Читать книгу Ich hab mit Ingwertee gegoogelt - Susanne M. Riedel - Страница 10
Bericht von der Baustelle
ОглавлениеAls ich in der 7. Klasse war, hieß mein Klassenlehrer Herr Schall. Neben Mathe und Physik unterrichtete er zuweilen auch Lebensweisheiten, außerdem sammelte er in einem kleinen Extraheft die schönsten Ausreden der Schüler fürs Zuspätkommen. Ich erinnere mich an Jens mit: »Ich bin mit der Kutsche gekommen, und unterwegs ist das Pferd gestorben.« Die habe ich später mal im Büro versucht, da haben mich alle nur komisch angeguckt.
Humor ist eine zarte Blume.
Ich erinnere mich auch, dass Herr Schall irgendwann mal erzählte: »Ich mache das mit dem Dreck immer so: Ich kehre alles unter den Schrank, und wenn der Schrank sich hebt, ziehe ich um.«
Hätte ich nur auf ihn gehört, denke ich derzeit immer wieder. Denn: Ich ziehe nicht um, ich renoviere.
Anders ausgedrückt: Seit rund zwei Wochen liegt unsere einstmals ganz nette Wohnung in Schutt und Asche, weil ich fand, »ein bisschen renovieren« wäre schön. Ich dachte anfangs einfach an etwas frische Farbe an den Wänden, zack, hellere Räume, ein wenig ausmisten vielleicht … Und dann brach die Baustelle herein.
Alles muss ja erst mal aus- und um- und aufgeräumt werden, wenn man Möbel abrücken will, und Papierstapel, die man zu sortieren beginnt, explodieren förmlich, statt kleiner zu werden, sobald man wagt, ihre über Jahre gewachsene Statik anzurühren. Und es hat sich so einiges angesammelt. Ich fand Gebrauchsanweisungen von Geräten, die wir schon seit Jahren nicht mehr haben. An manche kann ich mich gar nicht erinnern, um ehrlich zu sein. An einer war noch die Rechnung dran. In DM, das hat mir zu denken gegeben. Mein Lieblingsfundstück, ganz unten im Stapel, war das Protokoll eines Elternabends aus der 3. Klasse meines Sohnes. Und der hat dieses Jahr Abitur gemacht. Der Passus mit der Überschrift »Abstimmungsprotokoll Weihnachtsbasar: Waffelstand versus Fröbelsterne« nimmt darin eine ganze DIN-A4-Seite ein. Es gibt Dinge, die ich nicht vermisse.
Aufräumen ist nicht so meins. Und wenn ich doch mal anfange, dauert es auch immer recht lange, weil ich dazu neige, jede Notiz, jede Postkarte, jede Widmung im aussortierten Buch noch mal durchzulesen. Ich bin auch so jemand, die beim Abreißen der alten Tapete erst mal die Zeitungen liest, die darunter zum Vorschein kommen. Ich liebe das.
Renovieren dauert daher bei mir etwas länger …
Da ich mir dessen bewusst bin, habe ich auch das Angebot meines Nachbarn nicht ausgeschlagen, mir ein bisschen unter die Arme zu greifen. Goran wohnt noch nicht so lange im Haus und ist dankbar für ein bisschen Kontakt und Geplauder und die eine oder andere selbst gekochte Mahlzeit. Mein Mann ist wieder mal längere Zeit beruflich in der Weltgeschichte unterwegs und die Kids in der Schule oder beim Sport. Wohlan, dachte ich. »Wenn wir das zu zweit wuppen, können wir gleich noch die Lampen neu machen und die Türen lackieren«, sagte ich zu Goran, und Goran sagte im Brustton der Überzeugung das, was er immer sagt: »Kein Problem!«
Wenn man sonst im Alltag ständig umgeben ist von deutschen Bedenkenträgern, ist man sehr versucht, dieses »kein Problem« zu glauben und zu lieben. Und wenn in der Küche die Bank eh zum Streichen abgeschraubt werden muss, könnte doch bei der Gelegenheit auch der Fußboden … und so weiter. So nahmen die Dinge ihren Lauf.
Nun sitze ich hier auf dieser Baustelle, die mal meine Wohnung war. Der gesamte Hausrat ist in Kisten verpackt wie bei einem Umzug, nur mit dem Unterschied, dass ich keine neue Wohnung habe, in die ich die Dinge tragen kann. Alles ist klebrig, verhangen, verstaubt und bekleckert.
Ausnahmslos alles, zu dem Goran »kein Problem« sagte, hat sich als Problem entpuppt. Bosnische Flüche sind sozusagen die Schwester von »kein Problem«.
Ich habe auf die Weise nebenbei ein bisschen Bosnisch gelernt. Das Wort, das mir am meisten in Erinnerung bleiben wird, ist »zašto«.
»Zašto« heißt »warum«.
Immer wenn wir anfangen und so richtig was schaffen wollen, muss Goran noch mal kurz in den Baumarkt. Zu Globus. Weil er den gut kennt. Auch wenn die nächste Filiale 14 Kilometer entfernt ist. Zu Obi sind’s nur zwei Kilometer, aber Goran sagt, er kann kein Obi.
»Kein Problem«, sage ich also. Und beiße die Zähne zusammen, dass der Zementstaub nur so knirscht. Das ist der Haken an ehrenamtlichen Helfern: Du hast kein Recht zu meckern. Wenn er endlich wiederkommt, ist immer schon Abend, und wir schaffen nix mehr.
Seit ein paar Tagen hat Goran nun seinen Schwager zu Besuch und den auch gleich zum Helfen mitgebracht. Fand ich eine gute Idee.
Seitdem fahren sie immer zu zweit zu Globus und sind für Stunden verschwunden. Sein Schwager heißt auch Goran. Goran und Goran. Könnte ich Comics zeichnen, ich würde ständig malen: Lolek und Bolek war gestern, ich habe Goran und Goran.
Ihr Deutsch ist nicht so gut, heute Morgen sagte der eine mit großer Geste: »Arzt hat gesagt, ich habe Saumagen«, und ging erst mal wieder ins Bett. Gemeint war wohl Sodbrennen. Der andere Goran blieb. Der fing dann an, mit mir über Geld zu verhandeln, weil das in der abgerissenen Küche mit den Mahlzeiten ja nun doch nicht so regelmäßig sei wie gedacht und überhaupt: »Weißtu, brauch ich Geld«, sagte er treu. »Mach ich mir neues Schlafzimmer. Mit Springbockbett, weißtu …«
Wusstich nicht.
Nun sitze ich allein inmitten einer kleinen Ruine, die mal mein Heim gewesen ist. Wenn die Abdeckplane knistert, während das Licht der Abenddämmerung auf die nimmermüden Staubpartikel und die abgeschliffenen Türrahmen fällt, ist es fast ein bisschen romantisch. Ich denke dann, bei Unsere kleine Farm hat’s auch nicht viel anders ausgesehen, und alle waren glücklich, und am Abend spielte Charles Ingalls auf seiner Fidel … Vielleicht sind es aber auch nur die Dämpfe von den offenen Farbeimern, die überall rumstehen, die da irgendwas mit meinem Gehirn machen.
Gestern Abend war ich nach langer Zeit mal wieder unter Menschen, bei der Geburtstagsfeier eines Freundes. Ich verabschiedete mich gegen Mitternacht aus einem eigentlich sehr interessanten Gespräch und hörte mich den Satz sagen: »Ich muss jetzt echt nach Hause, die zweite Lackschicht beim Klavier auftragen.« Später dachte ich, der Mann, mit dem ich mich so nett unterhalten habe, muss das für eine der dämlichsten Ausreden ever gehalten haben. Herr Schall hätte sofort sein Heft gezückt. Christian, wenn du das hier liest: Ich hatte wirklich ein Klavier zu lackieren! Und habe in der Nacht gleich noch das Wohnzimmer fertig gestrichen. Im Schein der alten Glühlampen zog ich Bahn um Bahn in einem leuchtenden pastelligen Blaugrün und ging erschöpft, aber zufrieden schlafen.
Der Farbton heißt Sanfter Morgentau, ich hatte mich am Ende gegen Stilles Wasser und Dächer von Paris entschieden. Die Farben im Baumarkt reden ja inzwischen mit einem. Ich weiß nicht, ob das noch Produktgestalter oder schon Psychologen sind, die die Farbbeschreibungen kreieren. Ich warte ein bisschen darauf, dass sie vor den Regalen direkt einen Stuhlkreis aufbauen und regelmäßige Meetings abhalten: »Hallo, ich bin Susanne, und ich habe mein Schlafzimmer in Caramel gestrichen.« – »Hallo, Susanne.«
Vor mir in der Farbabteilung schob ein unmotivierter Mitarbeiter einem etwas verloren wirkenden, blassen Herren seine frisch angemischte Farbe über den Tresen: »So bitte, einmal Flammendes Herz.«
Der Kunde nahm seinen Eimer und schlurfte mit hängenden Schultern davon. Ich sah ihm lange nach und wünschte ihm von Herzen alles Gute.
Als ich jedenfalls bei Sonnenaufgang die Augen aufschlug und beim gespannten Blick ins frisch gestrichene Zimmer nebenan ein Farbenmeer von lichtdurchflutetem Morgentau erwartete, wurde mir schlagartig klar, dass man bei Glühlampenlicht nichts streichen sollte, was auch tagsüber da ist. Niemals.
Sanfter Morgentau sah nicht wirklich aus wie sanfter Morgentau. Es war mehr so eine Brise Nikotin mit einer verspielten Nuance von Aufwachraum. Eine Farbe, die eine klare Sprache spricht. Eine Farbe, die sagt:
»Könnte echt mal wieder gestrichen werden.«
Verzweifelt rief ich meine Freundin Ela an, um ihre Meinung einzuholen.
Als sie wenig später eintrat und begeistert ausrief: »Oh cool! Echtes Schleswig-Holsteiner Bahnhofsgrau!«, da wusste ich wieder, wozu man Freundinnen hat.
Allmählich legt sich der Staub. Tag für Tag wird es nun etwas gemütlicher auf meinem Bahnhof, ich habe im DB-Shop eine passende Uhr gekauft, dann kann man einfach sagen: »Das ist Stil, alles Absicht, original Schleswig-Holsteiner Bahnhofs-Chic.« Wenn ich das selbstbewusst genug vortrage, setze ich vielleicht einen neuen Trend.
Die Konten sind leer, aber bald ist die Renovierung geschafft.
Mit ein bisschen Glück sieht’s am Ende vielleicht fast so schön aus wie vorher.