Читать книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke - Страница 9

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5.

Sonnenstrahlen drangen durch die Lamellen der Fensterläden und tauchten den Raum in ein Streifenmuster. Valeria schaute sich um. Wo war sie? Jedenfalls nicht in Alessandros Gästezimmer, denn dort waren die Kissen definitiv weicher. Jetzt dagegen lag ihr Kopf auf einem Sandsack, dessen Leinenbezug nach Mottenkugeln muffelte, genau wie das Laken, mit dem sie zugedeckt war.

Steif und schlaftrunken richtete Valeria sich auf. Oh Gott, und was war das nur in ihrem Kopf? Bei jeder Bewegung kullerte eine Eisenkugel in ihrem Schädel herum.

Allmählich sickerten die Erinnerungen in ihr Gedächtnis. Der Park. Lucia. Die Autofahrt, die Villa, der Abend im Salon, die Gespräche, der Wein ... Ja, davon dürfte sie ein bisschen zu viel erwischt haben. Zwar erlaubte ihr Rosa neuerdings ein Schlückchen Wein zum Essen, aber mehr war Valeria nicht gewohnt. Prüfend schaute sie an sich hinunter. Sie trug die Jeans und das T-Shirt von gestern, ihre Strickjacke hing über der Bettlade und ihre Schuhe standen artig nebeneinander auf dem Bettvorleger. Unmöglich, dass sie selbst sie so ordentlich hingestellt hatte, das tat sie nie. Brach bei ihr etwa ein verborgener Ordnungsfimmel durch, sobald sie betrunken war? Und wie war sie überhaupt hierhergekommen, in dieses Zimmer mit den schmucklosen eierschalenfarbenen Wänden und der Dachgaube? Ein schlichtes Bett, ein Nachtschränkchen und ein Schrank waren die ganze Ausstattung. Fehlt nur noch ein Kreuz an der Wand und die Mönchszelle ist perfekt, stellte Valeria fest. Auf dem Nachtschränkchen entdeckte sie ihre Tasche und ihre Uhr, die fünf vor elf anzeigte. Daneben hatte jemand eine noch verpackte Zahnbürste gelegt. Aber noch seltsamer war ein frischer Strauß aus Kornblumen, kleinen Rosen und Anemonen. Standen hier in allen Zimmern Blumensträuße herum? Fast kam es ihr so vor, als hätte man ihren Besuch erwartet. Wie war das möglich? Dennoch war sie dankbar, vor allen Dingen für die Zahnbürste.

Langsam, wegen der Eisenkugel in ihrem Kopf, stand sie auf und zog ihre Schuhe an. Wieso gab es hier keinen Spiegel? Na, war vielleicht besser so. Hoffentlich würde sie ein Badezimmer finden, und zwar bevor sie einer menschlichen Seele begegnete.

Sie schlüpfte aus dem Zimmer auf den Flur. Zwölf identische, schmale Türen gingen davon ab, sechs auf jeder Seite. Der kahle Flur und die geschlossenen Türen hatten etwas Klösterliches und zugleich Abweisendes. Valeria fröstelte. Bestimmt hatten hier im Dachgeschoss früher die Dienstboten gewohnt. Eine steile hölzerne Treppe führte nach unten, und als Valeria hinabstieg, knarrten und ächzten die Stufen, als wäre ihre Benutzung eine außerplanmäßige Zumutung.

Im ersten Stock sah es schon wesentlich freundlicher aus. Es gab nur halb so viele Türen, allesamt breit und mit Schnitzereien verziert, eine davon stand offen und … Halleluja, ein Badezimmer! Erleichtert huschte Valeria dorthinein und sperrte hinter sich ab. Der Spiegel über dem Waschbecken bestätigte ihre Befürchtung, genauso auszusehen, wie sie sich fühlte: ziemlich derangiert.

Kurz darauf musste Valeria erkennen, dass das Leben in einem alten Palazzo auch seine Tücken hatte. Sie lieferte sich einen erbitterten Kampf mit der Dusche, deren Wassertemperatur permanent wechselte, und zwar von kochend heiß bis bitterkalt. Als Arena diente eine Badewanne, die so groß war wie ein Kahn und auf goldenen Löwentatzen stand. Wenigstens ließen nach dem letzten kalten Guss die Kopfschmerzen nach und das Abtrocknen mit einem kratzigen Handtuch brachte ihren Kreislauf vollends in Schwung. In einer Schale neben dem Waschbecken lag ein ganzer Haufen Schminksachen. Valeria konnte nicht widerstehen und versuchte, ihre Augen mit schwarzem Kajalstift und einem bräunlichen Lidschatten so zu betonen, wie sie es gestern Abend an Lucia bewundert hatte. Ganz so perfekt bekam sie es zwar nicht hin, denn es fehlte ihr an Übung, aber es war erstaunlich, wie das bisschen Farbe ihr Gesicht veränderte. Sie schlang das feuchte Haar zu einem Knoten. Hätte sie jetzt noch frische Klamotten gehabt, wäre sie einigermaßen zufrieden mit sich gewesen.

Sie öffnete das Fenster, damit die Dampfwolken abziehen konnten, lehnte sich hinaus und betrachtete den Garten der Villa Aurelia oder vielmehr: den Park. Ein Netz aus weiß gekiesten Wegen spannte sich zwischen Bäumen, Bänken und Statuen über die Rasenflächen, die wiederum unterbrochen wurden von Beeten, Buschgruppen und Hecken. Ein Teich schillerte grünlich zwischen Schilf und Farnen, überschattet von einer Trauerweide. Weiter hinten blinkten die Scheiben eines Gewächshauses in der Sonne, den Gemüsegarten bewachte eine Vogelscheuche mit einem schwarzen Flattergewand. Pinien, Zypressen, Zedern und ein Kastanienbaum überragten die Mauer, an der sich Efeu emporrankte. In der Nähe des Tors, durch das sie gestern Abend gefahren waren, bemerkte Valeria ein kleines, von Kletterpflanzen überwuchertes Haus. Jenseits der Mauer verlief die Straße und dahinter erstreckten sich andere Gärten mit ähnlichen Villen, deren Dächer durch die Bäume schimmerten.

Diese vier Freunde – oder deren Eltern – mussten ganz schön reich sein, um hier wohnen zu können. Valeria wurde schlagartig klar, dass sie in eine fremde Welt eingedrungen war, in der sie nichts verloren hatte. Das Gefühl war nicht neu, denn so ähnlich hatte sie sich auch gefühlt, als Alessandro sie in sein Zuhause gebracht hatte. Nein, sie gehörte weder hierher noch zu Alessandro. Aber auch nicht mehr in das Haus ihrer Mutter. Nicht, nachdem die sie fortgeschickt hatte.

Sie war heimatlos, sie gehörte nirgendwohin. Ihr Leben war ein weißes Blatt Papier. Vogelfrei, dachte Valeria. Ihr machte es nur Angst.

Ein scharrendes Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit. Zwischen den Orangenbäumen fegte ein Mann heruntergefallene Blätter zusammen. Er trug eine Schirmmütze, daher konnte Valeria sein Gesicht nicht erkennen. War das Matteo? Beim Gedanken an ihn musste Valeria plötzlich lächeln, ohne genau zu wissen, warum. Der Mann lehnte nun den Laubrechen gegen einen Baum und schaufelte mit den Armen die Blätter in einen Korb. Als er damit fertig war, nahm er seine Kappe ab. Nein, das war nicht Matteo. Der Gärtner? Jetzt wischte er sich mit dem Unterarm über die Stirn, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Er hatte Valeria entdeckt.

Sekundenlang starrten sie einander an, bis Valeria vom Fenster zurückwich. Böse Augen, durchfuhr es sie. Aber bei nüchterner Betrachtung musste sie sich eingestehen, dass die Entfernung viel zu groß gewesen war, um den Ausdruck seiner Augen zuverlässig deuten zu können. Trotzdem hatte sein Gesicht etwas Finsteres an sich gehabt. Sie schloss das Fenster und verließ das Bad.

Im Flur blieb sie stehen und horchte. Nichts regte sich. Auch dieses Stockwerk schien wie ausgestorben zu sein. Sie schlich die breite Treppe hinab, vorbei am römischen Hochadel in Öl. Warum sie sich auf Zehenspitzen bewegte, als wäre sie eine Einbrecherin oder Spionin, war ihr selbst nicht klar. Sie war schließlich hier zu Gast. Lucia hatte sie ausdrücklich eingeladen, die Nacht über hierzubleiben, und auch die anderen hatten nichts dagegen gehabt. Da waren nur dieses Gefühl, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte, und dazu die vage Vorstellung von irgendetwas Ungewöhnlichem, vielleicht sogar Unheimlichem, das hier vorging.

Die Treppe endete in der großen Eingangshalle, von der in zwei Richtungen Flure abzweigten. Nach rechts ging es zur Küche. Valeria folgte diesem Flur in der Hoffnung auf ein Frühstück. Kurz vor ihrem Ziel blieb sie abrupt stehen. Gedämpfte Stimmen drangen durch die geschlossene Tür.

»Es ist so typisch!« Fabiana, aufgebracht.

»… eine andere Lösung geben.« Matteo.

Wasserrauschen, das Fabianas Stimme übertönte.

»Und wie hätte ich das, bitte schön, anstellen sollen? Verdammt, sie hat uns ausgetrickst. Und wenn der Alte das erfährt, dann Gute Nacht!« Claudio, unverkennbar.

Jetzt wieder Fabiana: »Ich finde, wir sollten …« Der Rest des Satzes ging im Schlürfen des Espressokochers unter. Es folgten ein, zwei Minuten, in denen nur Stimmengewirr und einzelne Wortfetzen – »vergiftet« – »spinnst doch!« – »bescheuerte Idee« – an Valerias Ohr drangen, welches inzwischen an der Küchentür klebte. Jetzt hörte sie Matteo rufen: »Und wie sollen wir ihr das beibringen?«

Danach redete Fabiana, aber zu leise, und auch von Claudios Antwort drang nur ein undeutliches Murmeln durch das massive Holz.

Offenbar war Lucia nicht dabei, denn einer Auseinandersetzung schweigend zuzuhören, war bestimmt nicht ihre Art. Es klang vielmehr so, als wären die anderen ziemlich sauer auf sie. Hatte es etwas mit ihr, Valeria, zu tun? Fanden sie es nicht gut, dass Lucia sie eingeladen hatte? Aber gestern Abend waren sie doch alle nett zu ihr gewesen. Besonders Matteo. Und wer, bitte schön, hatte hier wen vergiftet?

»Aber vorher räumst du die Schweinerei hier weg!« Fabianas nörgelnde Stimme, direkt neben Valerias Ohr. Hastig wich sie zurück und eilte so schnell und so leise wie möglich zurück in die Halle. Das war ja gerade noch mal gut gegangen. Sie überlegte, was sie machen sollte.

Lucia suchen! Vielleicht schlief sie ja noch? Valeria ging hinauf in den ersten Stock und klopfte an alle Türen, aber niemand antwortete. An eine war La Gioconda – auch die Mona Lisa genannt – in Postkartengröße geklebt. Valeria riskierte es und öffnete die Tür einen Spalt. Blassblaue Wände; ein Himmelbett mit gedrechselten Säulen und hellen transparenten Vorhängen dominierte den Raum, der einen Erker zur Gartenseite hin besaß. Dort stand ein zierlicher Sekretär. In der Mitte der hohen Decke prangte ein rautenförmiges Ornament aus Stuck, darunter hing ein Kronleuchter. Kaum hatte Valeria die Tür geöffnet, stieg ihr der Duft nach Orangen und Bergamotte in die Nase. Es war Lucias weißes Kleid, das diesen Duft verströmte. Es hing außen am Kleiderschrank auf einem Bügel. Von Lucia selbst war nichts zu sehen. Valeria machte die Tür leise wieder zu und ging nach unten. Blieb noch der Garten.

Sie gelangte nach draußen, ohne einem der anderen Bewohner zu begegnen, und folgte neugierig den verschlungenen Wegen. Von Nahem betrachtet bemerkte man auch hier im Garten leichte Spuren der Verwahrlosung. Der Gärtner oder wer immer der Typ auch war, den sie vorhin gesehen hatte, schien mit der Pflege des Anwesens leicht überfordert zu sein. Aber gerade weil nicht alles perfekt war, fand Valeria den Garten wunderbar.

Der Teich roch ein wenig faulig, doch als sie sich über die Wasserfläche beugte, sah sie Goldfische darin schwimmen. Unter der Trauerweide stand eine mit Moos bewachsene Bank … was für ein herrliches, verträumtes Plätzchen! Im Weitergehen begegneten ihr Nymphen, Faune und Engel aus Stein, aber auch Ungeheuer mit Fratzen und Klauen. Sie pflückte eine Aprikose vom Baum, und während sie sie im Gehen aß, wäre sie beinahe auf eine tote Taube getreten. Sie war schneeweiß und lag mit ausgebreiteten Flügeln und aufgerissenem Brustkorb mitten auf dem Weg. Valeria, als Landkind an derlei Anblicke gewöhnt, setzte ihren Erkundungsgang jedoch gelassen fort. Dabei musste sie an ihre Sammlung von Tierskeletten denken, die sie zurückgelassen hatte. Bestimmt würde Rosa sie irgendwann wegwerfen, sie hatte sich nie für die makabre Sammlung ihrer Tochter begeistern können.

Als Nächstes entdeckte Valeria fünf schiefe, von Unkraut überwucherte Grabplatten, deren verwitterte Inschriften sich leider nicht entziffern ließen. Waren das die Pestgräber? Ein verwunschener Garten, dachte Valeria verzückt. Tatsächlich fühlte es sich an, als wäre an diesem Ort die Zeit stehen geblieben, und auch Valeria vergaß, warum sie hier war und dass sie doch eigentlich schon längst wieder bei Alessandro und Adriana sein müsste. Eingehüllt von Blütendüften, Zikadengezirp und Vogelgezwitscher ließ sie sich treiben. Ein grüner Rachen gähnte sie an, der sich zu einem Labyrinth aus Eibenhecken verengte. Vergnügt folgte sie den Kurven und Windungen im festen Glauben, der Irrgarten wäre bestimmt viel zu klein, um sich darin zu verlaufen. Sie vernahm ein Geräusch, so vertraut, dass sie ihm zuerst gar keine Beachtung schenkte. Erst als das laute Zjuck-zjuck-zjuck ein zweites Mal ertönte, hob sie den Kopf. Die grünen Wände umrahmten ein Stück Himmel, das gerade von einem Wanderfalken durchkreuzt wurde.

Jetzt hatte Valeria es eilig, das Labyrinth zu verlassen, aber so einfach, wie sie sich das gedacht hatte, war das gar nicht. Die Kreuzungen und Biegungen sahen sich zum Verwechseln ähnlich und immer wieder fand sie sich an einem kleinen Brunnen mit einem steinernen Engel wieder. Das Plätschern des dünnen Wasserstrahls klang wie ein Kichern, und als Valeria zum dritten Mal dort vorbeikam, hätte sie schwören können, dass die Putte sie zwischen ihren fetten Pausbacken hervor boshaft angrinste.

Keine Panik, schalte lieber dein Hirn ein!

Sie achtete auf den Stand der Sonne, um festzustellen, in welche Richtung sie sich bewegte, dann markierte sie jede der Abzweigungen, die sie nahm, mit herabgefallenen Pinienzapfen. Nachdem sie mehrere Varianten durchprobiert hatte, fand sie schließlich den Ausgang.

Der Falke hatte sich inzwischen im Geäst einer Zeder niedergelassen und blickte mit schräg geneigtem Kopf zu ihr herab. Als Valeria ihn ansah, hob er die Flügel und fächelte sich Luft ins Gefieder, was aussah, als würde er sie grüßen. Valeria winkte ihm zu und rief übermütig: »Na, du Schlawiner, hast du die weiße Taube auf dem Gewissen?«

»Mit wem redest du da?«

Valeria wirbelte herum und erschrak beinahe zu Tode. Da stand leibhaftig die Vogelscheuche aus dem Gemüsebeet. Sie war klein und zierlich, fast wie ein Kind. Ihr Gesicht, beschattet von einem schwarzen Kopftuch, wurde von strengen, tief eingegrabenen Furchen durchzogen, dunkle Augen brannten tief in den Höhlen.

Jetzt kam sie auf Valeria zu. Eine dürre, blau geäderte Hand schnellte unter den Rüschen ihres Ärmels hervor. Valeria wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Hat er dich hergeholt?« Die Stimme der Alten knarrte wie trockenes Holz.

Valeria brachte vor Schreck keinen Ton heraus.

»Du musst dich in Acht nehmen! Ich an deiner Stelle würde lieber verschwinden.«

Valerias Kehle war noch immer wie zugeschnürt. Halb fasziniert, halb erschrocken starrte sie die Erscheinung an. Wovon redete sie da? Wovor genau sollte sie sich in Acht nehmen? Konnte es sein, dass die Alte sie mit Lucia verwechselte? Valeria wollte den Irrtum gerade richtigstellen, da hörte sie einen Ruf durch den Garten schallen. »Hey, hallo, wo steckst du?«

Matteo. Schon tauchte seine Gestalt hinter einem Feigenbaum auf und Valeria winkte ihm zu wie eine Schiffbrüchige. »Hier. Ich bin hier!«, rief sie und registrierte mit Schrecken, dass sie so heiser klang wie eine Krähe im Nebel. Als sie sich wieder nach der alten Frau umdrehte, ging diese bereits mit wehenden Gewändern und den raschen Trippelschritten einer Maus auf das kleine Torhaus zu, das sich im Schatten der Mauer ins Grün duckte.

Matteo war näher gekommen und wünschte ihr einen Guten Tag.

»Ciao«, sagte Valeria, deren Erleichterung nun der Verlegenheit wich. Hatte er sie in das Zimmer unterm Dach gebracht, womöglich zusammen mit Claudio? War sie noch imstande gewesen zu gehen oder hatten sie sie die Stufen hinaufschleifen müssen wie einen Sack Kartoffeln? Eine schier unerträgliche Vorstellung!

»Wo ist Lucia?«, fragte Valeria. Sie verspürte das dringende Bedürfnis, sie zu sehen. Lucia, davon war Valeria überzeugt, würde alles ins Lot bringen, sie würde all ihre Bedenken und ihre Scham mit einer ironischen Bemerkung und einem Lachen wegwischen.

Matteo legte seine Hand auf ihre Schulter. »Komm mit«, sagte er. »Wir müssen mit dir reden.«

Sie saßen am Küchentisch. Matteo, Claudio und Fabiana, die in einem schlichten Sommerkleid deutlich harmloser aussah als gestern Abend. Valeria hatte ihnen gegenüber Platz genommen und allein dadurch fühlte sie sich unwohl. Drei gegen eine. Die Angeklagte vor ihren Richtern. Fabiana hatte ihr auf ihren Wunsch hin eine Tasse Milchkaffee zubereitet. In der Mitte des Tisches stand ein Teller mit diversen Gebäckstücken.

»Wo ist Lucia denn nun?«, fragte Valeria erneut.

»Dazu kommen wir gleich«, antwortete Fabiana.

»Könntest du dir vorstellen, eine Weile lang hier zu wohnen?«, fragte Claudio mit einschmeichelndem Tonfall.

Valeria sah ihn an, dann schüttelte sie langsam den Kopf. So verlockend der Gedanke auch war, woher sollte sie das Geld dafür nehmen?

»Du müsstest nichts bezahlen«, fügte Claudio hinzu, geradeso, als stünden ihre Gedanken auf ihrer Stirn geschrieben. »Auch nicht fürs Essen. Für gar nichts.«

Valeria musste an eine von Mrs Wilsons Lebensweisheiten denken, wonach nichts im Leben umsonst sei.

»Du würdest uns damit einen Gefallen tun«, sagte Fabiana mit einem gezwungenen Lächeln.

»Wieso?«, fragte Valeria verwirrt.

Claudio holte tief Atem und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Er war unrasiert und wirkte ebenfalls ein wenig verkatert. Kein Wunder, der hatte gestern ja ordentlich gebechert, fiel Valeria ein. Aber er sah immer noch sehr gut aus, das musste sie zugeben.

»Es ist so: Die Villa gehört Lucias Vater. Sandro Bertone.« Er machte eine kurze Pause, als wollte er den Worten Zeit geben, ihre Wirkung zu entfalten wie einem Teebeutel. Aber Valeria reagierte nicht, also fuhr Claudio fort: »Er lässt uns hier wohnen, damit Lucia nicht allein ist. Lucia sollte eigentlich demnächst mit ihrem Studium beginnen, aber sie ist …«

»Sagen wir es doch, wie es ist«, unterbrach ihn Fabiana. »Meine Cousine ist ein verwöhntes Gör mit einem reichen Vater, die alle naselang einen anderen Furz im Hirn hat.«

»Äh, ja. Das kommt ungefähr hin«, meinte Claudio. »Wie gesagt, sie sollte hier in der Villa Aurelia wohnen, solange sie in Rom studiert, aber aus irgendeinem Grund, den sie uns leider nicht mitgeteilt hat, ist sie heute Morgen verschwunden.«

»Wie verschwunden?« Valeria spürte, wie sich eine Leere in ihrem Inneren ausbreitete. »Ist ihr was passiert?«

»Nein, nein, nein«, beruhigte sie Matteo. »Ihr ist bestimmt nichts passiert.«

»Sie hat Gepäck mitgenommen«, erklärte Fabiana. »Weiß der Teufel, wo sie sich herumtreibt, vermutlich steckt ein Kerl dahinter. Es ist nicht das erste Mal, dass sie so was macht. Deshalb sollte ich als ihre Cousine ein Auge auf sie haben. Aber ich bin schließlich nicht ihr Kindermädchen, und wenn Lucia sich was in den Kopf gesetzt hat, dann hält nichts und niemand sie davon ab.« Fabiana seufzte und legte ihre Stirn in Kummerfalten.

»Sie muss uns gestern was in den Wein getan haben, damit wir möglichst lange pennen und sie in Ruhe abreisen konnte«, sagte Claudio.

Valeria mochte kaum glauben, was sie da hörte. Allerdings würde das so manches erklären.

»Wir dürfen es ihr nicht übel nehmen«, sagte Matteo. »Sie ist eben manchmal ein wenig …«

»… exzentrisch«, beendete Claudio den Satz. »Ich wette, in ein paar Wochen kommt sie zurück und tut, als ob nichts gewesen wäre. Du musst dir keine Sorgen um sie machen.« Der Satz war an Valeria gerichtet, die ihn mit großen Augen anstarrte. »Wir haben jetzt nur ein Problem: Wenn ihr Vater merkt, dass Lucia gar nicht mehr hier wohnt, dann fliegen wir sofort hier raus. Und das wollen wir natürlich nicht. Es lebt sich nämlich recht angenehm hier, nicht wahr?« Er warf einen Blick in die Runde. Die anderen beiden nickten. »Oder gefällt es dir etwa nicht, Valeria?«

»Was? Nein. Ich meine, ja, es ist … toll«, stammelte Valeria, deren Verstand Mühe hatte, das Gehörte zu verarbeiten.

»Und nun kommst du ins Spiel …«, begann Matteo. »Wie du vielleicht inzwischen bemerkt hast, siehst du Lucia verdammt ähnlich. Wenn du hier wohnen könntest, bis Lucia wieder zurück ist, würde kein Mensch merken, dass sie weg ist.«

»Wer sollte es denn merken?«, fragte Valeria und setzte in Gedanken hinzu: Hier ist doch eine eigene Welt, wer kann denn schon hinter diese Mauern schauen?

»Zum Beispiel Giancarlo, der Gärtner«, sagte Matteo.

»Oder der Drache«, ergänzte Fabiana.

»Sie meint die alte Signora Vastano, die im Torhaus wohnt«, erklärte Matteo. »Du hast sie vorhin im Garten gesehen. Sie war früher die Haushälterin von Lucias Vater und hat ein Auge auf den Besitz, wenn keiner da ist.«

Wie reich musste Lucias Vater sein, wenn er so eine Villa leer stehen ließ?, fragte sich Valeria. Und was war mit Lucias Mutter? Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Fabiana erschrocken rief: »Was? Der Drache hat sie schon gesehen?«

»Ja, aber ich glaube, sie hat mich mit Lucia verwechselt«, sagte Valeria.

»Hoffentlich!«, stieß Fabiana hervor und erklärte: »Sie mag uns nämlich nicht. Sie würde uns sofort auffliegen lassen, wenn sie wüsste, dass Lucia weg ist.«

»Warum mag sie euch nicht?«

»Weil sie ein alter Drache ist.«

Claudio riss das Gespräch wieder an sich, indem er sich an Valeria wandte: »Also haben wir uns Folgendes überlegt: Du müsstest einfach nur in Lucias Zimmer wohnen und so tun, als wärst du sie.«

Einfach? Nichts daran war einfach. Lucia sah ihr zwar ähnlich, doch das war dann auch schon alles. Nie im Leben würde Valeria sich so geben können wie Lucia. Ihr fehlten deren lässige Eleganz, die Spritzigkeit und Wortgewandtheit – und vor allen Dingen Lucias Selbstbewusstsein. »Aber ich kenne sie doch gar nicht«, sagte Valeria. »Und was wird Lucia dazu sagen, wenn ich …«

Claudio lachte, wobei seine blendend weißen Zähne aufblitzten. »Du Schäfchen, was glaubst du wohl, warum du hier bist?«

Valeria sah ihn nur verständnislos an.

»Wie ich Lucia kenne, hat sie das bestimmt eiskalt eingeplant«, meinte Fabiana. »Wahrscheinlich kam ihr die Idee, als sie dich im Park gesehen hat und ihr aufgefallen ist, wie ähnlich ihr euch seht.«

»Warum hat sie mich dann nicht selbst gefragt?«, entgegnete Valeria.

Claudio schüttelte den Kopf. »Weil sie eben Lucia ist. Lucia Bertone bittet niemals jemanden um etwas, sie schafft einfach Tatsachen.«

»Und wenn ich nun etwas anderes vorhätte?«, fragte Valeria, die Lucias Benehmen – wenn es sich denn so verhielt, wie die anderen behaupteten – ganz und gar unmöglich fand.

»Hast du denn was anderes vor?«, fragte Matteo.

Valeria wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn sie sich nur noch erinnern könnte, was sie gestern alles über sich erzählt hatte. Aber große Teile des Abends waren für immer in einem dichten Nebel versunken. Wussten oder ahnten die anderen, dass sie gerade in einer ausweglosen Situation steckte und ihr dieser Vorschlag, so abstrus er auch war, gar nicht so ungelegen kam? Zumindest Lucia schien es geahnt und ausgenutzt zu haben.

»Du würdest uns wirklich aus der Patsche helfen, wenn du hierbleiben würdest«, sagte Claudio und klang dabei regelrecht flehend. »Oder spricht etwas dagegen?«

Oh ja, das tut es! Das Ganze stinkt zum Himmel, sagte eine Stimme in Valerias Kopf. Andererseits hatte die Aussicht, ein paar Wochen in dieser schicken Villa zu leben anstatt in Alessandros Gästezimmerschlauch, etwas sehr Verführerisches. Und schon flüsterte eine andere Stimme: Deine Mutter hat dich belogen und weggeschickt, Alessandros Frau kann dich nicht leiden, dies ist ein Glücksfall, worauf wartest du denn noch?

Sie fing Matteos Blick auf und die warnende Stimme in ihrem Kopf verstummte. Zögernd nickte sie. »Okay, wenn ihr meint, dass das geht.«

»Super! Du bist die Beste!« Claudio klatschte in die Hände. Die anderen atmeten erleichtert auf.

»Was ist mit den Leuten, bei denen du bis jetzt gewohnt hast?«, fragte Matteo. »Nicht dass die dich von der Polizei suchen lassen.«

»Ich schicke ihnen eine Nachricht.«

»Sag ihnen aber nicht, wo du bist«, mahnte Claudio.

»Warum denn nicht?«, fragte Valeria, in deren Kopf erneut die Alarmglocken schrillten.

»Womöglich kreuzen die hier auf und dann kriegt der Drache das mit und alles war umsonst«, erklärte Fabiana.

Das klang plausibel, aber dennoch war Valeria nicht ganz wohl bei der Sache. Was sollte sie Alessandro sagen, damit er sich keine Sorgen machte? Damit er nicht ihre Mutter informierte?

»Kriegst du das hin?«, fragte Matteo und blickte sie gespannt an.

Sie nickte. Ihr würde schon was einfallen.

»Dann lass uns zur Tat schreiten«, sagte Fabiana und stand auf.

»Zur Tat?«, wiederholte Valeria verdutzt.

»Du siehst Lucia zwar ähnlich, aber ein paar Kleinigkeiten müssen wir schon noch anpassen«, urteilte Fabiana.

»Muss das sein?«

»Keine Sorge, du wirst davon nicht hässlicher«, grinste Claudio.

»Kann ich erst noch was essen?« Valeria wollte nach einem Gebäck aus Blätterteig und Aprikosenmarmelade greifen, das sie schon die ganze Zeit anlachte, aber Fabiana zog rasch den Teller weg. »Nichts da. Wenn du wie Lucia aussehen willst, ist ab sofort Diät angesagt. Du bist nämlich ganz schön moppelig, meine Liebe. Und nur zur Information: Lucia isst zum Frühstück Magerjoghurt mit ein paar Früchten und trinkt dazu zwei kleine caffè. Ohne Zucker.«

Sonst brichst du dir das Herz

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