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Kapitel 5

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Freitag, den 27. November gegen 23 Uhr

Die Stiefel waren fürchterlich unbequem. Dafür waren sie rattenscharf, wie ihr letzter Freier gemeint hatte.

Er hatte sogar darauf bestanden, dass sie sie anließ.

Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. In einer Viertelstunde würde der nächste Kunde kommen, und sie hatte sich noch nicht mal frischgemacht, verdammt.

Die Sohlen ihrer Stiefel klapperten auf dem hellen Laminat, als sie ins Bad ging. Sie wusch sich, für eine Dusche war keine Zeit mehr. Dann schlüpfte sie in frische Unterwäsche – diesmal leuchtendrote mit Spitze – nahm den rotgestreiften Kimono vom Türhaken und schenkte sich im Gehen den Rest aus der Sektflasche ein, die neben dem Bett stand.

Fusel. Ekelhaft süß, aber erschwinglich. Und dem Freier war es egal gewesen, er hatte nur Augen für ihre Lackstiefel gehabt.

Es klingelte Sturm, und sie verdrehte die Augen. Wieder so einer, der es nicht erwarten konnte.

Sie drückte auf den Türsummer und spähte durch den Spion.

Ein schmächtiger Mann, eher ein Männchen, kam die Treppe hoch und blieb vor ihrer Tür stehen. Er blickte an sich herab, strich über seine Jacke und dann über die helle Hose. „Samantha?“

Samantha, eigentlich ein hübscher Name. Warum war sie früher nicht darauf gekommen? Da hatte sie sich Chantal oder auch mal Dolly genannt.

„Ja, Süßer“, gurrte sie, nahm den letzten Schluck Sekt, spülte damit ihren Mund aus und öffnete die Tür mit einem betörenden Lächeln.

„Das macht doch nichts“, tröstete sie ihn keine halbe Stunde später, als er wie ein Häufchen Elend in Unterhose und Socken auf dem ungemachten Bett hockte, den Kopf tief zwischen den Schultern.

„Doch, das macht wohl was“, murmelte er. „Du glaubst jetzt bestimmt, das ist bei mir immer so.“

„Ich glaube gar nix, Süßer, ich bin nicht in der Kirche“, gab sie zurück und strich ihm im Vorbeigehen übers lichte Haar. „Warum gehst du nicht nach Hause, ruhst dich aus und kommst morgen wieder?“

„Das geht nicht.“

„Und wieso nicht?“

„Weil … morgen geht’s eben nicht.“

Sie seufzte verhalten. Bestimmt wollte er jetzt quatschen, großartig, sein Elend beklagen, seine beschissene Ehe, seinen miesen, unterbezahlten Job, seine missratenen Kinder, die ganze Misere, in der er seit Jahren steckte und nicht wieder rauskam. Er wäre nicht der Erste und auch nicht der Letzte. Manchmal hatte sie es so satt. Sie ging in Richtung Bad.

„Wohin gehst du?“

„Aufs Klo.“

Sie war kaum an der Badezimmertür, da stand er auch schon hinter ihr, und sie fuhr erschrocken zusammen. „Musst du mich so erschrecken?“

„Lass mich zusehen.“

„Wobei?“

„Wenn du aufs Klo gehst.“

Ach, so einer war er also. Sie zierte sich bewusst, hielt ihn hin. Die meisten machte das richtig an. „Ich weiß nicht …“

„Stell dich nicht so an. Kriegst ’nen Fünfziger extra. Na, was ist?“

„Na schön.“ Sie schob ihren Slip herunter. Sie saß noch nicht ganz auf der Brille, da kam er angeschossen. „Muss das sein? Für meinen Geschmack ist das ein bisschen sehr nah.“

„Sei nicht albern. Komm schon, ich will nur zugucken, versprochen.“

Als es leise plätscherte, strahlte er wie ein Kind und fasste sich mit einer Hand in die Unterhose.

Manchmal könnte sie kotzen, aber echt. Er reichte ihr zwei Blatt Klopapier und beobachtete sehr genau, wie sie sich abtupfte. „Das macht dich total an, was?“

Er nickte stumm.

„Na, dann können wir ja jetzt …“ Sie wusch sich die Hände und wollte an ihm vorbei, doch er hielt sie fest. „Was?“

„Du könntest dich waschen.“ Seine Stimme war rau.

„Waschen? Du meinst, zwischen den Beinen?“

Er nickte.

„Wenn’s dich antörnt.“ Sie zuckte mit den Schultern und ging zum Waschbecken. Darauf kam’s nun auch nicht mehr an. Sie nahm einen frischen Waschlappen aus dem kleinen Wandregal und feuchtete ihn an. Dabei lief Wasser daneben und bildete eine kleine Pfütze auf dem Boden.

Wie gern würde sie endlich diese verdammten Stiefel ausziehen! Sie zog den Slip runter. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er sich auf den Wannenrand gesetzt hatte, um ihr besser zuschauen zu können. Und sie fragte sich, warum er so eigenartig lächelte …

Stuhr-Heiligenrode

Fiete saß neben Schusters Stuhl und beobachtete jeden seiner Bissen sehr genau.

„Er hat Hunger“, meinte Tilda.

„Und Durst“, setzte ihr Bruder hinzu.

„Er ist verfressen“, sagte ihre Mutter entschieden und schüttelte den Kopf. „Er bekommt nichts am Tisch.“ Sie schob den Stuhl zurück und scheuchte die beiden auf. „Wer als Erster im Bad ist und sich anschließend fix und fertig angezogen hat, darf sich heute Nachmittag ein Spiel aussuchen.“

„Memory!“, rief Tilda und rannte los.

Schuster blickte ihnen schmunzelnd nach. Er strich dem kleinen Kater über den Kopf und tröstete ihn, dass Frauchen ganz bestimmt nicht halb so hartherzig war, wie sie gerade getan hatte.

Sein Handy klingelte.

Es war Kuhn. „Eine Tote. Wieder im Viertel, und wieder in einem Badezimmer.“

„Das gibt’s ja gar nicht.“ Er stand auf und ging in den Flur, um sich anzuziehen. Kuhn nannte ihm die Adresse, und er schlüpfte in seine bequemen Sportschuhe.

Seine Frau kam die Treppe herunter. „Musst du schon los?“

„Wieder eine tote Frau.“

Sie nickte. „Heute Nachmittag hat Jonah seine erste Therapiestunde. Schon etwas eigenartig, das eigene Kind zu therapieren.“

Er lächelte. „Er ist in den besten Händen.“ Er gab ihr einen Kuss und zog die Tür hinter sich zu.

Im Viertel

Die Begrüßung blieb ihm im Hals stecken, als er das Badezimmer betrat. Kuhn stand rechts von ihm und machte ein Zeichen, das er nicht deuten konnte. Im Moment war ihm das aber auch völlig egal, denn er hatte die Tote auf den ersten Blick erkannt: Es war Penny. Er hatte ihre Stimme noch im Ohr. Penelope, wie die Frau von diesem Kerl, der zehn Jahre auf dem Meer rumschippern musste …

Ihm wurde übel. Nicht Penny.

Verdammt. Und jetzt lag sie direkt vor ihm, zu seinen Füßen, halbnackt, mit heruntergelassenem Slip und knallroten Lackstiefeln, die bis zum Oberschenkel reichten.

„Penny“, murmelte er schockiert und hockte sich neben sie.

Kuhn kniete sich auf die andere Seite. „Ich weiß, hab sie auch gleich erkannt.“

Stello kam herein und legte die Hand auf seine Schulter. „Ihr kennt die Frau, hab ich gehört.“

Er nickte stumm. Dann riss er sich zusammen. „Kannst du uns schon was sagen, Carsten?“

Der Doc blickte ihn verdattert an. „Ich könnte schwören, dass du gerade Carsten gesagt hast.“

„Quatsch.“

„Doch, doch.“ Er wies auf die Frau. „So wie’s bisher aussieht, ist sie mit dem Hinterkopf aufs Waschbecken geschlagen und hat sich das Genick gebrochen.“ Er verstummte und schien über etwas nachzudenken.

„Was?“

„Ein nasser Waschlappen liegt im Waschbecken, offenbar wollte sie sich waschen.“

„In Lackstiefeln?“

„Das finde ich auch seltsam“, sagte Kuhn nachdenklich. „Wahrscheinlich war ein Freier bei ihr.“

„Aber warum ruft er dann keinen Krankenwagen?“ Stello zeigte auf den roten Spitzen-BH, der hochgeschoben war und ihre Brüste freigab. „Welche Frau wäscht sich und zieht dabei den BH nicht ganz aus, Heiner? Und die Stiefel lässt sie auch an? Blödsinn. Nein, ich glaube, er wollte ihr dabei zusehen. Und als sie ausrutscht und hinschlägt, kriegt er Panik und haut ab.“

Schuster nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Wieder hatte er miserabel geschlafen. Nahm das überhaupt kein Ende? Wann würde er morgens endlich mal wieder erholt und ausgeruht aufwachen?

„Er wollte, dass sie den BH hochschiebt, damit er was zu gucken hat“, redete Kuhn weiter. „Oder aber … nein.“

„Was, Moritz?“, fragte Schuster träge.

„Er könnte sie … nein.“

„Was? Nun rede schon.“

Kuhn drehte sich zu ihm um. „Schlecht geschlafen?“

„Ich schlafe nur noch schlecht. Also?“

„Mir ist gerade was durch den Kopf gegangen.“

„Das du bitte mit uns teilen sollst.“

Kuhn seufzte. „Na schön. Sie ist ausgerutscht und hingeschlagen. Und als er feststellt, dass sie nicht mehr lebt, hat er …“

„Ja?“ Schuster und auch der Doc sahen ihn gespannt an.

„Er hat ihr selbst den BH hochgeschoben und sie … na ja, befummelt und so.“

„Und so?“

„Vielleicht auch mehr.“

„Du meinst, so wie bei Carola?“

Stello nahm seine Tasche und ging zur Tür. „Vielleicht kann ich euch heute Nachmittag schon mehr sagen.“

Schuster hatte kaum hingehört. Er konnte nicht anders, er musste die ganze Zeit Penny ansehen, die Frau, die eine so flammende Rede auf Carola Langens Beerdigung gehalten hatte. Er empfand es als ausgesprochen demütigend, wie sie dalag, mit entblößtem Unterkörper, die Beine gespreizt, den roten Spitzen-BH über die Brüste geschoben.

„Kann sie vielleicht mal jemand zudecken?“ Er stöhnte auf und rieb sich erneut die Augen.

Kuhn nahm ein großes weißes Handtuch, das über dem Heizkörper hing, und breitete es über Penny aus. Nur die Spitzen ihrer roten Lackstiefel lugten hervor.

Für einen Augenblick überlegte Schuster, ob er vielleicht träumte. Er war spät eingeschlafen, nachdem er sich ewig hin und her gewälzt hatte, und träumte jetzt von der toten Penny, die man halbnackt in ihrem Badezimmer gefunden hatte.

„Wir sind hier fertig.“ Jemand von der Spurensicherung stieß ihn versehentlich an. „’tschuldigung.“

„Was?“ Nein, kein Traum. Leider. „Ach, schon gut.“

„Was ist mit der Wohnung? Irgendwelche Einbruchspuren? Durchwühlte Schränke, irgendwas?“, fragte Kuhn.

„Nichts, nein. Wir haben sogar dreihundert Euro gefunden. Lagen im Nachtschrank in der untersten Schublade.“

Kuhn machte „Hmm“ und betrachtete das weiße Frotteetuch.

„Ein unglückseliger Zufall“, murmelte er vor sich hin.

Schuster gähnte. Er brauchte dringend einen Kaffee.

Kuhn hockte sich neben Penny. „Sie stürzt, bricht sich das Genick, und er nutzt die Gunst der Stunde.“

„Was murmelst du da vor dich hin, Moritz?“

Kuhn stand wieder auf. „Ach nichts, schon gut. Nur so ein Gedanke.“

„Seit wann hast du Geheimnisse vor mir?“

„Lass uns später im Büro drüber sprechen, ja? Ich brauche erst mal ’nen Kaffee.“

Schusters „Ich auch“ ging in den Stimmen der beiden Männer unter, die mit der Zinkwanne durch die Tür traten, um Penelope Lühmann, genannt Penny, abzuholen.

Er saß bereits im Auto, als Sabine Deisterkamp mit Kameramann Guido angedonnert kam. Reifen quietschten, und die Reporterin sprang aus dem Wagen und klopfte an seine Fensterscheibe.

„Morgen“, brummte er. „Ich hab verdammt schlecht geschlafen, noch miesere Laune und hatte noch keinen Kaffee. Ärgern Sie mich also bloß nicht.“

Sie beugte sich durchs Seitenfenster. „Guten Morgen, Herr Hauptkommissar. Was machen Ihre sympathische Frau und Ihre bezaubernden Zwillinge?“

„Und streuen Sie mir keinen Puderzucker in den Hintern, das kann ich fast noch weniger leiden.“ Er hatte trotzdem grinsen müssen.

„Gut, dann eben so: eine Leiche? Hier im Viertel? Sagen Sie nicht, wieder eine Prostituierte? Und Sie haben mal wieder nichts, keine Spuren, keine Zeugen, nicht einen Verdächtigen, hab ich recht?“ Ihre Mundwinkel zuckten, das hatte er wohl gesehen.

Er öffnete die Tür, stieg seelenruhig aus und lehnte sich an seinen Kombi. Es nieselte schon wieder, und er stülpte sich die Kapuze seines Anoraks über. Die Reporterin hatte nichts dergleichen, auch keinen Regenschirm. Aber sie war nicht aus Zucker, das hatte sie nicht erst einmal bewiesen.

„Frau Deisterkamp. Sabine.“ Er zwinkerte ihr zu. „Warum mühe ich mich eigentlich immer so elend mit Ihrem Nachnamen ab, wo Sie doch einen so hübschen Vornamen haben?“

„Weil Sie immer so schrecklich steif sind, Herr Kommissar.“

„Dann darf ich Sie Sabine nennen?“

„Na klar.“

Er nickte. „Fein. Was wollten Sie gleich noch mal wissen?“

„Ob es wieder eine Prostituierte ist.“

„Ja.“

„Gibt es einen Zusammenhang?“

„Das können wir nicht ausschließen.“ Er stieg wieder ein. „Sie wissen doch, Sie werden die Erste sein, die etwas erfährt, das hab ich Ihnen vor Jahren versprochen und mich bisher dran gehalten, oder?“

Sie legte die Hand ins Fenster, als wollte sie ihn am Losfahren hindern. „Das rechne ich Ihnen auch hoch an, Herr Kommissar.“

„Na, sehen Sie. Ich rufe Sie heute Nachmittag an, und Sie halten bis dahin die Nachrichten zurück.“ Er ließ das Fenster hoch und fuhr los.

Rechtsmedizin

Stello saß auf einem Hocker und knabberte an einem Keks, als Schuster am späten Nachmittag hereinkam. Im Hintergrund dudelte wie so oft das Radio, Stellos geliebter Klassiksender. „Tag, Doc. Und?“

„Heiner. Auch einen Kaffee?“

„Bloß nicht, danke. Ich bin zurzeit dauernd so nervös.“

„Woran liegt’s?“ Der Doc nahm einen weiteren Keks aus der Packung, die auf seinem Oberschenkel lag. „Plätzchen?“

„Nein, danke.“

„Seit wann schlägst du eine Leckerei aus?“

„Mir ist die Sache mit Penny auf den Magen geschlagen.“ Schuster zeigte nach links, wo der Metalltisch war, auf dem unverkennbar eine Leiche lag, die mit einem grünen Tuch zugedeckt war. Penny. Er schluckte. „Es ist albern, ich weiß, schließlich hab ich dauernd mit irgendwelchen Toten zu tun. Aber Penny hab ich gekannt, weißt du, ich hab mit ihr gesprochen, das ist was anderes.“

Der Doc nickte und stand auf. Während sie nebeneinanderher zum Tisch gingen, sagte er: „Genickbruch, wie ich schon vermutete. Sie muss gestern Nacht zwischen zwölf und eins gestorben sein.“ Er zog das Laken von dem toten Körper. „Sie hatte Sperma in Mundhöhle und Vagina.“

„Also hatte sie Geschlechtsverkehr.“

„Sehr wahrscheinlich nach ihrem Tod, da ich im Magen wieder nichts finden konnte.“

Schuster sah ihn von der Seite an. „Irgendwelche Spuren, dass sie sich gewehrt hat?“

„Nein, nichts. Nicht mal Kratzer.“

Schuster rieb sich übers Gesicht. Er hatte sich nicht mal rasieren können. „Was dafür spricht, dass sie dazu keine Gelegenheit mehr hatte. Meine Güte, das ist widerlich.“

„Allerdings.“

Er gähnte hinter vorgehaltener Hand, wobei ihm die Tränen in die Augen traten. Gott, war er müde! Ein Königreich für ein paar Stunden Schlaf am Stück.

„Warum schläfst du so schlecht?“, erkundigte sich Stello.

„Wenn ich das wüsste.“

„Machst du dir Sorgen wegen irgendwas? Ist was mit den Zwillingen?“

„Nein, im Gegenteil, sie sind mein Sonnenschein an trüben Tagen, Carsten.“

„Und er hat’s schon wieder getan.“

Schuster betrachtete die tote Penny. Armes Ding.

„Was ist es dann, Heiner?“

„Was? Ach so.“ Er seufzte. „Ich hab keine Ahnung, das ist es ja. Ich falle todmüde ins Bett und bin sicher, dass ich wie ein Baby schlafe. Und dann wälze ich mich von links nach rechts, gehe meiner armen Frau auf die Nerven, stehe schließlich wieder auf, lege mich auf die Couch und wälze mich auch dort.“

„Gedankenkarussell?“

„Manchmal.“

„Hast du’s mal mit einem Gläschen Rotwein versucht?“

„Davon bekomme ich neuerdings Kopfschmerzen.“

Nun seufzten beide.

Nach einer Weile fragte Schuster leise: „Das liegt nicht etwa an den Hormonen, oder? Wer sagt, dass nur Frauen in der Lebensmitte miserabel schlafen, Schweißausbrüche kriegen und so?“

„Niemand.“

„Eben.“

Der Doc ging zu seinem geheimnisvollen Schränkchen und kramte einen Moment darin herum. Er kam mit einer kleinen Schachtel zurück, die er Schuster in die Hand drückte. „Davon nimmst du abends eine halbe. Mehr nicht, hörst du, ansonsten müssen sie dich morgens ins Büro tragen, und das willst du bestimmt niemandem zumuten.“

„Danke, Doc.“ Er warf einen Blick in die Packung. „Da sind ja nur zwei Tabletten drin“, stellte er enttäuscht fest.

„Denkst du, ich gebe dir eine volle Packung Schlaftabletten mit? Du musst mich für reichlich plemplem halten.“

„Nein, Doc.“ Schuster legte die Hand auf seine Schulter. „Ich halte dich für einen großartigen Mediziner und guten Freund. Und für meinen Retter in der Not.“ Theatralisch küsste er die Tablettenpackung. „Komischerweise geht’s mir gleich besser, wenn ich weiß, dass ich wie ein Murmeltier schlafen werde.“

Er verzog das Gesicht. „Meine Gattin weigert sich, mir noch eine Schlaftablette zu geben“, verriet er. „Da ist sie sehr eigen. Sie hat Angst, dass ich süchtig werden könnte. Von einer Schlaftablette.“ Er schnalzte mit der Zunge.

„Deine Gattin ist eine kluge Frau. So abwegig ist das nicht.“

„Ach komm schon, Carsten, ich werde doch nicht von ein oder zwei Schlaftabletten süchtig. Ich doch nicht.“

„Das haben schon ganz andere gesagt.“

Er war auf dem Flur kurz vor seinem Büro, als Bauer wie ein Berserker durch die Tür vom Treppenhaus kam. Er steuerte auf ihn zu, und Schuster hatte gleich so eine Ahnung, was ihn erwartete. „Herr Bauer, das ist …“ … gut, dass Sie da sind, hatte er sagen wollen, doch dazu kam es nicht, weil Berti Bauer sich vor ihm aufgebaut hatte und alles andere als erheitert aussah. Der Mann schäumte vor Wut.

„Penny is’ tot! Meine kleine Penny liegt mausetot in ihrer Wohnung, Herr Kommissar! Und was machen Sie? Sie fragen die Anwohner, ob sie ’nen Kerl gesehen haben! Als wenn da nicht ständig Kerle rein- und wieder rausgehen! Ich sage Ihnen, da draußen rennt ein Bekloppter rum! Ein Perverser! Einer, der meine Mädchen umbringt! Ich finde das überhaupt nicht witzig, Herr Kommissar!“ Endlich machte er eine Pause. Das Reden hatte ihn ganz offenbar erschöpft, denn er rang nach Luft und ließ sich einfach auf den nächstbesten Stuhl fallen, der links von ihnen stand.

„Herr Bauer“, Schuster setzte sich neben ihn, „ich verstehe, dass Sie außer sich sind, wirklich. Zwei ihrer … Mädchen sind tot, und wir …“

„… nehmen das nicht ernst genug“, beendete Bauer den Satz und schnaubte. „Genau das ist der Punkt.“ Er sprang auf und rannte zurück zur Tür. Dort drehte er sich noch mal zu Schuster um. „Ich kümmer’ mich selbst drum!“

Damit rauschte er ab.

„Bauer war eben da, hab ihn auf dem Flur getroffen“, erzählte Schuster Kuhn kurz darauf, als sie zusammen an ihren Schreibtischen saßen.

Kuhn kaute auf seinem Kuli und blickte nachdenklich aus dem Fenster. „Lass mich raten, er glaubt, dass wir untätig auf unserem Hintern rumsitzen.“

„Genau das. Ich hab ihm nicht mal sagen können, dass sie gestürzt war und sich das Genick gebrochen hatte.“

„Viel haben wir nicht, Heiner. Und bisher können wir auch nur vermuten, dass es sich um ein- und denselben Täter handelt.“

„Es ist unwahrscheinlich, dass wir es mit zwei Tätern zu tun haben, Moritz, das wissen wir beide.“

Was sie bisher tatsächlich gefunden hatten, waren zwei identische Fingerabdrücke sowohl in Carola Langens als auch in Penny Lühmanns Wohnung.

Kuhn nickte vor sich hin. Dann wandte er sich zu Schuster um. Der blickte ihn gespannt an. „Ich wette, du hast dir bereits Gedanken zu diesem Mann gemacht.“

Ohne ein Wort ging sein Kollege zu der durchsichtigen Wand, die sie aufgestellt hatten, nahm einen der Gelstifte und schrieb in Großbuchstaben „Carola“ und „Penny“ darauf. Dann holte er Fotos der Frauen und heftete sie über den jeweiligen Namen. Er schrieb ein paar Worte, und Schuster musste seine Brille nehmen, um sie lesen zu können. Er machte ein paarmal „Hmm“ und legte den Kopf schief. „Carola war zweiundvierzig, Penny achtunddreißig. Er scheint also nicht unbedingt auf junges Gemüse zu stehen, meinst du.“

Kuhn nickte und schrieb weiter.

„Und du glaubst, er geht nicht in die Helenenstraße, weil er Angst hat. Wovor sollte er Angst haben, Moritz?“

Sein Kollege drehte sich zu ihm um, den Stift in der Hand. „Vielleicht hat er Angst vor den Frauen dort.“

„Warum sollte er?“

„Weil sie sich auf eine ganz andere Art anbieten als die, die in ihrer eigenen Wohnung arbeiten, auch wenn man sie nicht unbedingt als Callgirls bezeichnen kann. Das ist wiederum eine andere Kategorie Prostituierte.“

„Du kennst dich aus“, sagte Schuster trocken.

„Er geht bewusst zu einer Frau, die eine Wohnung hat, wo er klingeln kann und reingelassen wird. Es ist anonymer. Er mag nicht durch die Helenenstraße gehen und sich eine Frau aussuchen. Das macht ihm vielleicht Angst. Es verunsichert ihn. Carola und Penny und all die anderen Frauen schalten Zeitungsannoncen, und so kann er sich in aller Ruhe aussuchen, was ihm gefällt, ihn anmacht.“

Schuster nickte. Er hatte die Anzeigen von Carola Langen und Penny Lühmann gelesen. Sie waren eindeutig, aber nicht so deftig und schlüpfrig wie die von vielen anderen Prostituierten. Sie wussten mittlerweile auch, dass Penny sich als Samantha und manchmal auch als Doro ausgegeben hatte. „Du glaubst, er ist keiner dieser Männer, die Schluckauf kriegen, wenn sie solche Sachen lesen wie Jung und geil und dauerfeucht?“

Kuhn grinste. „Du kennst dich auch aus.“

„Berufsbedingt.“

„Ich glaube wirklich, dass er jemand ist, der in Ruhe gucken und sich dann überlegen möchte, zu welcher Frau er geht. Frauen, die sich auf der Straße anbieten und bereits dort fast alles zeigen, was sie zu bieten haben, machen ihn nicht an, vielleicht schreckt es ihn sogar ab.“

„Aber er steht drauf, wenn sich eine Frau wäscht.“

„Was ja nicht unbedingt pervers ist, oder?“

„Na, ich weiß nicht.“ Schuster setzte sich wieder und nahm die Brille ab. „Der Mann ist also ein eher unsicherer, verklemmter Typ?“

Kuhn zuckte mit den Schultern und hockte sich auf die Schreibtischkante. „Ich kann danebenliegen, aber ja, ich glaube, er ist etwas verklemmt.“

„Glaubst du, dass wir es mit einem älteren oder eher jüngeren Mann zu tun haben?“

„Vielleicht mit einem älteren. Mit jemandem, der endlich mal Macht über eine Frau haben will, verstehst du?“

Schuster machte „Hmm“. Verstand er das? „Das werde ich auf der Pressekonferenz aber nicht sagen. Noch nicht. Am Ende lösen wir eine Panik unter den Frauen aus. He, da läuft ein Kerl rum, der mal so richtig zeigen will …“ Er hielt inne und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf. „Wer sagt denn, dass er sich nur Prostituierte sucht?“

„Niemand.“

„Eben.“

„Aber es ist unwahrscheinlich, dass es nur zufällig zwei Huren erwischt hat. Und was die Pressekonferenz angeht … Die schreiben doch sowieso, was sie wollen.“

„Nicht meine Freundin Sabine.“

Kuhn lachte. „Lass uns doch einfach mal sehen, wen wir in der Kartei haben. Vielleicht haben wir einen vorbestraften Kerl, auf den meine Vermutungen passen könnten.“

Schuster und das böse Erwachen

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