Читать книгу Die Macht des Jaguars - Susanne Linzbacher - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеNachdem der Pilot seine Passagiere im peruanischen Cusco am Flughafen aufgenommen hatte, flog der Helikopter durch das herrliche, mit schier undurchdringlich wirkenden grünen Wäldern überwucherte, Urubambatal in den Anden. Die Hänge der Berge wirkten gar nicht so extrem hoch, wenn man bedachte, dass hier der eine oder andere fünftausend Meter hohe Gipfel dabei war. Nur noch wenige Windungen des Tales und die Insassen würden endlich einen Blick auf einige der großartigsten Bauwerke der Menschheit werfen können. Eine letzte Biegung und da war es. Eine längst vergangene, aber immer noch herrlich präsente Vergangenheit breitete sich unter ihnen aus. Staunend blickten die beiden Passagiere nach unten.
„Sieh dir das an. Es wirkt, wenn man es mit eigenen Augen sieht, viel beeindruckender als auf Fotos!“, rief die Frau überwältigt aus.
Nur von der Luft aus konnte man die gewaltigen Anstrengungen, welche die Inkas auf sich genommen hatten, um diese Stadt auf den Rücken des Berges zu erbauen, richtig erfassen. Ein Steinhaus neben dem anderen, von terrassenförmig angelegten Feldern umgeben, auf denen heute anstatt Getreide nur noch Gras wuchs. Alles überragt vom Gipfel des Huayna Picchu.
„Grandios nicht wahr?“, lächelte der Mann sie an und starrte selber wieder fasziniert nach unten auf die Stadt am Berg.
Nach einer Umrundung der Ausgrabungsstätte landete der Helikopter schließlich unten im Tal, in Aquas Calientes. Ein kleiner Ort mitten im Nirgendwo, den es gar nicht geben würde, wenn da nicht Hiram Bingham im Jahre 1911 die inzwischen weltberühmten Ruinen der Inkastadt Machu Picchu, oben am Bergrücken wiederentdeckt hätte.
Nachdem die Rotorblätter gestoppt hatten, öffneten sich die Türen des Helikopters, ein Mann lief darauf zu und half der hübschen blonden Frau Anfang Vierzig heraus. Gleich hinter ihr kletterte der etwa gleichaltriger großgewachsene Mann südländischen Typs heraus.
Dylan und Laura Huntley waren aus ihrer Heimat England angereist um Dylans neuestes Buch ‚Der letzte Krieger‘ vorzustellen. Dylan Huntley, ein berühmter Autor, der hauptsächlich Abenteuerromane und Kriminalgeschichten herausbrachte, hatte einen packenden Thriller geschrieben, in dem die Ruinen von Machu Picchu eine Schlüsselrolle spielten. Sein Verleger fand es eine geniale Idee, die Präsentation direkt am Ort des Geschehens stattfinden zu lassen und deshalb nahm das Ehepaar die weite Anreise aus England in Kauf. Dylan war zuvor schon gemeinsam mit dem peruanischen Archäologen Luis Martinez hier gewesen, um sich alles vor Ort ganz genau anzusehen, um die Atmosphäre der Stadt aufzunehmen und besser beschreiben zu können. Er fand den Ort nach wie vor faszinierend. Keiner wusste genau, warum die Inkas diese Stätte verlassen hatten oder welchem Zweck sie früher einmal diente. Diese Fragen würde vermutlich auch nie beantwortet werden. Dylan mochte das Rätselhafte und er liebte alte Gemäuer und so fühlte er sich sehr zu den Ruinen hingezogen. Die alten Steine wollten eine Geschichte erzählen, die man nicht hören konnte. Wie stumme Zeitzeugen standen sie da. Unverrückbar mit dem Hügel verbunden, überdauerten sie die Jahrhunderte, während die Menschen darin schon längst verschwunden waren.
Der Mann, der Laura aus dem Helikopter geholfen hatte, begrüßte die beiden herzlich und stellte sich als Tomas Andigo vor. Er war verantwortlich für die Organisation der Buchpräsentation und Lesung vor Ort.
Tomas Andigo schob das Ehepaar in Richtung eines roten Jeeps, der am Rand des Landeplatzes wartete und meinte: „Bitte, der Wagen wartet schon. Wir werden Sie gleich nach oben zu den Ruinen fahren. Die Lesung kann dann sofort starten.“
„Sehr gut“, erwiderte Dylan. „Ich freue mich schon darauf, Machu Picchu wiederzusehen. Die Stadt ist immer wieder ein tolles Erlebnis.“
Er rieb sich innerlich, vor Aufregung, die Hände und konnte es kaum erwarten nach oben in die Ruinenstadt zu fahren.
Andigo wandte sich zu Laura und fragte sie: „Waren sie auch schon mal hier Mrs. Huntley?“
Laura schüttelte den Kopf: „Nein leider nicht. Aber ich bin schon sehr gespannt.“
Sie lachte und deutete mit dem Kopf auf ihren Mann: „Dylan hat mir immer wieder begeistert davon vorgeschwärmt.“
Er legte den Arm um seine Frau und lächelte sie an: „Du wirst sehen, ich habe dir nicht zu viel versprochen. Die Ruinen sind einfach eine Klasse für sich.“
Er brannte darauf, die Ruinen nach der Lesung mit Laura zusammen durchwandern zu können.
Sie stiegen in den Jeep und fuhren auf der acht Kilometer langen Serpentinenstrecke zu den Ruinen hinauf. Eine Windung nach der anderen nahmen sie über die geschotterte Straße nach oben. Unter ihnen wurde die Schlucht immer tiefer. Höher und höher klettere der Jeep den Berg hinauf. Dylan vermied es direkt in den Abgrund neben der Straße zusehen, er fühlte sich mit der Höhe nicht so recht wohl.
Ein paar Wanderer, die über Steinstufen links von ihnen den Berg hinaufstiegen, kreuzten ihren Weg. Sie fuhren durch einen kurzen grünen Tunnel, den über die Straße zusammengewachsene Bäume gebildet hatten. Die Aussicht auf die umliegenden Berge war atemberaubend schön und unter ihnen im Tal floss gemächlich ein schmaler Strom mit schlammig braunem Wasser dahin. Sie kamen immer höher und Dylan wartete schon sehnsüchtig auf das Erscheinen der Ruinenstadt.
„Das zieht sich ganz schön nach oben“, stellte auch Laura fest.
„Ja aber das steigert die Vorfreude auf die Stadt“, grinste Dylan.
Endlich kam die letzte Kehre und nach einer längeren geraden Strecke kamen sie schließlich zum Eingang der Stadt. Am Parkplatz standen schon einige Busse, aus denen Menschen kletterten und in Richtung Stadt strömten. Dylan seufzte innerlich und breitete sich gedanklich schon auf die Fragen der Reporter vor.
Andigo hielt den Wagen an und Dylan stieg zuerst aus dem Auto. Die Journalisten, die sich am Parkplatz zusammengerottet hatten, stürzten sich, als sie ihn erkannten, sofort auf ihn.
Er schmunzelte und mit den Worten: „Das letzte Mal als ich hier war, war hier nicht so ein Trubel“, stellte er sich den Reportern.
„Mr. Huntley, haben sie schon mit dem nächsten Buch angefangen?“, rief ihm einer der Reporter zu.
„Noch nicht“, antwortete Dylan und versuchte sich, Laura hinter sich herziehend, durch die Journalisten hindurch zu schlängeln.
Die Reporter stellten Frage um Frage und Dylan bemühte sich die meisten davon zu beantworten.
Tomas Andigo half ihnen, durch das Gedränge in Richtung Stadt weiterzukommen: „Bitte treten Sie doch zur Seite. Er wird nach der Lesung gerne alle Ihre Fragen beantworten, aber jetzt lassen Sie ihn bitte durch.“
Mit diesen Worten schob er beherzt einige der Reporter aus dem Weg und lotse das Ehepaar an ihnen vorbei. Dylan sah ihn dankbar an und schritt beherzt aus, um so schnell wie möglich weiter zu kommen.
Sie kamen auf einen schmalen Pfad, der entlang der Terrassenfelder angelegt war. Nach oben und unten erstreckten sich die, mit Gras begrünten, Terrassen. Der Weg endete an einer Steinmauer. Nach links führte eine Steintreppe nach oben zu weiteren Terrassen mit alten, halb zerfallenen Häusern und rechts ging es nach unten ins Zentrum der Ruinenstadt.
Dylan schob Laura vor sich, damit die nachdrängenden Journalisten sie nicht zum Stolpern brachten. Vorsichtig traten sie über die unebene Steintreppe nach unten.
Immer wieder Fragen beantwortend, ging er langsam auf das große Zelt zu, welches extra für die Buchpräsentation im Zentrum der Stadt, am ‚Plaza Principial‘, aufgebaut worden war. Dylan musste einen Moment innehalten und die Aussicht genießen. Hinter dem Zelt tat sich der zweitausendsiebenhundertundeinen Meter hohe Huayna Picchu auf und seitlich davor lagen die geheimnisvollen Ruinen der Inka-Stadt Machu Picchu.
„Das beste Ambiente für eine Buchpräsentation, die man sich nur wünschen kann“, stellte Dylan fest.
Er liebte diesen geheimnisumwobenen Ort, an dem er Monate zuvor intensive Recherchen durchgeführt hatte.
Andigo nickte: „Eigentlich wollten wir die Lesung für den Abend ansetzen, um mit beleuchteten Ruinen noch eine bessere Stimmung zu erzeugen, aber leider konnten wir dafür die Genehmigung nicht bekommen“, seufzte er enttäuscht.
„Es ist auch so faszinierend“, tröstete Dylan ihn.
Ein weiterer Mann hatte sich zu ihnen gesellt und Andigo stellte ihn als Manuel Feltano, einem jungen Historiker vor, der die Anlage für seine Doktorarbeit erforschte.
Laura wandte sich an Andigo und fragte ihn: „Dylan ist ja die nächsten Stunden beschäftigt, wäre es möglich, dass mir jemand inzwischen die Ruinenstadt zeigt?“
Andigo nickte: „Natürlich“, und deutete auf den Historiker: „Manuel kennt die Stadt sehr gut und spricht ihre Sprache perfekt, er wird Sie gerne herumführen.“
„Ja selbstverständlich. Das mache ich wirklich sehr gerne Señora Huntley“, nickte dieser eifrig.
„Dann lassen Sie uns gleich losgehen“, ermunterte sie ihn.
Manuel zeigte mit einer einladenden Geste in Richtung Ruinen: „Bitte Señora Huntley. Ich werde Ihnen alles zeigen und Ihnen die Ausgrabungsstätte erklären.“
Nachdem Laura ihrem Mann noch eine gute Lesung gewünscht hatte, wanderten die beiden los. Dylan sah den beiden nach und musste lächeln. Er hatte in Lauras Augen dieselbe Begeisterung zu den Ruinen gesehen, die auch er empfand.
Dylan hatte Laura, eine Anwältin, die sich hauptsächlich um Verträge unterschiedlichster Art, auch die von Dylan, kümmerte, an der Universität kennengelernt, wo sie beide studiert hatten, er Wirtschaft und Materialwissenschaften und sie Jura. Bei dem Gedanken, wie er sie das erste Mal getroffen hatte, musste er unwillkürlich schmunzeln. Dylan hatte sie damals im wahrsten Sinne des Wortes umgerannt, als er, wie immer etwas zu spät dran, zu einer Universitätsvorlesung gerannt war. Als er um die Ecke schoss, stand im Laura plötzlich im Weg und beide landeten am Boden. Die beiden sahen sich und die Bescherung mit den verstreuten Büchern rund um sie herum an und Laura lachte laut los weil er, wie sie ihm später erzählte, so verdutzt dreingesehen hatte. Er konnte nicht anders und stimmte in ihr Lachen ein, während sie die Bücher gemeinsam wieder aufsammelten. Dylan lud sie daraufhin auf einen Kaffee zur Wiedergutmachung ein. Er pfiff auf die Vorlesung, zu der er, wie er fand, inzwischen sowieso weit zu spät war und verbrachte einen wunderbaren Vormittag mit Laura. In den nächsten Tagen verabredeten sie sich immer wieder und er freute sich, dass er sie schnell für sich gewinnen konnte und sie ein Paar wurden. Er liebte ihre herzliche Art und ihre Fähigkeit, das Leben mit Humor zu nehmen. Auch ihr Selbstbewusstsein hatte ihn von Anfang an angezogen, da er Ja-sagende Püppchen noch nie mochte. Wie er, war sie sehr an alten Kulturen und vor allem an alten Gemäuern interessiert und hatte sich irrsinnig auf die Besichtigung gefreut. Dylan konnte sich nicht vorstellen, ohne sie zu sein. Zärtlich blickte er ihr ein letztes Mal nach, als sie mit Manuel um die Ecke eines Gebäudes verschwand und dachte daran, wie unzertrennlich sie in den mehr als zwanzig Jahren ihrer Ehe geworden waren. Er hatte es keinen Tag bereut, dass sie so schnell und jung geheiratet hatten. Er musste an seinen Vater denken, einem eher gebieterisch veranlagten Spanier, der extrem gegen die frühe Heirat war. Zum Glück fand Dylan, stand dafür der Rest seiner Familie hinter ihnen. Auch Lauras Eltern, englische Diplomaten, mit denen er sich gut verstand, wünschten ihnen einfach alles Gute.
Dylan lächelte bei der Erinnerung daran, wie sie bald darauf das erste Mal Eltern eines kleinen Jungen wurden und gar nicht genug von dem kleinen Diego bekommen konnten, sodass sie kurze Zeit später einen weiterer Jungen und bald darauf noch Zwillingsmädchen in die Welt gesetzt hatten. Er seufzte bedauernd, als er daran dachte, dass die Kinder inzwischen alle am College waren und ihre eigenen Wege gingen.
Dylan drehte sich um und wendete sich in Richtung es Festzeltes. Er war fast bei der kleinen aufgebauten Bühne angekommen, als er auf Professor Luis Martinez traf. Der Professor für Archäologie an einer Universität in Lima hatte ihm bei den Recherchen zu seinem Buch sehr geholfen und sein Wissen über die Inkas stark erweitert.
Er freute sich, den älteren Gelehrten zu sehen, und begrüßte ihn sofort: „Hallo Professor Martinez. Es freut mich außerordentlich, dass Sie kommen konnten.“
Der Professor nahm Dylans Hand und schüttelte sie: „Das hätte ich mir doch um nichts entgehen lassen können Mr. Huntley.“
Er wirkte allerdings sehr ernst und sah sich suchend um.
Von hinten drängte Tomas Andigo: „Bitte Mr. Huntley. Die Gäste warten schon…“
Dylan wurde weitergeschoben und hörte nur noch, wie der Professor ihm nach rief: „Ich würde mich später gerne mit ihnen über etwas sehr Wichtiges unterhalten.“
Dylan konnte ihm nur noch zunicken und weiter auf die Bühne gehen. Er wunderte sich über den nervösen Eindruck, den der Professor bei ihm hinterlassen hatte, denn das war sonst nicht die Art des Gelehrten. Er begrüßte alle Gäste und bedankte sich für deren Kommen. Eine hübsche dunkelhaarige junge Frau stand neben einem Regal, in dem man einige der Bände des neuen Buches aufgestellt hatte. Dylan wurde gebeten sich dort fotografieren zu lassen und bereitwillig stellte sich zu seine Bücher. Er versank förmlich im Blitzlichtgewitter und seine Augen begannen durch die grellen Lichter zu schmerzen. Als die Fotos endlich alle im Kasten waren, setzte er sich an den bereitgestellten kleinen Tisch, mit einem darauf platzierten Mikrofon und begann zu lesen. Er fing nicht, wie sonst üblich war, mitten im Text zum Lesen an, sondern ganz vorne beim allerersten Wort. Er wollte, dass seine Zuhörer am Ende brannten zu erfahren, wie es weiter ging.
Nach einer Stunde beendete er seine Lesung an einer besonders spannenden Stelle und einem schelmischen Lächeln im Gesicht, mit den Worten: „Wenn sie wissen möchten, wie es weiter geht, müssen sie sich ein Exemplar kaufen und selber weiterlesen.“
Nach einem Chor aus enttäuschten ‚Ohhhs‘ kamen wieder die üblichen Fragen der Reporter.
„Was hat Sie zu der Geschichte inspiriert?“
„Wie haben Sie die Charaktere ausgesucht“, und noch viele weitere.
Dylan versuchte, so viele wie möglich zu beantworten. Dann bedankte er sich bei Professor Martinez für seine wertvolle Mitarbeit. Er winkte den Professor zu sich auf die Bühne und stellte ihn dem versammelten Publikum vor.
„Ohne Professor Martinez wäre dieses Buch nicht einmal halb so gut und spannend, wie es am Ende geworden ist“, lobte Dylan ihn und zog ihn neben sich. Der Professor wirkte angespannt und machte einen gehetzten Eindruck auf Dylan. Er nahm an, dass dem älteren Herrn die Aufmerksamkeit peinlich wäre. Er schüttelte ihm deshalb die Hand und bedeutete ihm, dass er die Bühne gerne wieder verlassen dürfte.
Bevor Professor Martinez die kleine Treppe vom Podium hinunterstieg, drehte er sich noch einmal zu Dylan um und bat ihn noch einmal leise flüsternd: „Können wir uns später irgendwo ungestört unterhalten?“
Dylan nickte zustimmend und wandte sich verwundert, warum der Professor so vehement auf ein Gespräch aus war, wieder dem Reporter zu, der ihm gerade eine Frage stellte. Im Augenwinkel sah er noch, wie der Professor sich am Lesungstisch bückte, wieder aufstand und von der Bühne ging. Er steuerte auf eine der hinteren Sesselreihen zu, in der noch einige freie Sitzplätze zu finden waren und setzte sich. Dylan bemerkte noch, wie zwei Männer sich zu Martinez in die Reihe drängten und sich links und rechts neben ihn setzten. Sie begannen sofort auf Martinez einzureden. Der Professor schüttelte immer wieder unwillig den Kopf und schien mit ihnen über irgendetwas zu streiten. Durch die Journalisten abgelenkt verfolgte Dylan die Szene jedoch nicht weiter und widmete sich wieder voll und ganz den Fragen, da er mit Professor Martinez in Kürze sprechen konnte um den Grund für dessen Nervosität zu erfahren.
Als die Reporter endlich alle ihre Fragen beantwortet bekommen hatte, begann er für die Besucher Bücher zu signieren und schrieb auf deren Wunsch hin, den einen oder anderen Gruß auf die erste Seite. Er fand, am meisten Aufmerksamkeit benötigten die älteren Damen und Herren. Die Damen waren immer ganz aufgeregt, wenn sie ihn trafen und er bemühte sich immer besonders um sie, während die älteren Herren es als natürliches Privileg ansahen, ihn in schier nie enden wollende Diskussionen über seine Bücher zu verwickeln. Seine jüngeren Leser waren einfacher zu bedienen. Meist begnügten sie sich mit einem Autogramm und einem Foto mit ihm. Als sich die Gäste anfingen, ein wenig zu zerstreuen, suchte Dylan die Menschenmenge nach dem Professor ab.
Er traf Tomas Andigo und fragte ihn: „Haben Sie Professor Martinez gesehen?“
Andigo schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Nein nicht mehr seit er vom Podium gestiegen ist.“
Dylan schlängelte sich durch die Menschen bis zum Zeltausgang durch. Als er durch die Tür nach draußen trat, sah er, wie der Professor, begleitet von den beiden Männern von vorhin, dem Treppenaufgang in Richtung Parkplatz zustrebte. Der Professor drehte sich noch einmal kurz in Richtung des Zeltes, erkannte Dylan, der am Eingang stand und erfasste kurz seinen Blick, während einer der Männer schon die Treppe hochzusteigen begann. Martinez sah sehr ernst, fast ängstlich aus und nickte fast unmerklich mit dem Kopf in Richtung des Zeltes, dann begann er, gefolgt von seinem zweiten Begleiter, ebenfalls die Steintreppe hochzusteigen. Die kleine Gruppe verschwand bald aus Dylans Blickfeld hinter einer Mauer. Er konnte sich nicht erklären, warum der Professor jetzt einfach ging, obwohl er vorhin so auf ein Gespräch gedrängt hatte.
Laura trat, in Begleitung von Manuel Feltano, von hinten an Dylan heran und berührt ihn an der Schulter. Er drehte sich zu ihr und lächelte sie erfreut an, aber er blickte sofort wieder nachdenklich zur Steintreppe, auf der Martinez gerade vorhin verschwunden war.
„Komisch der Professor hat mich vorhin zweimal gebeten, dass ich mich dringend mit ihm unterhalten soll nach der Lesung und jetzt ist er mit zwei Männern einfach weggegangen.“
Laura zuckte mit den Schultern und meinte: „Vielleicht wurde er dringend irgendwo gebraucht. Er ruft dich sicher später an.“
Dylan legte den Arm um seine Frau und zog sie seitlich an sich.
„Allerdings wirkte er merkwürdig auf mich. Als wäre er auf der Suche nach jemanden, den er nicht sehen wollte, außerdem sah er sehr nervös aus. Naja vielleicht hast du recht. Er wird sich schon melden.“
Dylan schüttelte Manuel die Hand und bedankte sich für die Führung, die er mit Laura gemacht hatte.
„Keine Ursache. Das habe ich gerne gemacht. Es ist schön jemandem von den alten Inkas zu erzählen, der sich wirklich dafür interessiert“, lächelte er Laura dankbar an.
„Ich finde es faszinierend, wie dieses alte Volk diese Stadt mit ihren damaligen Werkzeugen bauen konnte“, schwärmte sie.
„Ihr habt von der Rumkletterei in den Ruinen sicher Hunger oder?“, deutete Dylan, der selber inzwischen einen gewaltigen Appetit hatte, in Richtung Buffet.
Die beiden anderen folgten ihm und sie betraten gemeinsam das Zelt.
Sie mischten sich noch ein wenig unter die Gäste und bedienten sich immer wieder am reichlich gedeckten Tisch. Manuel begann eine angeregte Diskussion mit einem der Journalisten und nach dem Dylan und Laura sich satt gegessen hatten, wollte nun auch Dylan noch ein wenig in den Ruinen herumklettern.
„War deine Führung gut?“, wollte er von Laura wissen.
„Ja Manuel weiß wirklich gut über die Stadt Bescheid“, nickte sie.
„Wollen wir noch zu zweit ein wenig herumwandern?“, fragte er sie.
Laura nickte, hakte sich bei ihm ein und sie liefen, die Journalisten und den ganzen Trubel hinter sich lassend, los. Sie gingen über einen großen weiten Platz. Links von ihnen standen stufenweise nach oben versetzte Wohnhäuser, inzwischen ohne das Strohdach, mit dem sie früher einmal bedeckt gewesen waren. Rechts lagen einige Häuser mit bogenförmigen Wänden und kleinen darin angebrachten Nischen, die wohl eher rituelle Funktion gehabt zu haben schienen. Ganz am Ende der Stadt stießen sie auf ein kleines Gebäude, welches wie in früheren Tagen mit Stroh gedeckt war. Rechts daneben hatte man eine kleine Holzhütte neben einem offenstehenden Holzgatter gebaut, welches den Weg frei gab in Richtung des Gipfels des Huayna Picchu. In dem Holzhaus saß ein Mann, der ein dickes Buch vor sich liegen hatte. Jeden einzelnen Wanderer, der durch das Gatter gehen wollte, rief er zu sich. Der Mann schrieb etwas in sein Buch und ließ die Leute danach weiter durch das Tor in Richtung Berg ziehen.
„Sie notieren hier die Personalien von allen, die auf den Berg steigen wollen damit, wenn einer verloren geht, man sofort weiß, dass jemandem etwas zugestoßen ist“, erklärte Dylan seiner Frau, die auf den Mann gedeutet und ihn fragend angesehen hatte.
„Wollen wir auch da hochgehen?“, stieß sie ihn auffordernd an. „Dort oben hat man sicher einen tollen Ausblick“, schwärmte sie.
„Da muss man zum Teil durch enge Durchgänge kriechen und es ist ein recht gefährlicher Weg nach oben“, gab Dylan zu bedenken, dem bei der Aussicht auf die steil abfallenden Felswände unbehaglich wurde.
„Du hast doch bloß Angst runterzufallen“, zog sie ihn im Hinblick auf seine Höhenangst auf.
„Gar nicht wahr. Es ist aber sehr beschwerlich“, verteidigte er sich bemüht seine Schwäche zu überspielen.
„Gehen wir trotzdem?“, grinste sie ihn an.
„Na gut, aber wenn mir schwindlig wird von der Höhe, drehe ich um“, prophezeite er ihr lachend.
Sie traten zu dem Mann mit dem Buch und hinterließen ihre Personalien.
„Viel Spaß!“, wünschte der Mann ihnen noch.
Dylan war etwas mulmig. Er hasste große Höhen, was ihn jedoch selten davon abhielt, nicht trotzdem irgendwo hochzuklettern. Meist tat er es, um sich selbst zu beweisen, dass die Höhenangst ihn nicht einschränken konnte. Sie stiegen eine Weile schweigend hintereinander den Pfad, der zu seiner Erleichterung zwischen Sträuchern durchführte, hoch. Dylan ließ Laura vorausgehen, da er es nicht besonders gerne mochte, dass jemand hinter ihm ging, wenn es auf einer Seite steil nach unten ging und er wusste von seinem früheren Besuch, der Abhang würde später schroff nach unten ragen. Das letzte Mal war er auf halber Höhe umgekehrt, weil der Abgrund ihm, für seinen Geschmack, dann doch ein wenig zu nahe gerückt war. Er würde es ein zweites Mal versuchen und er war davon überzeugt, Laura gab ihm die nötige Kraft dazu. Bis weit nach oben führte der Pfad und der Abgrund war zum Glück nicht zu sehen. Dann jedoch verließen sie das Gestrüpp und vor ihnen taten sich, vor langer Zeit gebaute, Steinmauern auf. Entlang eines steil nach unten abfallenden Abhangs gingen sie weiter auf dem groben Steinweg. Dylan versuchte, möglichst weit auf der Bergseite zu bleiben und mehr auf den Weg zu sehen als in den Abgrund, der sich links vor ihm auftat. Laura, die kein Problem mit der Höhe hatte, lief fröhlich plappernd über die Inkas den Berg hinauf. Je weiter sie nach oben stiegen, desto schummriger wurde ihm. Inzwischen ging es auf beiden Seiten vom Weg schroff nach unten, da sie auf einem schmalen Grat an den äußerten, erreichbaren Punkt gestiegen waren.
Laura schwärmte: „Ist der Ausblick nicht fantastisch? Schau mal, man übersieht hier das gesamte Tal und unter uns breitete sich die Ruinenstadt aus.“
„Hhmm. Ja ist toll der Ausblick“, nickte Dylan etwas beklommen.
„Allzu wohl fühlst du dich hier nicht, oder?“, sah sie ihn zweifelnd an.
„Gehen wir lieber wieder nach unten“, bat er sie, als er merkte, dass ihm anfing, schwindlig zu werden.
Sie nickte, ließ ihn vorgehen und folgte ihm in größerem Abstand, um ihn nicht noch zusätzlich zu verunsichern, da der Weg nicht ungefährlich war. Vorsichtig begann er wieder in Richtung des sicheren Weges zu gehen. Immer schneller stieg er nach unten, bis er vom Gefühl her wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte.
„War es schlimm?“, fragte Laura ihn besorgt, als sie ihm nachgekommen war.
„Nein, es geht schon wieder. Aber ich musste da oben weg“, schwindelte er ein wenig.
Trotzdem war er stolz darauf, dass er es wieder einmal geschafft hatte, über seine Angst zu siegen. Im Nachhinein gesehen, war der Ausblick es wirklich wert gewesen, lächelte er in sich hinein. Gemeinsam wanderten sie den Weg zurück nach unten und beim Eingang zur Stadt trugen sie sich aus dem Besucherbuch wieder aus.
Inzwischen war es Nachmittag geworden und Zeit aufzubrechen. Der Professor war nicht wieder aufgetaucht und ein Blick auf sein Mobiltelefon zeigte Dylan, dass er auch nicht angerufen hatte. Er nahm sich vor, ihn später anzurufen. Sie gingen zurück zum Lesungszelt, wo nur noch ein harter Kern aus Journalisten und Lesungsbesuchern um das restliche Buffet versammelt standen. Dylan marschiert in Richtung Podium und stieg die kleine Treppe nach oben. Er nahm seine Lesungsunterlagen vom Tisch und packte sie in seine Aktentasche, die er daneben auf den Boden gestellt hatte.
Tomas Andigo trat zu ihm und fragte: „Soll ich Sie jetzt zurück nach Aquas Calientes fahren?“
„Ja das wäre nett“, wendete Dylan sich ihm zu.
Sie stiegen vom Podium hinunter und gesellten sich zu Laura.
„Nachdem wir für die Anreise nicht viel Zeit gehabt hatten, wollen wir die Rückreise genießen und mit dem Zug durch das wunderschöne Urubambatal zurück nach Cusco fahren“, erklärte Laura Tomas.
„Da haben Sie die richtige Entscheidung getroffen“, freute er sich für die beiden. „Diese Zugfahrt ist wirklich beeindruckend“, lächelte er. Er streckte den rechten Arm in Richtung Ausgang aus und fragte: „Wollen wir los?“
Dylan und Laura nickten und folgten Tomas Andigo zum Ausgang.