Читать книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke - Страница 6
ОглавлениеNach Rom? Und was machen wir da?«
Rosa, die im Wohnzimmer auf dem Sofa saß, nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nicht wir. Du. Du fährst nach Rom. Gleich morgen früh.«
Ein eisernes Band schloss sich um Valerias Brust.
»Ich bringe dich morgen früh nach Assisi, dort fährt der Frecciabianca direkt zum Bahnhof Termini. Alessandro holt dich dort ab.«
»Wer?«
»Alessandro. Dein Vater. Du erinnerst dich doch noch an ihn?«
»Nein.«
»Red keinen Unsinn. Es ist ja nur bis … nur für eine Weile.«
»Eine Weile?«
»Ein, zwei Monate vielleicht.«
Zwei Monate? Eine Ewigkeit!
»Hat es mit diesem toten Mann zu tun. Schickst du mich deshalb weg?«
Sie sah, wie Rosas Gesicht versteinerte.
War es das? Eindeutig, so wie Rosa reagierte.
»Ich möchte, dass du etwas … Abstand gewinnst«, sagte Rosa.
»Bitte, Mama, ich werde nie mehr darüber sprechen, aber lass mich hier!«
»Du bist siebzehn. Es wird es höchste Zeit, dass du etwas anderes zu sehen bekommst. Es wird dir guttun, mal rauszukommen, in eine große Stadt.«
Das waren ja ganz neue Töne! Als Mr Wilson Rosa neulich vorgeschlagen hatte, Valeria nach Assisi aufs Gymnasium zu schicken, damit sie dort das Abitur machen könne, wäre sie ihm fast an die Kehle gegangen.
»Warum kommst du denn nicht mit?«, fragte Valeria verzweifelt. Ihr Zuhause war doch hier, schon immer gewesen. Was zum Teufel sollte sie in Rom?
»Ich kann hier nicht weg, ich habe ja bald meine Ausstellung, da ist noch so viel zu tun, du hast ja keine Ahnung.«
»Aber …«, begann Valeria, »… ich kann nicht alleine nach Rom fahren. Ich weiß doch gar nicht, was man tun muss, im Zug und … und ...« Die Zunge blieb ihr am Gaumen kleben und schien auch nicht mehr ans Gehirn angeschlossen zu sein. Ihr war klar, dass sie gerade alles andere als erwachsen klang. Sie hatte Angst, einfach nur Angst. Sie und Rosa waren zwar schon einige Male verreist, aber immer zusammen. Valeria war noch nie alleine irgendwo gewesen. Vor allen Dingen war sie noch nie in ihrem Leben länger als ein paar Stunden von Rosa getrennt gewesen. Noch vor einer Viertelstunde hatte sie angenommen, dass dieser tote Mann im Hof wohl für alle Zeiten zu den schlimmsten und furchterregendsten Erfahrungen ihres Lebens zählen würde. Aber die Aussicht, längere Zeit von Rosa getrennt zu sein und quasi ins Ungewisse reisen zu müssen, stellte alles in den Schatten.
Mit herablassender Geduld erwiderte Rosa: »Aber natürlich kannst du das. Du bist doch ein intelligentes Mädchen.«
Mr Wilson behauptete das auch immer. Valeria konnte eine Logarithmusfunktion zeichnen und mit ihrem Lehrer über Seneca diskutieren, notfalls sogar auf Lateinisch. Sie las Bücher in Englisch und Französisch und sie hätte auf Anhieb einen Vortrag über das Ökosystem Wald halten können. Aber auf das, was ihre Mutter nun von ihr verlangte, hatte sie niemand vorbereitet.
»Alessandro freut sich schon auf dich. Und seine Frau und die beiden Kinder auch.«
Als Alessandro fortgegangen war, war Valeria acht oder neun Jahre alt gewesen, sie wusste es nicht mehr genau. Seither hatten sie und ihre Mutter kaum noch von ihm gesprochen und in letzter Zeit überhaupt nicht mehr. Er war der Sohn der verrückten Ersilia, welche sich jedoch Valeria gegenüber ganz und gar nicht wie eine Großmutter benahm. Verrückt eben.
Alessandro dagegen war sehr nett gewesen, dennoch hatte er Valeria nicht besonders gefehlt. Oder falls doch, dann erinnerte sie sich nicht mehr daran. In den ersten Jahren hatte sie deswegen hin und wieder ein schlechtes Gewissen gehabt. Was war sie für eine Tochter, die ihren Vater nicht vermisste? Aber auch das hatte bald nachgelassen. Irgendwann war sie schließlich zu der Ansicht gelangt, dass man sich um einen Vater, der nie zu Besuch kam und auch nie etwas von sich hören ließ, nicht grämen musste.
»Was ist mit Mr Wilson?«, fiel Valeria ein. »Nächste Woche fängt der Unterricht wieder an.«
Ihre Mutter legte den Kopf schief und sah sie mit gespielter Nachsicht an. Sie klang jedoch ungeduldig, als sie antwortete: »Mr Wilson ist dein Privatlehrer, den ich bezahle. Deshalb fängt der Unterricht an, wenn ich es sage.«
Das Verhältnis zwischen Rosa und Valerias Hauslehrer war zurzeit nicht das beste. Er setzte ihrer Tochter mit seinen Zukunftsplänen für sie Flausen in den Kopf, hatte Valeria ihre Mutter neulich zu ihm sagen hören und befürchtet, es würde wieder dasselbe passieren wie damals, als Mr Wilson angeblich ein halbes Jahr lang krank war, nachdem er sich mit Rosa gestritten hatte. Sie hätte Mr Wilson nicht erwähnen sollen, erkannte Valeria im Nachhinein. Sie musste aufpassen, sonst würde Rosa noch wütend werden. Es war schrecklich, wenn das passierte. Dann wurde sie stumm und starr wie Holz und ihr Gesicht zu einer reglosen Maske. Im ganzen Haus konnte man dann diese Spannung fühlen, als wäre die Luft elektrisch aufgeladen, und diese Spannung war schlimmer als jedes zornige Wort.
Aber jetzt lächelte Rosa bereits wieder und sagte so gezwungen unnatürlich, als würde sie es irgendwo ablesen: »Geh jetzt rauf, Liebes, pack deine Sachen und dann leg dich schlafen. Morgen müssen wir früh raus.«
Vom Tag drang noch der Duft der Sonne aus dem Gebälk. Der Vollmond schien durchs Fenster, so hell, dass Valeria den gezackten Riss in der Decke erkennen konnte. Er stammte von dem starken Erdbeben, das die ganze Gegend erschüttert hatte, wenige Jahre bevor Valeria zur Welt gekommen war. Sie selbst konnte sich nur an leichte Beben erinnern, bei denen die Gläser im Schrank geklirrt hatten. Das Bauernhaus, in dem sie und ihre Mutter lebten, war über dreihundert Jahre alt und hatte schon so manches Beben überstanden. Valeria hatte sich stets sicher gefühlt zwischen den dicken Mauern, mit denen sich das Gebäude an den Berghang schmiegte, als sei es vor Urzeiten daraus hervorgewachsen.
Nach Rom. Die Worte hingen im Raum wie etwas Schweres, Erdrückendes. Sie lag mit offenen Augen da. Da war eine tiefe, existenzielle Angst, die ihr die Luft abschnürte, die wuchs und wuchs, bis es ihr vorkam, als bestünde sie nur noch aus Angst. Nach Rom. Weg von hier. Allein, ohne Rosa. Zu einem Vater, an den sie sich kaum erinnerte.
Es war jedoch nicht die Zugfahrt, vor der sie sich fürchtete, und auch nicht Alessandro, sondern die Gewissheit, dass sich ihr Leben ab sofort verändern würde. Sie hätte nicht sagen können, woher sie es wusste, aber sie wusste es. Vielleicht würde sie nie mehr zurückkommen, und selbst wenn doch – es würde nicht mehr so sein wie vorher.
Draußen schrie erneut ein Waldkauz und in Valeria wuchs das Bedürfnis, ebenfalls zu schreien oder irgendetwas Dramatisches zu tun. Sie war kurz davor, von Panik überrollt zu werden, als plötzlich Luisa im Zimmer stand. Ihr Profil hob sich vor dem Fenster scharf gegen das Mondlicht ab, sie hatte die Arme verschränkt und trug einen dicken Pullover, als herrsche tiefer Winter. Jetzt wandte sie Valeria ihr Gesicht zu. Sie war älter geworden, natürlich war sie das, genau wie Valeria selbst, sie war ja ihre Schattenschwester. So hatte Valeria sie immer genannt.
»Was ist mir dir los?«, fragte Luisa mit ihrer glockenhellen Stimme, in der immer ein Hauch von Spott mitschwang. »Du benimmst dich wie ein Kleinkind.«
Valeria, die steif dagelegen und den Atem angehalten hatte, richtete sich auf. »Luisa«, flüsterte sie, während sie von einem warmen Glücksgefühl durchströmt wurde. »Du bist wieder da. Endlich!«
»Was du nicht sagst.« Sie lächelte, aber dann sagte sie streng: »Sei doch froh, dass du von hier wegkommst. Weg von ihr. Sie ist eine Mörderin.«
»Sei still!«, schrie Valeria. »Das ist nicht wahr!«
»Und ob«, meinte Luisa gelassen. »Du weißt es doch genau. Eine Mörderin und eine Lügnerin. Warum sagt sie dir nicht, was los ist und wer der Kerl ist, den sie erschossen hat? Schickt dich einfach nur weg!« Luisa schnaubte verächtlich und strich sich eine Locke aus der Stirn. Dann meinte sie etwas milder: »Na, wenigstens ist es Rom. Es hätte schlimmer kommen können.«
»Aber ich will nicht allein nach Rom!«, rief Valeria erbost.
Wolken trieben Schatten über den Mond, Luisas Umriss verschmolz mit der Dunkelheit.
»Luisa?«
Keine Antwort. Valeria wartete. Aber im Grunde wusste sie, dass Luisa bereits weg war, denn sie spürte sie nicht mehr. Stattdessen hörte sie Schritte vor der Tür, ihre Mutter kam ins Zimmer gestürmt und knipste das Licht an. Mit ihrem langen Nachthemd und dem offenen lockigen Haar sah sie aus wie die Maria Magdalena auf dem Gemälde, das in der Dorfkirche über dem Seitenaltar hing.
Eine Mörderin.
»Was ist passiert? Mit wem redest du?«
Rosas Blick war hellwach und ihre Stimme klar. Demnach hatte auch sie noch nicht geschlafen.
»Ein Albtraum«, antwortete Valeria. Noch angestachelt von Luisas Worten setzte sie aufmüpfig hinzu. »Wundert dich das etwa?«
Rosa seufzte nur und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf jetzt«, sagte sie und ging wieder hinaus.
Valeria rollte sich ein wie ein Embryo und schloss die Augen. Luisas Besuch hatte ihr gutgetan. Die übergroße Angst war nun einer fiebrigen Aufregung gewichen. Was wahrscheinlich ganz normal war vor einer Reise.
»Valeria! Aufstehen!«
Sie blinzelte, streckte sich. Fahles Licht sickerte ins Zimmer. Was sollte denn das, es war doch noch viel zu früh? Die Sonne hatte es noch nicht einmal über den Bergkamm geschafft. Mit dem nächsten Wimpernschlag brach die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse über Valeria herein wie ein Schwall kaltes Wasser. Ihre Mutter mit der Flinte auf der Treppe, die glasigen Augen des Toten im Hof, das schwarze Blut auf seiner Brust, auf den Steinen, die Fliegen …
»Valeria, beeil dich! Der Zug wartet nicht auf uns.«
Nach Rom. Das ganze Ausmaß ihres Elends war plötzlich wieder präsent. Trotz der Bleigewichte an Armen und Beinen stand Valeria auf, wusch sich, zog sich an. An Frühstück war nicht zu denken, ihr Magen war wie zugeschnürt, sodass Rosa schließlich zwei Panini mit Käse belegte und diese für später einpackte.
Fieberhaft suchte Valeria nach Worten, um ihre Mutter doch noch umzustimmen. Irgendein Argument musste es doch geben, etwas, das ihr gestern nicht eingefallen war, eine magische Formel, die sie erlösen würde.
Stattdessen kamen ihr nur Luisas Worte von gestern Nacht in den Sinn. Eine Mörderin. Eine Lügnerin.
Sollte sie ihrer Mutter sagen, dass Luisa zurückgekommen war? Aber Valeria wusste noch zu gut, wie Rosa das letzte Mal reagiert hatte: Es sei ja ganz amüsant, wenn eine Sechsjährige eine imaginäre Schwester habe, der man einen eigenen Teller und eine Zahnbürste hinstellen müsse, hatte Rosa eingeräumt, aber bei einem Teenager sei das doch einigermaßen besorgniserregend. Dabei hatte Rosa jedoch weniger besorgt, sondern vielmehr gereizt geklungen und auch so ausgesehen.
Von da an war Luisa verschwunden gewesen, geradeso, als hätte sie Rosas Worte gehört. Vier Jahre war das nun her, damals war Valeria dreizehn gewesen. Und nun war sie zurückgekommen.
Die Welt ist nicht so, wie wir sie sehen. Rosas Worte. Ja, dachte Valeria, und Luisa ist der beste Beweis dafür. Dennoch erschien es ihr im Augenblick ratsamer, den Mund zu halten. Denn wenn sie sich recht erinnerte, hatten Luisa und ihre Mutter immer schon ein wenig auf Kriegsfuß gestanden.
»Bist du so weit?«
»Ich muss mich noch von den Hühnern verabschieden.«
»Sei nicht albern!«
Rosa stand exakt an der Stelle, an der gestern der Tote gelegen hatte, und klapperte mit den Autoschlüsseln. Die Entschlossenheit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jetzt konnte man nur noch hoffen, dass der betagte Landrover nicht anspringen würde, wie es bisweilen vorkam. Mit der ganzen Kraft ihrer Gedanken beschwor Valeria ihre Wunschvorstellung herauf: ihre Mutter, fluchend über den Motorraum gebeugt, Kleid und Hände ölverschmiert, während in Assisi der Frecciabianca ohne Valeria abfuhr. Aber wie zum Hohn startete der Wagen, kaum dass der Schlüssel das Schloss berührt und Rosas Sandalette das Gaspedal durchgedrückt hatte. Ihr blaues Sommerkleid blieb unbefleckt und weder Flüche noch Klagen über englische Autos kamen über ihre Lippen, die sie heute kirschrot geschminkt hatte.
Das Letzte, was Valeria von ihrem Zuhause sah, war der Falke, der den Wagen spielerisch umsegelte, als dieser die Serpentinen hinabfuhr. Aus seiner Perspektive musste ihr Unglück lächerlich wirken: eine Siebzehnjährige, die in einem Auto sitzt und für ein paar Wochen zu ihrem Vater nach Rom fährt. Die schönste Stadt der Welt, wie Mr Wilson zu schwärmen pflegte. Ja, wenn man es so betrachtete … Wenn man die Sache mit dem erschossenen Mann vor der Haustür und ein paar andere Nebensächlichkeiten ignorierte, dann hatte Luisa vielleicht doch recht: Valeria sollte froh sein, von hier wegzukommen und ein Stück von der Welt da draußen zu sehen.
Schließlich verlor sie auch den Falken aus den Augen. Stocksteif saß sie da und schaute zum Seitenfenster hinaus, damit Rosa nicht sah, wie sie versuchte, die Tränen wegzublinzeln.
Offenbar war Rosa Tomaso über Nacht auf die Idee gekommen, ihrer Tochter das Ganze als Bildungsreise zu verkaufen. Während der Wagen die Kurven nahm und über die Schlaglöcher holperte, schwärmte sie, wie lebendig und interessant Rom doch sei, und zählte wie eine Reiseführerin all die Monumente und Museen auf, die Valeria sich dort unbedingt ansehen müsse. Sie ging sogar so weit, sich selbst anzuklagen: dass Valeria bislang noch nie in Rom gewesen sei, sei ein geradezu unverzeihliches Versäumnis, an dem sie, Rosa, die Schuld trage.
Valeria hörte sich den ganzen Stuss mit wachsender Fassungslosigkeit an und verweigerte bockig jeden Kommentar. Die Lippen versiegelt, betrachtete sie das graue Band der Straße, die umgepflügten Felder und die überreifen Sonnenblumen, die aussahen wie schwarze Skelette mit herabhängenden Köpfen. Ein unsichtbares Gewicht lastete auf ihr und ließ sie nur schwer atmen. Ihr Leben lang hatte Valeria in Rosas Bannkreis gelebt, hatte sie bewundert und beinahe jede Minute an ihrer Seite verbracht. Rosa war für sie das Maß aller Dinge gewesen, ihr Wort war Gesetz. Erst als Valeria älter geworden war, mit zwölf oder dreizehn, hatte sie angefangen, allein Spaziergänge zu unternehmen oder hin und wieder mit Gleichaltrigen einen Nachmittag im Dorf zu verbringen. Aber noch nie hatte sie ohne Rosa irgendwo anders übernachtet. Allein die Vorstellung war beklemmend. Und nun schickte Rosa sie von einem Tag auf den anderen für unbestimmte Zeit fort.
»Möchtest du ein Lakritzbonbon? Vielleicht hilft es ja, damit du die Zähne wieder auseinanderbekommst.«
Endlich reagierte Valeria und fuhr ihre Mutter wütend an: »Wenn du unbedingt reden willst, dann erklär mir doch mal so einiges: Wer war der Typ, den du erschossen hast? Was hat er dir getan? Und warum muss ich jetzt von einem Tag auf den anderen nach Rom? Darüber würde ich mich wirklich gerne mit dir unterhalten. Alles andere kannst du dir sparen, auch die Lakritze!«
Daraufhin war es Rosa, die für den Rest der Fahrt stumm blieb. In Schweigen gehüllt erreichten sie den Bahnhof von Assisi. Dorthin fuhren sie sonst, wenn Rosa zu der Ansicht gelangte, man müsse wieder einmal unter die Leute. Meist fiel dieses Bedürfnis mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem sie neue Leinwände, Pinsel und Farben brauchte. Bei der Gelegenheit bekam auch Valeria neue Hefte, Bücher und Kleidung.
Stumm vor sich hin starrend standen sie schließlich auf dem Bahnsteig, zwischen ihnen, wie eine Barriere, Valerias große Sporttasche. Die Lautsprecher kündigten die Einfahrt des Zuges an. Wieder spürte Valeria diesen Angstknoten in ihrem Innern.
»Sei nett zu Alessandro«, brach Rosa das Schweigen. »Du darfst ihm nicht böse sein, weil er sich nie gemeldet hat. Es ist nicht seine Schuld, ich hatte ihn darum gebeten. Ich nahm an, das sei besser für dich.«
Urplötzlich schlug Valerias Angst in Wut um. Wie um alles in der Welt kam ihre Mutter zu dem Schluss, es wäre besser für Valeria, wenn man ihr den Vater vorenthielt, um ihn dann nach Jahren wie ein Kaninchen aus dem Hut zu zaubern, wenn er einem nützlich erschien? Valeria hatte schon eine scharfe Antwort auf der Zunge, aber da kam neben ihnen der Zug kreischend zum Stehen. Also warf sie Rosa nur einen zornigen Blick zu und wandte sich ab.
Die Türen öffneten sich, eine Schar deutsch sprechender Pilger und ein paar Einheimische stiegen aus. Rosa griff in ihre Handtasche und drückte Valeria einen Briefumschlag in die Hand. Den solle sie Alessandro aushändigen. Valeria steckte ihn in ihre gehäkelte Handtasche, die sie sich um die Schulter gehängt hatte, dann griff sie nach ihrer Sporttasche und stieg ohne ein Wort des Abschieds in den Zug. Rosas ausgetreckte Arme blieben leer.
»Wiedersehen mein Kind. Du wirst sehen, Rom wird dir gefallen!«
Da war er wieder, dieser aufgesetzt lebhafte Tonfall, allerdings unterlegt mit einem Hauch von Verzweiflung.
Valeria antwortete nicht. Es kostete sie eine schier übermenschliche Anstrengung, sich nicht nach ihrer Mutter umzudrehen, aber Rosa sollte ruhig wissen, wie elend Valeria sich fühlte. Nein, nicht nur wissen. Rosa sollte sich ebenso elend fühlen wie sie. Der Kloß in Valerias Hals wurde größer. Sie betrat den Waggon, suchte nach der Nummer ihres Sitzplatzes, fand ihn und setzte sich hin. Der Platz neben ihr war leer, im ganzen Waggon saß nur ein knappes Dutzend Leute. Ein Pfiff, die Türen schlossen sich, sanft setzte sich der Frecciabianca in Bewegung. Valeria schielte durch das Fenster. Rosa stand auf dem Bahnsteig und winkte zaghaft mit der rechten Hand, die linke schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab. Wie verloren und verletzlich sie auf einmal wirkte. Ihr Anblick versetzte Valeria einen Stich und der Impuls, ihr zuzuwinken, gewann die Oberhand. Aber ob Rosa das sehen konnte, war fraglich, denn der Zug war schon zu weit weg und wahrscheinlich spiegelten die Scheiben. Als ihre Mutter nur noch ein kleiner blauer Punkt war, sank Valeria zurück in den Sitz und ließ die schweren Tränen laufen, die sich hinter ihren Augenlidern angesammelt hatten. Sollte es jemand sehen, so war ihr das herzlich egal.
Als keine Tränen mehr kamen, trocknete sie ihre Augen und Wangen, schnäuzte sich und zog den Umschlag aus ihrer Handtasche. Er war nicht beschriftet und er sah anders aus als die Briefumschläge, die Rosa normalerweise für ihre Korrespondenz benutzte. Er fühlte sich an, als wären Geldscheine darin. Ein ganzes Bündel musste das sein.
Plötzlich hatte Valeria wieder die Szene von gestern Abend vor Augen. Hatte nicht einer der beiden Männer, die die Leiche fortgeschafft hatten, ihrer Mutter etwas in die Hand gedrückt?
Valeria überkam die bizarre Vorstellung, gerade verkauft worden zu sein. Sie schwor sich hoch und heilig, ihrer Mutter während der Dauer ihrer Verbannung nach Rom nicht zu schreiben, keine einzige Zeile! Und anrufen würde sie sie auch nicht und nicht ans Telefon gehen, sollte Rosa bei Alessandro anrufen. Es sei denn, Rosa wollte ihr sagen, dass sie wieder nach Hause kommen dürfe.
Zweieinhalb Stunden später fuhr der Zug am Bahnhof Roma Termini ein. Valeria, der die Fahrt erstaunlich kurz vorgekommen war, stieg aus. Der Bahnsteig und die Bahnhofshalle wimmelten vor Menschen, dass es einem schwindelig werden konnte. Die Kakofonie ihrer Stimmen, vermischt mit den Lautsprecheransagen, erfüllte die Luft. Valeria presste ihre kleine Handtasche fest an sich, denn bekanntermaßen war Rom voll von Taschendieben. Während sich der Bahnsteig leerte, hielt sie auf Zehenspitzen Ausschau nach Alessandro. In ihrer Erinnerung war er ein hochgewachsener Athlet mit blauen Augen und langen braunen Locken, die in einen kleinen Zopf mündeten. Wo war er nur? Hatte er sie vergessen, hatte er es sich anders überlegt, hatte Rosa sie am Ende angelogen, nur um sie loszuwerden?
Valeria war kurz davor, in Panik zu geraten, als ein fremder Mann auf sie zustürmte, sie umarmte, ihr zwei Wangenküsse aufdrückte und rief: »Nicht zu glauben, die Maulbeerprinzessin ist eine richtige Dame geworden!«
Maulbeerprinzessin. Das Wort war wie ein Code und es beschwor ein lange vergessenes Bild herauf: Sie, in ihrem Lieblingssommerkleid und mit einer Krone aus Blumen und Lorbeerzweigen hoch oben im Maulbeerbaum sitzend, und unten, auf dem Hof, ihre Lakaien. Rosa hatte meist nach kurzer Zeit den Dienst quittiert, aber Alessandro hatte eine Engelsgeduld bewiesen und sich ganze Nachmittage lang herumscheuchen lassen. Sehr wohl, Eure Majestät, noch einen Schokoladenkeks, stets zu Diensten, Eure Majestät …
Die Erinnerung an diese Szenen hinterließ ein warmes Gefühl, irgendwo in ihrem Inneren. Sie lächelte und gelangte zu der Erkenntnis, dass acht Jahre einem Menschen ganz schön zusetzen konnten. Alessandros Zopf war ab, die Locken waren stellenweise ergraut und hatten sich arg gelichtet. Über dem Gürtel der Jeans wölbte sich ein kleiner Bauch und außerdem schien Alessandro geschrumpft zu sein. Nur seine blauen Augen waren noch dieselben. Schade, dass ich die nicht geerbt habe, dachte Valeria, deren Pupillen braungrün waren, genau wie die von Rosa.
Alessandro schien sich aufrichtig über ihre Ankunft zu freuen, sein Lächeln war herzlich und offen. »Willkommen in der Ewigen Stadt!«, rief er. »Wir müssen uns beeilen, mein Wagen steht im Parkverbot.«
Als sie im Auto saßen, wollte er wissen, ob die Fahrt angenehm gewesen sei, ob sie Rom denn schon kenne, wie es Rosa gehe. Valeria gab einsilbige Antworten: ja – nein – gut. Sie war ziemlich abgelenkt durch Alessandros Fahrweise und die der zigtausend anderen Auto- und Mopedfahrer um sie herum, die allesamt durch die Stadt jagten, als gebe es kein Morgen. Sollten sie jemals heil ankommen, würde Valeria sich bestimmt nie wieder zu Alessandro ins Auto setzen. Erwartete er eigentlich, dass er sie »Vater« oder »Papa« nannte? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie ihn immer bei seinem Namen genannt. Fürs Erste vermied sie die direkte Anrede. Ohnehin redete die meiste Zeit er: von seinen Kindern, der sechsjährigen Chiara und dem dreijährigen Moreno, von Adriana, seiner Frau, und von seinem Job, irgendwas beim staatlichen Fernsehsender RAI. Valeria verstand nicht alles, verzichtete aber darauf nachzufragen. Sie wollte nicht dumm erscheinen und außerdem wünschte sie inständig, er würde die Hände am Steuer lassen, anstatt sie zum Reden zu benutzen. Lieber Gott, lass diese Höllenfahrt endlich vorbei sein.
Nun seien sie gleich da, verkündete Alessandro nach einer halben Stunde halsbrecherischer Raserei, die sie wie durch ein Wunder unbeschadet überstanden hatten. Sie fuhren durch einen Vorort mit Wohnblocks, Supermärkten, Parkplätzen und Lagerhallen. Valeria studierte die Leuchtschriften.
»Ich habe eine Bitte …«, begann Alessandro verlegen. »Chiara … Sie weiß nicht, dass du … also, sie hat bis gestern noch nichts von deiner Existenz gewusst. Ich glaube nicht, dass sie versteht …«
»Schon gut«, sagte Valeria. Damit wäre die Frage der Anrede also auch schon geklärt, dachte sie ein wenig eingeschnappt.
Sei nett, ermahnte sie sich an Rosas Stelle. Es ist nicht seine Schuld.
Sie hielten vor einem quadratischen Haus mit flachem Dach. Es stand in einer Reihe mit anderen, nahezu identischen Häusern entlang der Straße. Die Gebäude waren durch Garagen miteinander verbunden, sodass es aussah wie eine Kette aus großen und kleinen Würfeln. Auf der anderen Straßenseite bot sich ein ähnliches Bild.
Das also war Rom.
Alessandro stieg aus, nahm ihre Tasche, durchquerte mit drei Schritten den Vorgarten. Nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, rief er mit übertriebener Fröhlichkeit: »Amore, wir sind da!«
Amore war im Obergeschoss gewesen und kam nun die Stufen herab wie ein Filmstar eine Showtreppe.
»Das ist Adriana, meine Frau.«
Adriana. Stark geschminktes Spitzmausgesicht, perfekte Fingernägel, knallrotes Kleid. Eine Kaskade blondierten Haars floss ihr über die Schultern, an den Ohren baumelten Gehänge aus Metall, die an Fischköder erinnerten.
Alessandro drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Seine Haltung hatte plötzlich etwas Unterwürfiges.
»Du bist also Valeria«, sagte Adriana und die Winkel ihres pinkfarbenen Mundes zogen sich an unsichtbaren Schnüren nach oben, während der Rest des Gesichts von diesem Lächeln unberührt blieb. Ihre Augen, zwei harte schwarze Kiesel, taxierten Valeria wie ein streunendes Tier, das ihr Mann irgendwo aufgelesen und ins Haus geschleppt hatte.