Читать книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke - Страница 7

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3.

Drei Wochen war Valeria nun schon in Rom. Die Ferienzeit ging zu Ende und die Stadt wurde mit jedem Tag voller. Noch voller!, dachte Valeria. Hätte jemand sie gefragt, wie sie Rom fand, so hätte sie spontan geantwortet: laut. Auch heiß und staubig, aber vor allen Dingen laut.

Es war Nachmittag und Valeria betrachtete gedankenverloren die Horde papageienbunt gekleideter Kleinkinder, die auf dem Spielplatz des Parks herumtobten. Immer wieder fanden sie einen Anlass zum Brüllen: aus Begeisterung, aus Protest oder aus keinem ersichtlichen Grund. Auf den Bänken ringsherum saßen ihre Mütter und Großmütter und riefen den Kleinen Anweisungen, Ermahnungen und leere Drohungen zu. Gleichzeitig schnatterten sie entweder miteinander oder in ihre Mobiltelefone. Hunde kläfften, Jogger hechelten vorbei. Den Hintergrund der Geräuschkulisse bildete das permanente Rauschen des Straßenverkehrs, durchbrochen von Autohupen und dem Knattern der Roller und Mopeds, deren Abgaswolken bis in den Park geweht wurden. Sogar die Vögel lärmten hier mehr als zu Hause; Spatzen zankten sich krakeelend um die Krümel unter den Bänken, Krähen räumten Papierkörbe aus und verteidigten krächzend ihre Beute, Möwen bettelten klagend um Futter.

Adriana hatte vorgeschlagen, in den Park zu gehen, der nicht weit von ihrer Straße entfernt lag. Wegen »der Ruhe und der frischen Luft«.

Sehnsüchtig dachte Valeria an zu Hause. Zugegeben, auch dort war es selten völlig still. Vom Tal drangen Hundegebell und Glockengeläut herauf, die Hühner glucksten und knarzten vor sich hin oder verkündeten euphorisch gackernd, dass sie gerade ein Ei gelegt hatten, und die Zikaden konnten unter manchen Bäumen einen solchen Krach machen, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand. Und wenn Rosa erst die Motorsense anwarf, war es endgültig vorbei mit dem Frieden. Aber dennoch war das kein Vergleich zu dem permanenten Lärmteppich, der den ganzen Tag über dieser Stadt lag.

Im Haus zu bleiben, hätte jedoch auch nichts gebracht. Die Wände des Würfels waren lächerlich dünn, nirgendwo entging man dem Gekeife Adrianas, dem Quengeln und Toben der Kinder und erst recht nicht dem Fernseher. Das riesige Monstrum, das im Wohnzimmer an der Wand hing, lief quasi ständig. Zu Beginn ihres Aufenthaltes hatte auch Valeria viele Stunden davor verbracht, weil sie nicht gewusst hatte, was sie sonst mit sich anfangen sollte.

Inzwischen hielt sie sich lieber in dem kleinen, schlauchförmigen Gästezimmer auf, in dem sie untergebracht war. Dies geschah hauptsächlich, um Adriana aus dem Weg zu gehen. Die Launen der Hausherrin waren unberechenbar: Mal war sie die Freundlichkeit in Person, aber schon im nächsten Augenblick konnte sie sich über irgendeine Kleinigkeit mordsmäßig aufregen, herumkreischen und mit den Türen knallen. Ihre Tochter, die sechsjährige Chiara, war in vielen Dingen eine Miniatur ihrer Mutter: ein altkluges, vorlautes Gör, das sich pausenlos mit ihrem Aussehen beschäftigte und die Posen der Stars aus dem Fernsehen vor dem Spiegel nachahmte. Betrat man ihr Zimmer, wurde man von einer rosaroten Flutwelle fortgerissen. Valeria kam dennoch gut mit ihr aus, denn sie verfügte über ein wirksames Druckmittel: Chiara liebte es, wenn Valeria ihr vorlas oder Geschichten erzählte, während sie selbst dabei einem pinkfarbenen Pony die Mähne kämmte. Um in diesen Genuss zu kommen, war sie bereit, gegenüber Valeria ihre Launen zu zügeln. Valeria wiederum lernte von Chiara, wie man sich die Nägel lackierte und wie man Fertiggerichte in der Mikrowelle zubereitete. Dann war da noch der dreijährige Moreno: ein zum Anbeißen süßer Wonneproppen mit großen blauen Augen und hellen Wuschellocken. Aber auch er konnte sich lautstark bemerkbar machen, ganz besonders, wenn er sich mit seiner Schwester in die Wolle kriegte. Und das kam mehrmals am Tag vor.

An Valerias erstem Sonntag in Rom hatte Alessandro mit ihr eine Stadtrundfahrt in einem Touristenbus unternommen. Erwartungsgemäß war Valeria überwältigt gewesen vom Übermaß an Zeugnissen der Geschichte und von all dem Prunk in den Museen und Kirchen, allen voran natürlich dem Petersdom. Aber am meisten faszinierte sie die Stadt als solche: der Glanz der vielen Geschäfte, das Gewusel in den Straßen, das Meer von Häusern mit Abertausenden von Fenstern, und dahinter Menschen, so viele Menschen, die alle auf einem Fleck lebten. Natürlich hatte Valeria gewusst, dass Rom über drei Millionen Einwohner hatte, aber bisher war das für sie nur eine abstrakte Zahl gewesen. Mittendrin zu leben und ein Teil dieser Masse zu sein, war verstörend und faszinierend zugleich. Auch wenn es ihr schwerfiel, es zuzugeben: Ein bisschen begann Rom ihr tatsächlich zu gefallen.

Seit der Stadtrundfahrt hatte sie Alessandro jedoch nur noch wenig zu Gesicht bekommen, so als hätten sich mit diesem gemeinsamen Ausflug seine Vaterpflichten erfüllt. Er schien viel zu arbeiten, verließ das Haus früh am Morgen und kam oft spät nach Hause. Dann fielen Adriana und Chiara plappernd über ihn her, während ihm deutlich anzusehen war, dass er eigentlich nur seine Ruhe wollte. Waren Valeria und ihr Vater doch einmal allein, hatten sie sich nicht viel zu sagen.

»Habt ihr immer noch Hühner?«

»Ja.«

»Bringt meine Mutter noch immer ihre Forellen vorbei?«

»Ja. Und Seife.«

Valeria fragte sich, wie viel Alessandro wusste. Rosa würde ihm doch wohl kaum von dem Mann erzählt haben, den sie erschossen hatte. Aber was hatte sie ihm dann gesagt? Irgendeinen Grund für Valerias überstürzte Reise hierher musste sie ihm doch genannt haben. Sie wagte jedoch nicht, Alessandro danach zu fragen.

Denn da war noch etwas anderes: Sosehr Valeria auch in sich hineinhorchte, sie verspürte keine innere Verbindung zu ihrem Vater und auch nicht zu Chiara oder Moreno, ihren Halbgeschwistern. Das machte sie traurig. Traurig und gleichzeitig wütend auf Rosa, die nach Valerias Meinung dafür verantwortlich war.

Trotz der vielen neuen Eindrücke, die Rom für sie bereithielt, war Valerias Heimweh vom ersten Tag an stetig gewachsen, bis sie kurz davor gewesen war, ihre Mutter anzurufen, um sie anzuflehen, wieder nach Hause kommen zu dürfen. Doch ausgerechnet an diesem Abend war Alessandro früher als sonst von der Arbeit gekommen und hatte für Valeria ein Geschenk dabei: seinen alten Laptop, den er für sie hergerichtet hatte. Es ginge nicht an, hatte er gemeint, dass ein Teenager komplett hinterm Mond lebe.

Seitdem war Valeria damit beschäftigt, das World Wide Web zu entdecken. Es war kein völliges Neuland. Sie und Mr Wilson hatten mit dessen Computer gelegentlich im Internet nach Ergänzungsmaterial für den Unterricht gesucht. Aber unter der Aufsicht ihres Lehrers war die Sache naturgemäß nicht allzu reizvoll gewesen und der gute Mr Wilson war selbst eher ein staunender Gast in der digitalen Welt. Doch Alessandros Bemerkung hatte etwas in ihr ausgelöst. Sie hatte beschlossen, den Aufenthalt in Rom als Chance zu betrachten, sich mit einigen grundlegenden Dingen des modernen Lebens vertraut zu machen. Vielleicht würden aus den »ein, zwei Monaten« ja noch mehrere werden. Dann müsste sie wohl oder übel ab dem Herbst hier zur Schule gehen. Eine geradezu ungeheuerliche Vorstellung. Aber immerhin vorstellbar. Zumindest nicht mehr ganz so beängstigend wie noch vor Wochen.

Sogar Adriana hatte zwischenzeitlich die Vorteile von Valerias Aufenthalt zu schätzen gelernt, besonders, seit sie wieder angefangen hatte, halbtags in der Redaktion einer Zeitschrift zu arbeiten, deren Hauptanliegen es war, Klatsch über Prominente zu verbreiten. Denn Valeria ließ sich hervorragend als Haushaltshilfe und Babysitterin einsetzen: Mein Gott, du kannst tatsächlich Brot backen? – Ach bitte, lies doch den Kindern was vor, ich brauche nur eine Minute Ruhe! Gegenüber den Nachbarinnen hatte Adriana sogar behauptet, Valeria sei ein Au-pair-Mädchen. Es müsse ja nicht die ganze Welt von Alessandros früherem Fehltritt erfahren, hatte Adriana Valeria erklärt. Es mache ihr doch nichts aus?

»Nein«, hatte Valeria geantwortet.

Wem würde es schon etwas ausmachen, als Fehltritt bezeichnet zu werden?

Normalerweise schickte Adriana Valeria mit den Kindern allein in den Park, denn sie verließ das Haus nur, um entweder zu arbeiten oder ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem »Shoppen«. Daher fragte sich Valeria, warum sie heute mitgekommen war.

Beide saßen angespannt auf der schattigen Bank und sahen Chiara beim Schaukeln zu. In ihrem weiten Kleid flog das Kind wie ein rosa Schmetterling vor und zurück. Moreno hockte derweil im Sandkasten und buddelte ein Loch.

»Wie ist das eigentlich so, das Leben in den Bergen?«

»Ruhig«, antwortete Valeria.

»Ich meine, wie hält man das aus, immer in dieser Einsamkeit?«

»Ich fand es nie einsam.«

»War dir nicht furchtbar langweilig?«

»Nein. Ich hatte entweder Unterricht oder ich musste im Gemüsegarten helfen, die Hühner füttern, Holz stapeln, Obst ernten und einkochen … Es gibt immer etwas zu tun.« Ich höre mich an wie Rosa, dachte Valeria und fügte hinzu: »Wenn es regnete, habe ich viel gelesen und außerdem war ich oft im Wald unterwegs.«

»Unterwegs? Wo denn? Alessandro hat mir erzählt, dass da weit und breit nichts ist. Das nächste Dorf ist angeblich fünf Kilometer weit weg.«

»Ja und?«, erwiderte Valeria. »Das läuft man doch in einer knappen Stunde.«

»Du bist dorthin gewandert?«

So, wie Adriana es sagte, hörte es sich an, als wäre es völlig abgedreht, fünf Kilometer zu Fuß zurückzulegen. Für Adriana war es das wahrscheinlich auch. Valeria erklärte, sie sei oft und gerne in der Gegend herumspaziert, habe Pilze gesammelt – oder Beeren, Kräuter und wilden Spargel – oder sich einfach irgendwohin gesetzt, um ins Weite zu schauen und dabei die Gedanken schweifen zu lassen.

»Du warst ganz allein in den Wäldern unterwegs?«, fragte Adriana mit ungläubigem Entsetzen. »Hast du wenigstens ein Handy dabeigehabt?«

»Es gibt dort kein Netz.«

Adriana riss nur stumm die Augen auf und schüttelte dann den Kopf.

Jetzt besaß Valeria ein Handy. Alessandro hatte ihr sein altes Gerät überlassen. Falls sie mal verloren gehe, hatte er mit ernster Miene gemeint, als er ihr gezeigt hatte, wie es funktionierte.

»Gab es wenigstens einen Fernseher?«, wollte Adriana wissen.

Valeria nickte, verschwieg aber, dass der Empfang nur gut war, wenn das Wetter mitspielte. Man versäume dabei nicht viel, hatte Rosa stets betont.

»Hast du es denn nie vermisst, mit anderen Kindern … ich meine, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein?«

Valeria beobachtete vier junge Leute, die in einiger Entfernung auf einer Decke saßen und Eis aus Pappbechern aßen. Eines der Mädchen sah aus wie … nein, das konnte nicht sein, sie musste sich irren. Sie schaute weg und bemerkte Adrianas fragenden Blick. »Entschuldige, was hast du gesagt?«

Adriana wiederholte ihre Frage.

»Ich treffe doch Gleichaltrige«, sagte Valeria und setzte hinzu: »Zweimal die Woche gebe ich bei uns im Dorf Nachhilfe in Französisch, Englisch und Mathe. Auch für Leute in meinem Alter. Abiturienten.«

Adriana vergaß, den Mund zu schließen.

»Glaubst du mir nicht?«, erkundigte sich Valeria. Dachte Adriana etwa, sie hätte eine geistig minderbemittelte Hinterwäldlerin vor sich, nur weil man ihr erst hatte beibringen müssen, wie man ein Handy bediente?

»Doch, doch. Ich meine nur …« Adrianas Gesichtsausdruck wurde ernst, als sie sagte. »Weißt du, Valeria, nicht jeder, der intelligent ist, findet sich auch im Leben gut zurecht. Dafür braucht es … Erfahrungen. Und ich frage mich, wie man so leben kann, so wie du und deine Mutter all die Jahre. Vielleicht findet sie das für sich gut, aber das kannst du doch auf die Dauer nicht wollen, oder?«

Valeria nickte, aber sie schwieg. Adriana hatte – absichtlich oder nicht – einen wunden Punkt getroffen. In den vergangenen Monaten hatte Valeria häufiger über ihr Leben nachgedacht, über ihre Zukunft. Ganz besonders, seit Mr Wilson sie immer wieder gedrängt hatte, das Abitur zu machen. Er würde sie im nächsten Frühjahr zu den Prüfungen anmelden, sie würde das locker schaffen, er habe da gar keine Bedenken. Man müsse das nur ihrer Mutter beibringen. Andererseits würde Valeria ja im nächsten Jahr achtzehn und damit volljährig. Mit dem Abitur in der Tasche könnte sie studieren, was sie wolle, hatte Mr Wilson versichert. Denn wozu hätte er sie sonst jahrelang unterrichtet? »Du bist sehr klug, dir stehen alle Türen offen.«

Aber genau darin lag das Problem. Valeria wusste nicht, was sie wollte, und das betraf nicht nur das Studienfach, sondern ihr ganzes Leben. Vielleicht hatte Adriana recht. Vielleicht musste sie wirklich mehr von der Welt sehen, um herauszufinden, was sie interessierte.

»Und was macht die Liebe?«

»Was?«, fragte Valeria, aus ihren Gedanken gerissen.

»Die Liebe«, wiederholte Adriana und knuffte Valeria in die Seite. »Los, raus mit der Sprache. Wer ist er, wie heißt er?«

Valeria sandte einen Blick in das Geäst der Platane, in deren Schatten sie sich niedergelassen hatten. Reichte es nicht, wenn sie Chiara Geschichten erzählte?

»Manchmal«, begann sie, »lassen Jäger bei uns ihre Autos stehen und gehen von da an zu Fuß auf die Pirsch. Hinterher sitzen sie dann auf der Bank, unter dem Maulbeerbaum, und trinken ein Glas Wein. Die letzten paar Mal hat einer von ihnen seinen Neffen mitgebracht. Er heißt Lorenzo und studiert in Mailand.«

»Und?«, fragte Adriana, offenbar nach einer kleinen Romanze lechzend.

»Nichts und«, sagte Valeria.

»Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen! Ist er hübsch? Bist du verliebt in ihn?«

»Ich weiß nicht. Er ist … ganz okay.« Valeria ärgerte sich über sich selbst und fragte sich, wieso sie überhaupt davon angefangen hatte. Um Adriana nicht zu enttäuschen? Zugegeben, sie hatte manchmal ein wenig Herzklopfen verspürt, wenn Lorenzo in seiner Jagdkluft aus dem Jeep gesprungen war. Aber müsste sich verliebt sein nicht anders anfühlen? Intensiver, deutlicher, ein Orkan der Gefühle? So, dass man nicht mehr schlafen, nicht mehr essen und an nichts anderes mehr denken konnte? Jedenfalls wurde es in den Büchern und Filmen immer so dargestellt. Valeria hatte aber nach wie vor prima geschlafen, einen gesunden Appetit an den Tag gelegt und nur ab und zu an Lorenzo gedacht.

Adriana seufzte, lehnte sich zurück und kreuzte ihre langen Beine mit den hochhackigen Sandaletten. Das Ganze höre sich ja nicht gerade nach einer alles verzehrenden Leidenschaft an, schlussfolgerte sie scharfsinnig. Aber Valeria sei ja noch so jung und habe alle Zeit der Welt.

Die nickte und hoffte, dass Adriana nun endlich zufrieden sein würde. Ihr Blick wanderte über die Sträucher und Rasenflächen des Parks. Wie sattgrün das Gras war, trotz der Hitze, die auch jetzt, in den ersten Septembertagen, noch immer über der Stadt hing wie ein feuchtwarmes Tuch. Die Clique junger Leute, die Valeria vorhin aufgefallen war, brach gerade auf. Einer der Jungs schüttelte die Decke aus, auf der sie gelegen hatten, und faltete sie zusammen, der andere sammelte die Eistüten ein und trug sie artig zum nächsten Papierkorb.

Adriana nahm jetzt ihre Diven-Sonnenbrille ab und schaute Valeria von der Seite an, mit einem Ausdruck, als hätte sich plötzlich etwas Entscheidendes an ihr verändert. »Hast du dich eigentlich je gefragt, wieso du Alessandro kein bisschen ähnlich siehst?«

Valeria, überrumpelt vom abrupten Themenwechsel, verneinte. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber Adriana war nicht die Person, mit der sie darüber reden wollte. Außerdem gab es im Moment Interessanteres: Die vier kamen den Weg entlang. Obwohl die zwei Jungs recht gut aussahen, hingen Valerias Augen wie gebannt an einem der Mädchen. Luisa, durchfuhr es sie wie ein Blitz.

Nein, sie träumte nicht. Das Mädchen sah wirklich aus wie Luisa, ihre Schattenschwester. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Haltung aufrecht, das Kinn hatte sie selbstbewusst nach vorn gereckt. Sie trug ein blau-weiß geringeltes T-Shirt, enge Jeans und flache Sneakers, an einem Schulterriemen hing eine große braune Ledertasche. Eine Studentin? Allerdings waren ja noch Ferien, fiel Valeria ein.

»Verzeih mir, Valeria, wenn ich so offen bin. Ich möchte dich natürlich nicht verletzen und eigentlich wäre das ja die Aufgabe von Alessandro. Aber du weißt ja, wie feige Männer in solchen Dingen sind ...«

Das Mädchen im Ringel-T-Shirt hatte die Sonnenbrille aufgesetzt und ging jetzt in Begleitung der anderen an Valeria vorbei. Sie schien Valeria nicht zu bemerken, obwohl diese nur wenige Meter von ihr entfernt auf der Bank saß. Unfähig, sich zu bewegen oder etwas zu sagen, starrte sie der Erscheinung nach. Dabei versuchte sie, Adrianas Geschwätz neben sich auszublenden, während sie in Gedanken das Mädchen, das sich nun Meter für Meter von ihr entfernte, anflehte: Dreh dich um! Dreh dich bitte, bitte noch einmal um!

»… weiß nicht, warum dir deine Mutter dieses Märchen erzählt hat, da musst du sie selbst fragen …«

Die vier näherten sich der Stelle, an der der Weg einen Knick machte und hinter Büschen verschwand. Nur mit Mühe widerstand Valeria dem Drang, aufzustehen und ihnen nachzulaufen.

»… wollte vielleicht nur, dass du einen Vater hast, so wie andere Kinder auch …«

Ich sehe Gespenster, sagte sich Valeria. Wahrscheinlich sehne ich mich nur nach einer vertrauten Person, deshalb sehe ich in einer Wildfremden meine Schattenschwester Luisa.

Kurz vor der Wegbiegung angelangt, blieb das Mädchen unvermittelt stehen, wandte sich mit einer schnellen Bewegung um, nahm die Sonnenbrille ab und schaute Valeria direkt ins Gesicht. Für ein, zwei Sekunden begegneten sich ihre Blicke und die Welt schien den Atem anzuhalten. Valeria hörte weder das Kindergeschrei noch das Vogelgezwitscher oder das, was Adriana sagte. Dann hob das Mädchen lässig die Hand, winkte, lächelte und drehte sich mit einer kleinen, anmutigen Pirouette wieder um. Mit federnden Schritten, die kaum den Boden zu berühren schienen, folgte sie ihren Freunden, die schon weitergegangen waren.

»… und solltest den Tatsachen ins Auge sehen. Ich jedenfalls kann nicht so tun, als wärst du … Valeria? Wo willst du hin?«

Valeria war aufgestanden und schaute wie gebannt auf die Wegbiegung, hinter der Luisa – denn es war Luisa gewesen, da bestand nicht der leiseste Zweifel – verschwunden war.

»Lauf nicht weg, bitte«, drang Adrianas Stimme zu ihr durch. »Ich wollte dich nicht verletzen, aber jemand musste dir doch reinen Wein einschenken. Valeria?«

»Ist schon gut«, sagte Valeria und setzte sich wieder hin.

Sonst brichst du dir das Herz

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