die Nacht, in der Carola Langen gestorben war, das hatten sie bereits überprüft.
Bauer beugte sich vor und runzelte die Stirn. „Irgendwo da draußen rennt ein Typ rum, der brandgefährlich is’, Herr Kommissar. Wenn Sie mich fragen, gehört der eingesperrt.“
„Das ist mal ein guter Tipp“, erwiderte Schuster trocken. „Danke, Herr Bauer.“
„Sagen Sie Berti.“
„Was ist mit …“ Schuster musste in seinen Unterlagen nachsehen, wie der andere Mann hieß, „Ulrich Jankowiak?“
„Der Uli.“ Bauer winkte lässig ab. „Die alte Socke. Klar kenn ich den. Der is’ harmlos. Manchmal besucht er meine Mädels.“ Er hob einen Finger. „Aber er zahlt brav.“
Schuster warf Kuhn einen Blick zu. Vielleicht war seinem Kollegen noch was eingefallen.
Kuhn setzte sich auf seine Schreibtischkante. „Herr Bauer, Berti.“ Bauer nickte zufrieden, und er sprach gleich weiter: „Ich nehme mal an, Sie waren ein guter Aufpasser. Zuverlässig, loyal …“
„Aber Hallo.“
„Und Ihnen würde auffallen, wenn mit einem Ihrer Mädels irgendwas nicht stimmen würde. Kommt es manchmal vor, dass Sie sich um einen … sagen wir, besonders zudringlichen Kunden kümmern müssen?“
Bauer nickte mit ernster Miene.
„Was tun Sie dann mit so jemandem?“
Er kratzte sich am Kopf. „Kommt drauf an. Wenn er einsichtig ist, schmeiß ich ihn bloß raus und mach ihm klar, dass er nicht auf den Gedanken kommen soll, wieder aufzutauchen.“ Er verzog das Gesicht zu einem flüchtigen Lächeln. „Die meisten halten sich dran, glauben Sie mir. Wenn er es nicht kapiert … tja …“ Wieder kratzte er sich. „Dann gibt’s schon mal was auf die Rübe.“
„Kommt es vor, dass manche Freier nicht zahlen wollen?“
„Ständig.“
„Und dann?“
„Verstehe, Sie fragen, ob ich meine Mädels auch dann zur Kasse bitte, wenn sie leer ausgegangen sind.“
Kuhn machte ein Pokerface, und das beherrschte er ziemlich gut.
Bauer schlug die Beine übereinander. „Hab schon erlebt, dass eins meiner Mädels auf eigene Rechnung arbeiten wollte.“ Er zupfte an seinem Augenlid. „Holzauge sei wachsam. Berti Bauer is’ keine hohle Hirse, verstehen Sie? Ich merke das, glauben Sie mir. Und letztendlich wollen meine Mädels, dass ich sie beschütze. Es ist sozusagen eine Win-Win-Situation.“
Schuster musste sich ein Grinsen verkneifen. Er konnte nicht anders, Bauer war nicht halb so unsympathisch, wie er zu Anfang geglaubt hatte.
Bauer zwinkerte ihm zu, als habe er seine Gedanken gelesen. „Sie haben es gut bei mir, Herr Kommissar. Ich fackel nicht lange, aber ich würde der Kuh, die ich melke, ganz sicher nichts tun. Bin doch nicht bescheuert.“ Wieder wurde er ernst. „Sie sollten lieber sehen, ob nicht irgendwo da draußen ein braver Familienvater rumläuft, der manchmal gerne die Sau rauslässt.“
Kuhns Gesichtsausdruck nach zu urteilen hatte er bereits den gleichen Gedanken gehabt.
Bauer durfte gehen und versprach hoch und heilig und mit seinem so typischen gönnerhaften Grinsen, dass er jederzeit zur Verfügung stehen würde.
Und Schuster glaubte ihm aufs Wort.