Читать книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke - Страница 5
ОглавлениеSchon jetzt, im August, fielen die Blätter von den Bäumen wie tote Schmetterlinge. Valeria saß unter einer Steineiche und betrachtete den Streifen flirrender Luft über der Lichtung, als der Falke schrie: ein hohes, durchdringendes Zjuck-zjuck-zjuck.
Sie verharrte regungslos und horchte.
Aber da waren nur das Zirpen der Zikaden und das schläfrige Summen der Fliegen. Erneut ließ der Falke seinen Warnruf hören. Valeria stand auf und sah sich um. Waren Wildschweine in der Nähe – oder ein Wolf? Jetzt hörte sie ein fernes Brummen und gleich darauf bemerkte sie am Fuß des Berges den schwarzen Wagen, der sich die Serpentinen hochschraubte. Er fuhr schnell, sogar schneller als das Postauto und als gäbe es weder Schlaglöcher noch die Furchen, die die sintflutartigen Regenfälle des Frühjahrs hinterlassen hatten. Dabei zog er eine gewaltige Staubfahne hinter sich her und in den Kurven jaulte der Motor zornig auf.
Ein schnaubender schwarzer Stier, der etwas angreift.
Wer war das? Mr Wilson jedenfalls nicht, der Lehrer fuhr einen roten Fiat Punto, in dem er mehr dahinschlich, als dass er fuhr. Erst recht, wenn es länger nicht geregnet hatte. Denn dann, so pflegte der kleine Brite mit dem großen Schnäuzer zu klagen, staube die Schotterstraße terribly. Außerdem war Mr Wilson mit Mrs Wilson für zwei Wochen nach England gereist, deshalb hatte Valeria keinen Unterricht und konnte ungestört an ihrem Lieblingsplatz sitzen, auf halber Höhe des Monte Cucco. Von hier aus hatte man einen weiten Blick über die Ausläufer der umbrischen Apenninen und die sanft schwingende Landschaft der angrenzenden Marken. Mittelalterliche Dörfer thronten auf den Hügeln, die Felder bildeten einen Flickenteppich in Pastellfarben und an sehr klaren Tagen reichte die Sicht sogar bis zur Adria.
Außer dem Postboten und Mr Wilson benutzten nur wenige Menschen die kleine strada bianca, die zu ihrem Haus führte und dort auch endete. Hin und wieder quälte sich das Ape-Dreirad der verrückten Ersilia den Berg hinauf, um Valeria und ihrer Mutter geräucherte Forellen und selbst gemachte Seife zu bringen, und im Herbst, zur Jagdzeit, kamen gelegentlich Jäger vorbei. Aber die fuhren alle Geländewagen und keine schwarzen Limousinen.
Ein Tourist, der vom Weg abgekommen war? Jemand, der sich für Bilder interessierte? Als Valeria vorhin erklärt hatte, sie wolle Steinpilze suchen gehen, hatte ihre Mutter mit keinem Wort erwähnt, dass sie Besuch erwartete. Sie hatte nur verkündet, dass sie malen wolle, das Licht sei heute besonders weich, und etwas halbherzig hatte sie hinzugefügt, Valerias Vorhaben gefalle ihr gar nicht. Seit die Naturschützer im Nationalpark Monte Cucco Fotofallen aufgestellt und damit die Existenz etlicher Wölfe nachgewiesen hatten, war Rosa Tomaso nicht mehr gar so begeistert, wenn ihre Tochter allein in den Wäldern herumlief.
»Warum sollten Wölfe einen Menschen angreifen, wenn es doch genug Rehe gibt?«, hatte Valeria ihr entgegnet.
»Weil sie es können.«
Natürlich waren die Steinpilze nur eine Ausrede. Für Pilze war der Sommer viel zu heiß und trocken gewesen, das wusste auch ihre Mutter. Doch Valeria waren ihre Streifzüge durch die Natur zur Gewohnheit geworden und Gewohnheiten gab sie nur ungern auf. Schon gar nicht wegen ein paar Fotos und ängstlichem Dorfgeschwätz. Im Grunde, ahnte Valeria, war ihre Mutter manchmal auch ganz froh, wenn sie für einige Stunden allein sein konnte, um ungestört zu malen und heimlich zu rauchen. Und auch Valeria brauchte diese Zeit des Alleinseins, in der sie sich selbst Gesellschaft genug war.
Wer auch immer in dieser schwarzen Limousine saß, würde also gleich etwas zu hören bekommen. Denn wenn Rosa Tomaso eines nicht leiden konnte, dann war es, beim Malen gestört zu werden.
Ohne darüber nachzudenken, hatte Valeria sich an den Abstieg gemacht. Es war in erster Linie Neugierde, die sie antrieb, aber da war noch etwas anderes, eine leise Unruhe, die sie dazu veranlasste, schneller zu gehen als gewöhnlich.
Sie musste ein kleines Waldstück durchqueren, und als sie oberhalb der abgegrasten Schafweide wieder ins Sonnenlicht hinaustrat und Ausschau hielt, hatte sich die Staubwolke auf der kleinen strada bianca längst wieder gelegt. Der fremde Wagen stand auf der Höhe des alten Schafstalls, der nur noch eine Ruine mit durchhängendem Dach war. Valeria kniff die Augen zusammen. Der Fahrer war nicht zu sehen. Saß er hinter den getönten Seitenscheiben und wartete? Aber worauf? Oder war er ausgestiegen und bereits hinter den Lorbeerbüschen verschwunden, die das letzte Stück der Straße säumten? Von dem Gehöft, in dem Valeria und ihre Mutter Rosa lebten, war nur ein Teil des Dachs und der Hühnerstall zu erkennen, den Rest verdeckte die ausladende Krone des Maulbeerbaums.
Das nun fehlende Motorengeräusch hatte eine eigentümliche Stille hinterlassen und mitten hinein in dieses Vakuum fiel der Schuss. Schrotflinte, erkannte Valeria, ehe sie, so schnell sie konnte, über die stoppelige Schafweide rannte, begleitet vom Schatten des Falken.
Rosa saß in ihrem bekleckerten Malkittel auf den Stufen des Hauseingangs. Ein paar drahtige Locken hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst und neben ihr, am Treppengeländer, lehnte die Schrotflinte. Der Topf mit dem Rosmarin war heruntergestürzt, aber das schien sie nicht zu stören. Sie hielt eine Zigarette in ihrer rechten Hand, die ein wenig zitterte, und stieß eine Rauchwolke nach der anderen aus. Sie hatte auch allen Grund, nervös zu sein.
Mitten im Hof lag ein toter Mann. Dass er tot war, erkannte Valeria sofort, denn seine Augen blickten starr in den gleißenden Sommerhimmel, was ein lebendiger Mensch gar nicht ausgehalten hätte. Zudem hatte sich sein Hemd mit Blut vollgesogen. Blut rann auch von dem kraterartigen Loch in seiner Brust auf die hellen Steinplatten und drang in die Ritzen, aus denen Moos und winzige Blumen wuchsen.
Als Rosa Tomaso ihre Tochter bemerkte, drückte sie hastig die Zigarette aus und wedelte den Rauch beiseite. Dann umfasste sie den Lauf der Schrotflinte und zog sich mit beiden Händen daran hoch, als wäre die Flinte eine Krücke und sie selbst eine müde, alte Frau. In Wirklichkeit war sie zweiundvierzig, schlank und beweglich wie eine Stahlfeder und auch genauso zäh. Ihr hageres Gesicht hatte keine Falten, sah aber trotzdem nicht mehr jung aus. Nein, an Rosa Tomaso war nichts Weiches, aber auf ihre herbe Art war sie sehr schön. Aus der Tasche des Malkittels lugte der geriffelte Griff einer Waffe hervor. Die musste dem Toten gehört haben.
»Liebes, geh rauf in dein Zimmer und zieh dir was Altes an.«
Valeria hatte bis jetzt nur dagestanden, die Hände auf den Mund gepresst, so als hätte ihr jemand verboten zu schreien. Und tatsächlich hatte sie bis jetzt noch keinen einzigen Ton von sich gegeben. Es war das erste Mal, dass sie einen echten Toten sah, und sie wusste einfach nicht, wie sie reagieren sollte. Die klare, in ruhigem Tonfall vorgebrachte Anweisung ihrer Mutter wirkte jedoch einigermaßen beruhigend auf sie. Trotzdem schlug Valeria, als sie auf das Haus zuging, einen weiten Bogen um den Erschossenen, aus der irrationalen Furcht heraus, der Leichnam könnte sich vielleicht wie im Horrorfilm doch noch bewegen und nach ihren Fesseln greifen. Vor den Eingangsstufen bückte sie sich nach dem Rosmarin und stellte die Pflanze wieder zwischen die anderen Kräutertöpfe, die am Rand der Stufen Spalier standen. Der Topf hatte einen Sprung, hielt aber noch zusammen. Valeria fragte sich, ob sie je wieder in der Lage sein würde, auf den Stufen zu sitzen oder den Hof zu betreten, ohne dabei diesen Toten vor Augen zu haben.
Sie schaffte es die Treppe hinauf und bis in ihr Zimmer. Erst dort zog es ihr die Beine weg und sie ließ sich aufs Bett fallen. Ihr Atem ging stoßweise, ihr war übel und sie zitterte, als hätte man sie gerade aus eiskaltem Wasser gezogen. So lag sie einige Minuten im Dämmerlicht der geschlossenen Fensterläden. Jetzt nur nicht durchdrehen! Dies war die Gelegenheit, Rosa zu beweisen, dass sie kein Kind mehr war, sondern fast erwachsen. Siebzehn. In dem Alter riss man sich zusammen. Ihre Mutter hatte sicher keine andere Wahl gehabt, als den Mann zu erschießen. Bestimmt war er ein Einbrecher, ein Vergewaltiger, ein … nun, jedenfalls konnte er keine guten Absichten gehabt haben. Warum sonst hatte er den Wagen am alten Schafstall stehen lassen? Und dann diese Waffe, die aus Rosas Malkittel herausgeschaut hatte ... Obgleich Valeria und ihre Mutter in letzter Zeit nicht immer einer Meinung gewesen waren, so zweifelte Valeria dennoch nicht im Geringsten an Rosa als moralischer Instanz.
Ganz sicher hatte sie in Notwehr gehandelt. Ganz sicher gab es für all das eine Erklärung.
Langsam ließ das Zittern nach und auch die Übelkeit.
Etwas Altes anziehen. Sie griff nach einer Hose, die ihr zu klein geworden war, aber als sie den Reißverschluss mit Gewalt hochzog, wurde ihr erneut schlecht. Also schlüpfte sie wieder in ihre Jeans und tauschte lediglich das T-Shirt mit den olivgrünen Tarnflecken gegen ein pinkfarbenes, das sie noch nie gemocht hatte. Sie atmete noch ein paar Mal tief durch, dann ging sie die Treppen hinunter.
Ihre Mutter war im hinteren Zimmer, das große Fensterscheiben hatte und ihr als Maleratelier diente. Sie telefonierte. Valeria sah sie zwischen den Staffeleien hin und her gehen und mit der freien Hand gestikulieren. Sprach sie mit der Polizei? Eine Welle der Angst rollte auf Valeria zu. Was, wenn sie ihre Mutter holten und ins Gefängnis sperrten? Was würde dann aus ihr, Valeria, werden? Den nächsten Satz konnte sie hören, trotz der geschlossenen Tür, weil er ziemlich laut ausgesprochen wurde: »Du bringst das in Ordnung, und zwar sofort!«
Nein, so redete man nicht mit einem Polizisten, nicht einmal Rosa würde das wagen. Valeria hatte plötzlich das Gefühl, ihre Kehle würde brennen. Sie rannte in die Küche und trank Wasser aus dem Hahn.
Wenig später kam Rosa herein.
Valeria wischte sich das Wasser vom Mund. »Mama, was ist denn passiert, wieso hast du …« Sie brachte das Wort »erschossen« einfach nicht über die Lippen. Geradeso, als könnte man es noch ungeschehen machen, solange man es nicht aussprach.
Rosa ließ die halbe Frage ihrer Tochter im Raum stehen, wies mit einer Kopfbewegung nach draußen und meinte, er müsse schleunigst aus der Sonne.
Damit hatte sie recht. Fliegen umschwirrten den Leichnam, und als sie ihn bewegten, entwich dem Körper ein fauliger Gestank wie ein böser Geist. Vorn an seiner Hose war ein nasser Fleck. Erneut war Valeria kurz davor, sich zu übergeben. Dabei war sie im Grunde an den Anblick des Todes gewöhnt. Sie war dabei, wenn Rosa Hühner schlachtete, sie half beim Ausnehmen der Rehe und Wildschweine, die die Jäger vorbeibrachten, und im Wald fanden sich immer wieder tote Tiere in sämtlichen Stadien der Verwesung. Sie hatte sogar eine kleine Tierskelettsammlung in einer Kiste in ihrem Zimmer. Aber das hier war etwas ganz anderes. Ein toter Mensch, erschossen von ihrer Mutter. Vielleicht hatte Rosa recht, vielleicht half es, ihn erst einmal wegzubringen. Vielleicht konnte man dann besser darüber reden. Über das Warum.
»Wohin?«, presste sie hervor.
»In die Kammer. Nimm du die Beine«, sagte Rosa.
Durch den Stoff der Hose konnte Valeria sein Fleisch erspüren, die Beweglichkeit der Haut, die Festigkeit der Muskeln. Er war weder steif noch kalt. Er trug schwarze Lederschuhe mit dünnen, etwas abgewetzten Sohlen und über dem Rand der Socken kräuselten sich dunkle Haare auf heller Haut. Das Blut auf dem Hemd war bereits angetrocknet und es floss auch keines mehr aus dem Loch heraus, das die Schrotladung in seine Brust gerissen hatte. Sie wandte den Blick ab und schaute, ohne es zu wollen, in sein Gesicht. Ein Mann Mitte dreißig, dessen leblose Augen sie glasig anstierten. Der offen stehende Mund verlieh seiner Mimik einen grotesk-dümmlichen Ausdruck.
Das also war der Tod.
»Los, auf drei«, ächzte Rosa.
Er war nicht sehr groß, aber kräftig gebaut. Und unglaublich schwer. Es war nicht einfach, ihn ums Haus herumzuschleifen, aber irgendwie schafften sie es. Man könne alles schaffen, wenn man nur wolle, pflegte Mrs Wilson zu sagen, die Lehrersgattin, die mit allen Wassern der Küchenpsychologie gewaschen war.
Die Kammer war ein fensterloser Anbau auf der Nordseite und bestand, wie das ganze Gehöft, aus festem, grobem Mauerwerk. Sogar im Hochsommer war es darin einigermaßen kühl. Sie legten ihn auf den Boden. Rosa zerrte die Regenschutzplane vom Brennholz, das an der Außenwand gestapelt war, und breitete sie über den Leichnam.
Dass das die Insekten wirklich abhalten würde, bezweifelte Valeria und der Gedanke, dass zwischen ihren Essensvorräten ein Leichnam verrottete, ließ sie vor Ekel schaudern.
»Wenigstens ist er nun aus der Sonne«, stellte Rosa
fest.
»Muss er nicht auch unter die Erde?«
»Ist nicht nötig.«
Valeria fragte sich, was Rosa mit dem Toten vorhatte. Ihn bei Dunkelheit wegbringen? Wohin? In den Fluss werfen, der kaum noch Wasser führte? Was immer es war – sie hoffte, dass sie nicht dabei sein musste.
»Jetzt warte doch mal!« Valeria war auf dem Weg zurück ins Haus stehen geblieben und konnte nur um ein Haar der Versuchung widerstehen, wie ein trotziges Kind mit dem Fuß aufzustampfen. »Was ist passiert, warum hast du den Mann erschossen?«
»Weil es notwendig war«, sagte Rosa, ohne zu zögern. »Er hatte eine Pistole dabei.«
»Was wollte er denn bei uns?«
»Nichts Gutes, mein Liebes, glaub mir«, sagte ihre Mutter, ehe sie die Lippen zusammenpresste, sodass ihr Mund mit den kleinen Fältchen aussah wie ein Reißverschluss.
»Und wen hast du vorhin angerufen?«
Aber Rosa ging einfach weiter und rief: »Kind, bitte! Löchere mich jetzt nicht mit Fragen, ich muss nachdenken. Wo hast du eigentlich den Pilzkorb gelassen? Egal, es ist sowieso viel zu trocken für Pilze. Nur gut, dass du vorhin nicht da warst. Ja, wirklich, ein Glück. Jetzt geh am besten in dein Zimmer. Ich meine, Mr Wilson hätte dir eine Hausarbeit in Englisch aufgegeben, isn’t it?«
Der muntere, geschwätzige Tonfall, völlig untypisch für Rosa, jagte Valeria eine Heidenangst ein. »Französisch«, sagte sie automatisch, während sie ihrer Mutter hinterherstolperte. »Einen Aufsatz über Rousseau.«
»Na, dann los.«
Als ob sie jetzt auch nur ansatzweise in der Lage wäre, einen vernünftigen Gedanken zu Papier zu bringen! Valeria blieb dennoch den ganzen Nachmittag in ihrem Zimmer. Sie musste das Licht einschalten, denn die Fensterläden zu öffnen, hätte bedeutet, die Hitze hereinzulassen. Sie las in einem englischsprachigen Roman, den ihr Mrs Wilson geliehen hatte. Valeria las gern Geschichten von jungen Frauen, die in herrschaftlichen Häusern lebten. Aber heute drang nicht ein Wort der Schmonzette zu ihr durch. Stattdessen füllten sich ihre Augen immer wieder mit dem Bild des Toten, sogar dann, wenn sie sie zumachte. Dann erst recht.
So vergingen etliche Stunden. Draußen begann es zu dämmern. Plötzlich näherte sich ein Motorengeräusch. Ein eisiger Schrecken packte Valeria. Die Polizei! Gleich würden sie Rosa mitnehmen. Sie sprang auf, hastete ans Fenster und spähte durch die Ritzen in den Läden. Es war noch schlimmer: Es war der schwarze Wagen des Toten. Er fuhr langsam auf den Hof und hielt an der Stelle, an der noch vor Stunden die Leiche seines Fahrers gelegen hatte. Der Motor wurde gedrosselt, die Tür ging auf, Rosa stieg aus. Erst da ließ Valerias Herzrasen wieder nach.
Zur üblichen Zeit rief Rosa sie zum Abendessen in die Küche. Es gab geräucherte Forelle mit Kartoffeln und Tomaten aus dem Garten. Wenigstens fragte ihre Mutter nicht, wie Valeria mit dem Aufsatz vorangekommen sei. Sie hatte in der Zwischenzeit die Läden und die Fenster geöffnet, damit die Abendluft hereinströmen konnte.
»Ein Glück, dass wenigstens die Nächte langsam wieder ein bisschen kühler werden«, meinte Rosa.
Valeria vermied es, aus dem Fenster zu sehen, wo der fremde Wagen auf dem Hof stand wie ein lauerndes Tier. Ihre Mutter hingegen schaute auffallend oft hinaus und ebenso häufig auf die Wanduhr über dem Kühlschrank. Es sei nun leider geschehen, was sie immer schon befürchtet habe, sagte sie unvermittelt, aber Valeria müsse sich nicht sorgen, sie, Rosa, habe die Situation im Griff.
Valeria nickte nur, obwohl sie die Bedeutung dieser Worte nicht einmal ansatzweise verstanden hatte. Aber aus irgendeinem Grund war sie nicht in der Lage, auch nur einen Ton zu sagen. Es war ein bisschen wie in diesen Träumen, in denen sie weglaufen wollte und ihre Beine nicht bewegen konnte. Stattdessen machte sich wieder dieses diffuse Angstgefühl in ihr breit. Trotzdem – was war sie nur für ein Monster? – verspürte Valeria auf einmal großen Hunger und wider Erwarten aß sie ihre Portion restlos auf.
Auch Rosa hatte es den Appetit nicht verschlagen. »Die gute Ersilia mag ein bisschen seltsam sein, aber ihre Fische sind eine Wucht«, bemerkte sie, während sie die Forelle aufklappte und mit chirurgischer Präzision das Rückgrat mitsamt den Gräten vom Fleisch trennte. Ersilia, der ein Fischteich hinter dem Dorf gehörte, besaß einen winzigen Hund mit herausquellenden Froschaugen, dem sie Kleider anzog. Einmal hatte sie Rosa gebeten, den Hund zu malen, und Rosa war der Bitte widerstrebend nachgekommen. Als Valeria das fertige Werk gesehen hatte – ein wirres Geschlinge in Rot- und Grüntönen mit gelben Einsprengseln –, hatte sie im Geist Ersilias Forellen und Rosas Lieblingsseife für alle Zeiten abgeschrieben. Doch Ersilia war in Begeisterung ausgebrochen. Rosa, so ihre Worte, habe das Wesen und die Seele ihres Hundes erkannt und eingefangen.
Dies hatte Valeria in ihrem Verdacht bestärkt, dass Ersilia einen an der Waffel hatte. Rosa hingegen meinte dazu, Ersilia habe genau verstanden, was abstrakte Malerei bedeute. »Denn die Welt ist nicht so, wie wir sie sehen.«
Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Lampe über der Haustür brannte, eine trübe Funzel, deren Schein nach wenigen Metern von der Nacht verschluckt wurde. Sie waren beim Abwasch.
»Mama, was passiert denn jetzt mit dem Mann?«, wagte Valeria einen neuen Vorstoß, doch da wurde die Küche plötzlich in ein grelles Licht getaucht. Ihre eigenen Schatten huschten über die Wände, Valeria schrie auf.
»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Rosa. »Geh in dein Zimmer und rühr dich nicht.«
Es hatte freundlich und bestimmt geklungen, ohne die geringste Spur von Besorgnis.
Valeria gehorchte, eilte nach oben und stellte sich im Dunkeln ans Fenster. Neben dem schwarzen Wagen hatte ein weiterer, ähnlicher, angehalten. Zwei Männer in Sweatshirts und Sneakers stiegen aus. Der eine schien etwas jünger zu sein, er trug eine Baseballkappe, der andere war klein und dick. Kaum ausgestiegen, zündete er sich eine Zigarette an. Im Schein des aufflammenden Feuerzeugs sah Valeria ganz kurz sein Gesicht. Ein Mann in den Vierzigern, feist, klein und rundlich. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen.
Rosa trat auf den Hof und sprach mit den beiden, aber sie redeten leise, Valeria konnte nur undeutliche Brocken verstehen. Dann verschwanden alle drei aus ihrem Blickfeld.
Minuten verstrichen, Valeria starrte wie hypnotisiert nach draußen. Im Lack der zwei Wagen spiegelte sich das Mondlicht.
Schatten näherten sich. Ihre Mutter und hinter ihr die Männer, die den Toten trugen, scheinbar mühelos, als wäre er ein Leichtgewicht. Rosa stand jetzt im Lichtkreis der Hoflampe. Was hatte sie da für ein Bündel auf dem Arm? Ah, die Plane, mit der die Leiche zugedeckt gewesen war. Eine Heckklappe wurde geöffnet, Rosa legte die Plane auf den Boden des Kofferraums und die zwei Besucher beförderten den Toten mit Schwung hinein, so achtlos, als wäre er ein Stück Wild. Oder Abfall. Mit einem dumpfen Laut wurde die Klappe geschlossen. Es folgte ein kurzer Wortwechsel und am Ende reichte der Dickere Rosa etwas Kleines, Weißes. Ein Päckchen, einen Brief? Türen schlugen zu, Motoren wurden angelassen, kaltweiße Lichtstrahlen irrlichterten über Mauern und Sträucher, als die zwei Wagen nacheinander wendeten und davonfuhren. Schließlich glommen nur noch die Rücklichter durch die Nacht wie gefährliche rote Raubtieraugen. Doch auch sie verschwanden.
Valeria beugte sich nach vorn und sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen. Ihr war, als hätte sie seit Stunden die Luft angehalten. Der Knoten, der den ganzen Nachmittag um ihren Magen geschlungen gewesen war, löste sich langsam auf. Zurück blieb nur ein vages, ungutes Gefühl, das zu ergründen Valeria sich sträubte.
Es war ein schöner Sommerabend. Der Mond kletterte über die Wipfel der Zypressen und die Silhouette der Bergkette zeichnete sich wie ein Scherenschnitt gegen den indigoblauen Himmel ab. Eine Nachtigall sang, der Igel raschelte im Gebüsch hinter dem Hühnerstall, Grillen zirpten und ein Waldkauz schrie. Alles war wie immer.
Valeria hörte ihre Mutter nach ihr rufen und ging zu ihr hinunter. Eine Minute später brach ihre Welt in Stücke.