Читать книгу Sonst brichst du dir das Herz - Susanne Mischke - Страница 8

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4.

Die Lärmschwaden des Tages hatten sich verzogen. Schatten krochen über den Rasen und die Konturen der Büsche lösten sich auf und nahmen andere Gestalten an. Das zarte Blau des Himmels verwandelte sich in einen purpurnen Sonnenuntergang.

Die Kinder und ihre Mütter waren längst vom Spielplatz verschwunden, Jogger und Hundebesitzer drehten ihre letzten Runden.

Eine Clique halbwüchsiger Jungs hockte auf den Bänken und Spielgeräten. Sie rauchten und steckten kichernd die Köpfe über ihren Handys zusammen. Kalt leuchtende Vierecke in der Dämmerung. Zwischendurch glotzten sie zu Valeria hinüber, die auf der anderen Seite des Spielplatzes saß, auf ihrer angestammten Bank unter der Platane. Sie sollte nach Hause gehen, ehe es dunkel wurde. Adriana und Alessandro hatten sie mehrmals davor gewarnt, sich bei Dunkelheit im Park aufzuhalten. Aber was hieß denn schon dunkel?

So nachtschwarz wie in den umbrischen Bergen wurde es in der Stadt sowieso nie. Und was bedeutete überhaupt nach Hause? Hier war nicht ihr Zuhause. Genau genommen hatte sie gar keines mehr.

Plötzlich war die Einsamkeit da, wie ein alter, ungebetener Freund. Sie hatte es neulich vor Adriana nicht zugeben wollen, aber es hatte Tage gegeben, da vermisste sie – ja, wen oder was eigentlich? Freunde. Irgendwelche Freunde, so wie diese Jungs da drüben Freunde hatten, mit denen man herumalbern konnte. Zwar kannte Valeria die wenigen Jugendlichen aus dem Dorf und diese kannten sie, weil sie einigen von ihnen Nachhilfe gegeben hatte. Aber Valeria war immer eine Außenseiterin gewesen. Das Mädchen vom Berg hatte nie richtig dazugehört.

Die Tatsache, dass Alessandro nicht ihr Vater war, hatte Valeria nicht allzu sehr schockiert. Ein Teil von ihr war sogar froh darüber gewesen, denn jetzt wusste sie wenigstens, dass sie ihrer inneren Stimme trauen konnte, die zu Alessandro stets hartnäckig geschwiegen hatte. Wirklich erschüttert hatte sie dagegen die Lüge ihrer Mutter. Wenn Rosa schon bei etwas so Wichtigem gelogen hatte, was durfte man ihr dann überhaupt noch glauben? Und wer war in Wirklichkeit ihr Vater, warum machte sie daraus ein Staatsgeheimnis? Valeria hätte gerne mit jemandem darüber geredet – ausgenommen Adriana oder Alessandro. Mit Mr Wilson vielleicht oder, noch besser, mit Mrs Wilson. Die hätte bestimmt einen guten Rat aus den Zeitschriften, die sie stapelweise las, für sie gehabt. Oder wenigstens ein paar tröstende Worte bei einer Tasse Tee. Ob sie die beiden wohl jemals wiedersehen würde?

Ein frischer Luftzug wehte über die Rasenfläche. Eigentlich angenehm nach der Hitze des Tages, dennoch zog Valeria ihre Strickjacke enger um den Körper. Die Jungs hatten angefangen zu tuscheln und schauten jetzt immer öfter zu ihr rüber. Zeit, den Rückweg anzutreten. Es war sowieso idiotisch, hier jeden Abend zu sitzen und auf dieses Mädchen zu warten, das Luisa so irritierend ähnlich sah. Seit drei Tagen machte sie das, sehr zum Ärger von Adriana, die die quengelnden Kinder wieder allein ins Bett bringen musste, und auch Alessandro hatte schon seine Besorgnis geäußert. »Es ist gefährlich für ein junges Mädchen, sich so spät noch im Park herumzutreiben.«

Nein, es machte keinen Sinn. Luisa konnte sich überall zeigen, wenn sie nur wollte, und zwischen ihrem letzten und dem vorletzten Besuch hatten immerhin ganze vier Jahre gelegen. Außerdem war dieses Mädchen, das Valeria gesehen hatte, gewiss nur irgendeine Studentin gewesen, die ihr zugewinkt hatte, weil auch sie die große Ähnlichkeit zwischen ihnen bemerkt hatte. Luisa! Was für ein Blödsinn!

Weiter kam sie nicht mit ihren Grübeleien, denn nun lösten sich drei der Jungs aus der Gruppe und schlenderten betont lässig über den Spielplatz und zu Valeria hinüber. Vorneweg ging ein kräftiger, sommersprossiger Teenager, vierzehn oder fünfzehn vielleicht, mit rötlichem Stoppelhaar und einem Kinn wie ein Nussknacker. Die Hände in die Seiten gestützt, baute er sich vor ihr auf. »He, du! Willst du ficken?«

Valeria starrte ihn fassungslos an, und während seine Eskorte in Gelächter ausbrach, wurde ihr bewusst, dass außer ihr und diesen Jungs kein Mensch mehr im Park war. Was jetzt, wie reagieren?

Noch während Valeria fieberhaft überlegte – antworten, und wenn ja, was, oder lieber rasch weglaufen? –, machte der Rothaarige Anstalten, sich neben sie auf die Bank zu setzen. Doch dazu kam es nicht. Ein pfeilförmiger Schatten stürzte vom Himmel herab. Der Rothaarige schrie gellend auf, sein Körper krümmte sich zusammen und er schlug die Hände vor sein Gesicht. Zwischen den Fingern quoll Blut hervor. Noch ein Schrei ertönte, doch der kam dieses Mal aus der Luft: ein lang gezogener Laut, der Valeria sehr vertraut war. Deutlich erkannte sie den Umriss des Falken vor dem rötlichen Stadthimmel. Der Raubvogel schien Spaß an der Sache zu haben, er flog noch einen weiteren Angriff, der sein Opfer ein paar Haarbüschel kostete, ehe er im Schatten einer Baumkrone verschwand und unsichtbar wurde. War das möglich? Nein, das war bestimmt nur ein Falke gewesen, nicht ihr Falke. Und doch hatte er sie verteidigt. Wie ein Freund.

»Scheißvogel, ich blute wie ein Schwein«, brüllte der Verletzte. Er hatte den Rückzug angetreten, gefolgt von seinen Kumpels, die um ihn herumhüpften und mit angewinkelten Armen flatterten. Dazu gackerten sie und grölten vor Lachen, genau wie die drei, die auf der Bank geblieben waren. Ganz klar: Ihr Kumpel war ein Verlierer, ein Schwächling, er verdiente kein Mitleid und keinen Respekt mehr.

Zeit zu gehen. Valeria stand auf und im selben Augenblick sah sie Luisa. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie an der Wegbiegung, genau an der Stelle, an der Valeria sie vor ein paar Tagen aus den Augen verloren hatte. Sie trug ein weißes Kleid, das gegen das Dunkel des Parks anleuchtete.

Valeria eilte auf sie zu. »Warte!«

Aber schon hatte die Gestalt sich wieder umgedreht und folgte dem Weg, der zum Seitenausgang des Parks führte. Ihre Schritte wirkten leicht, fast schwebend, und Valeria hatte Mühe, ihr zu folgen. Sie sah sie durch das offene Tor gehen und nach links abbiegen. Valeria war das letzte Wegstück gerannt, erreichte das Tor und schaute sich um. Niemand war zu sehen. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Warum hielt dieses Mädchen sie dermaßen zum Narren? Das ganze Elend der letzten Tage und Wochen, bisher mühsam unterdrückt, schien sich nun Bahn zu brechen, Tränen schossen ihr in die Augen. Dann stutzte sie.

Am Straßenrand parkte ein Auto und auf dem Rücksitz saß sie. Ihr Kleid leuchtete wie eine Schneewehe durch Valerias Tränenschleier. Diese wischte sich hastig über die Augen, jeden Moment darauf gefasst, dass die Tür geschlossen und der Wagen losfahren würde. Aber nichts geschah. Wartete das Mädchen auf sie?

Ihr Körper handelte nun von alleine, ging auf den Wagen zu, wie von einem Magneten gezogen. Jetzt waren es nur noch wenige Meter. Man steigt nicht in fremde Autos, flüsterte eine Stimme, irgendwo in ihrem Hinterkopf. Noch dazu ähnelte dieser Wagen jenem, in dem der Mann gekommen war, den Rosa erschossen hatte.

Schwarze Wagen bringen nur Unglück, Finger weg von schwarzen Wagen!

Aber die Tatsache, dass dieses fremde und doch so vertraute Mädchen darin saß, brachte Valerias Warnsystem durcheinander. Im Gegenteil, sie war erfüllt von der Gewissheit, eine andere Welt zu betreten, wenn sie in dieses Auto stieg. Sie konnte es nicht anders benennen und sie hätte es auch nicht erklären können. Sie spürte nur, dass sie gerade dabei war, die wichtigste Entscheidung ihres Lebens zu treffen. Also stieg sie ein und setzte sich neben das Mädchen im weißen Kleid. So nah war sie ihr jetzt, dass sie ihren Duft wahrnehmen konnte. Er war seltsam vertraut. Woher kannte sie diesen Duft nur? Von Rosa. Rosas Seife, die die verrückte Ersilia ihr immer mitbrachte, roch genauso, nach Orangen und Bergamotte. Noch während Valeria über diesen seltsamen Umstand nachdachte, sagte das Mädchen: »Da bist du ja. Wurde auch Zeit.« Sie streckte sich nach vorn und sagte, an den Fahrer gewandt: »Was ist, Claudio, wollen wir hier Wurzeln schlagen?« Ihre Stimme war leise und recht hell, jedoch unterlegt mit einem rauchigen Ton.

Der Angesprochene stieg aus, schloss die Tür auf Valerias Seite, die diese vor lauter Faszination zu schließen vergessen hatte, und setzte sich wieder ans Steuer. Wortlos ließ er den Motor an und fuhr los.

»Ich bin Lucia.«

Lucia. Valeria versuchte vergeblich, sich zu erinnern, wie ihre Schattenschwester zu ihrem Namen gekommen war. Der Name Luisa war einfach da gewesen, so wie Luisa selbst irgendwann einfach da gewesen war. Luisa – Lucia. Wie ähnlich das klang!

Im Halbdunkel des Wagens betrachtete Valeria ihr Gegenüber. Es war, als würde sie sich selbst ansehen in einem Spiegel, dessen Bild ihr nicht gehorchte. Dennoch war Lucia anders als Luisa. Was ja auch gar nicht anders sein konnte. Ihre Schattenschwester Luisa war schließlich nur ein Traumgespinst, ein Geschöpf ihrer Fantasie. Luisa war sozusagen Valerias dunkle Seite, ein Wesen, das stets ausgesprochen hatte, was Valeria kaum zu denken gewagt hatte. Hier dagegen, leibhaftig und lebendig, saß … ihre Doppelgängerin. Ja, so nannte man das wohl. Ein Mädchen aus Fleisch und Blut, das ihr verdammt ähnlich sah. Dennoch hätte Valeria sie am liebsten kurz angefasst, nur um ganz sicher zu sein, dass diese Lucia auch tatsächlich kein Geist war. Man kann ja nie wissen … Stattdessen zwickte sie sich selbst verstohlen in den Arm. Nein, kein Traum.

»Ich bin Valeria.«

Lucia lächelte und Valeria kam es so vor, als hätte Lucia ihren Namen schon gekannt.

Danach sagte keiner mehr etwas, schon gar nicht Valeria, die trotz ihrer Gewissheit, nicht zu träumen, befürchtete, ein einziges falsches Wort könnte den Zauber zerstören und sie würde sich in der nächsten Sekunde wieder in Alessandros Gästezimmerschlauch wiederfinden. So schwiegen alle drei, während sie durch das chaotische Gewirr der Stadt glitten, vorbei am Menschengewimmel auf den Gehwegen und den beleuchteten Fassaden imposanter Gebäude. Die Straßen von Rom, vor denen Valeria sich anfangs so gefürchtet hatte, waren jetzt glitzernde Schnüre, die Hupen und die Polizeisirenen bildeten die Tonspur der pulsierenden Stadt. Etwas sagte Valeria, dass sie gerade die Schwelle zu etwas Großem, Abenteuerlichem überschritten hatte. Sie genoss die Fahrt, obwohl sie sehr gespannt war, wann und wo sie enden würde. Bisweilen fiel ihr Blick auf Claudios konzentriertes Gesicht im Rückspiegel. Markante, männliche Züge, edle Nase, dunkle, schräg geschnittene Augen, die sie für Sekundenbruchteile aufmerksam musterten. Einer dieser eleganten jungen Römer, die Valeria schon häufiger aufgefallen waren.

Sie kamen jetzt schneller voran, es musste eine der mehrspurigen Ringstraßen sein. Valeria hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie fuhren. Ihr Orientierungssinn, der draußen in der Natur hervorragend funktionierte, versagte in der Stadt umso kläglicher. Irgendwann bog Claudio ab, die Reifen rumpelten über Kopfsteinpflaster und schließlich hielt der Wagen vor einem beleuchteten Tor, das in eine hohe Mauer eingelassen war. Claudio drückte auf eine Fernbedienung und die schmiedeeisernen, mit Ornamenten verzierten Flügel glitten lautlos auseinander und wieder zusammen, nachdem der Wagen durchgefahren war. Sie folgten einem gekiesten Weg, der von kleinen Lämpchen markiert wurde. Düstere Zypressen standen Spalier wie Soldaten, Pinien reckten ihre schwarzen Äste in den glimmenden Nachthimmel.

Die Fahrt endete vor einem säulenbewehrten Palazzo. Erker, Vorsprünge, Nischen und Veranden verliehen dem Bau eine verspielte und zugleich pompöse Note. Einzig im Erdgeschoss waren die bogenförmigen Fenster erleuchtet. Für Valeria war es ein atemberaubend schöner Anblick.

Sie stiegen aus und sofort umfing Valeria eine angenehme Frische, ganz anders als in der Stadt, die ihr wie ein großer, schmutziger Backofen vorgekommen war. Es roch nach frisch gemähtem Gras, scharfer Minze und süßem Geißblatt. Eine fächerförmige Treppe führte auf ein breites Portal mit facettierten Glasscheiben zu. Darüber verströmte eine Laterne ein gelbliches Licht, umschwirrt von blass schimmernden Motten.

»Willkommen in der Villa Aurelia!« Lucia griff nach Valerias Hand und zog sie die Stufen hinauf.

Jemand musste ihre Ankunft bemerkt haben, denn die Tür wurde von innen geöffnet und sie betraten die Eingangshalle. Erneut hielt Valeria überwältigt den Atem an. Eine Treppe schwang sich in sanftem Bogen empor, an den Wänden prangten die goldgerahmten Porträts verhalten lächelnder Damen und streng blickender Herren aus vergangenen Epochen. Vor Staunen hätte Valeria beinahe die Person übersehen, die ihnen die Tür aufgemacht hatte und nun flüsterte: »Du lieber Himmel, was ist das denn?«

Ganz genau das hatte Valeria sich auch gerade gedacht. Das junge Mädchen schien einem der Porträts an den Wänden entstiegen zu sein. Der schwere Satin ihres langen, taillierten Kleides changierte je nach Lichteinfall zwischen Violett und Dunkelrot. Es war tief ausgeschnitten. Ein schwarzes Samtband schmiegte sich an ihren Hals, daran hing ein Kreuz aus Messing. Schwierig zu sagen, wie alt sie war, sie konnte achtzehn sein – oder achtundzwanzig. Das dichte schwarze Haar war mit einem eleganten Schwung aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Zopf geflochten, der sich ihr Rückgrat hinabwand. Ihr Teint hatte die Farbe unreifer Oliven und die kräftigen Augenbrauen verliehen dem Gesicht eine gewisse Düsterkeit. War sie das andere Mädchen aus dem Park? Valeria war nicht sicher, zu eigenartig war deren Aufmachung und im Park hatte Valeria fast nur auf Lucia geachtet.

Die runzelte jetzt verärgert die Stirn und sagte streng: »Sie heißt Valeria, wir haben sie schon im Park gesehen. Valeria, das ist meine Cousine Fabiana. Ihre Familie stammt aus Palermo, dort haben sie anscheinend keine Manieren.«

»Danke. Danke vielmals«, zischte Fabiana ihrer Cousine böse zu. Etwas gemäßigter sagte sie: »Guten Abend, Valeria. Entschuldige. Es ist nur …«

Weiter kam sie nicht, denn jetzt schlitterte ein junger Mann wie auf einer Eisbahn über das matt glänzende Marmormosaik quer durch die Halle. Vor Lucia und Valeria blieb er stehen, strich sich eine Locke aus der Stirn und starrte Valeria an, als hätte er eine Marienerscheinung.

»Heilige Scheiße!«

Lucia verdrehte die Augen mit der Miene einer resignierten Lehrerin, deren Schüler wieder einmal alles vergessen hatten, was man ihnen beigebracht hatte. »Valeria – Matteo«, erklärte sie und murmelte etwas von einem ungehobelten Büffel.

Das ließ Matteo nicht auf sich sitzen. Er grinste, ergriff Valerias Hand und hauchte die Andeutung eines Kusses auf deren Handrücken.

Noch während Valeria knallrot anlief, kam Claudio herein und fragte: »Ist noch was zum Essen da?«

Das bauchige Weinglas in der Hand versank Valeria in einer Lawine bunter Seidenkissen. War die Küche, in der sie aufgewärmte Spinatravioli mit Käsesoße und zum Nachtisch Zabaione gegessen hatten, eher nüchtern und praktisch eingerichtet gewesen, so vermittelte der »Salon« den Eindruck leicht angestaubter Grandezza. Hinter dem riesigen Kanapee mit der kühn geschwungenen Lehne hing ein Trumm von einem Ölschinken: die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Der schwere Lüster, dessen Kristalle mit Spinnweben verhangen waren, zauberte regenbogenfarbige Prismen an die Wände, von denen an manchen Stellen der Putz abblätterte. Auch am Stuck hatte der Zahn der Zeit genagt und einige Fußbodenplatten waren gesprungen. Als Valerias Blick schließlich zur Decke schweifte, tauchte sie mitten hinein in eine Höllenvision: nackte Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern wurden von Wesen mit teuflischen Fratzen grausigen Torturen unterworfen. Dazwischen tummelten sich dämonische Gestalten, die sich mit höhnischen Gesichtern über die Qualen der Gefolterten amüsierten. Im Zentrum des Gemäldes stand eine dürre dunkle Gestalt mit einer Schnabelmaske und einem Stock in der Hand. Valeria schauderte.

»Ist dir kalt?«, fragte Matteo aufmerksam.

Valeria verneinte. Nein, es war nicht kalt, zumal im offenen Kamin ein Feuer züngelte. Er war riesig und aus Marmor, mit einer klassizistisch anmutenden Einfassung und einem breiten Sims, der von zwei grimmig blickenden Löwenhäuptern getragen wurde.

Bisweilen ertappte Valeria Claudio, Matteo und Fabiana dabei, wie deren Blicke prüfend zwischen Valeria und Lucia hin- und herwanderten. Kein Wunder, die Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden war verblüffend: die katzenhafte Form der Augen, die hohen Wangenknochen, die gerade Nase mit den filigranen Flügeln, die herzförmige Oberlippe. Es gab jedoch, bei genauerem Hinsehen, auch Unterschiede. Lucias Brauen waren schmaler und beschrieben einen eleganten Bogen, während Valerias fast gerade waren. Valerias Haar hatte die Farbe dunkler Schokolade und war lockig und schulterlang, Lucias Haar war glatt, kinnlang und hatte einen walnussbraunen, warm schimmernden Ton. Außerdem war Lucia ziemlich dünn, was ihre Gesichtszüge schärfer hervortreten ließ. Valeria dagegen hatte in den letzten Wochen fast nur Fertiggerichte zu sich genommen. Dies – und der Mangel an körperlicher Arbeit und Bewegung – war nicht ohne Folgen geblieben: Ihre Jeans zwickte und sie kam sich neben Lucia fett und plump vor. Dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, dass Lucias Bewegungen ausgesprochen lebhaft und quirlig waren. Selbst wenn sie ruhig dasaß, vermittelte sie den Eindruck, als würde sie jeden Moment aufspringen. Beim Sprechen schaute Lucia ihrem Gegenüber so intensiv in die Augen, dass man ihrem Blick irgendwann unwillkürlich auswich. Passte ihr etwas nicht, neigte sie den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, während Valeria in solchen Situationen, genau wie Rosa, die Lippen zu einem Strich zusammenpresste. Lucias Akzent ließ vermuten, dass sie im Süden aufgewachsen war. Sie drückte sich präzise und gewählt aus und sehr oft schwang ein Hauch von Ironie in ihrem Tonfall mit, der blitzschnell in beißenden Sarkasmus umschlagen konnte.

Und wie schlagfertig sie war!

Nicht nur Lucia, auch die anderen.

Fabiana: »Claudio, wenn du nicht aufhörst, deine Zähne zu bleachen, müssen wir bald alle Sonnenbrillen tragen.«

Claudio: »Du bist nur neidisch, weil du deine Augenringe nicht bleichen kannst.«

Den Wortgefechten der vier konnte Valeria nur staunend zuhören. Argumente flogen hin und her wie Tischtennisbälle, sie benutzten Begriffe, die wie Codes einer Geheimsprache klangen, und manchmal brachen sie in Gelächter aus, ohne dass Valeria auch nur ansatzweise verstand, worum es ging. Lucias Lachen wirkte dabei immer ein wenig kontrolliert, so als würde sie das letzte Quäntchen davon zurückhalten.

Nur zu gern hätte Valeria Lucia und ihren Freunden eine Menge Fragen gestellt; wer wie alt war, was sie machten ... Und natürlich die wichtigste Frage: Warum Lucia in den Park gekommen war und sie, Valeria, hierher mitgenommen hatte. Aber dann würden Gegenfragen gestellt werden und Valeria hatte keine Lust, als naives Landei enttarnt zu werden. Sie wollte weder von Alessandro erzählen noch von ihrem Zuhause. Und am allerwenigsten von ihrer Mutter. Denn diese Wahrheit, die ganze Wahrheit, war ja ohnehin tabu. Sie würde erst einmal abwarten. Vielleicht ergab sich die Gelegenheit ja später noch.

Im Lauf des Abends fand Valeria immerhin heraus, dass Lucia bis vor Kurzem ein Internat in Schweden besucht hatte. Jetzt nahm sie an einigen Sommerkursen an der Uni teil und im Oktober wollte sie ein Studium der skandinavischen Literatur beginnen. Sie schien die Jüngste in der Runde zu sein, dennoch kam es Valeria so vor, als hätte Lucia hier das Sagen. Besonders Matteo und Claudio begegneten Lucia mit deutlich mehr Respekt als sie ihnen.

Irgendwann aber war es dann doch so weit: Claudio wandte sich an Valeria und stellte fest: »Du kommst nicht aus Rom, oder?«

»Umbrien«, antwortete Valeria. »Kennst du Umbrien?«

»Nein«, antwortete Claudio, der Valerias Versuch, ihn mit einer Gegenfrage abzulenken, durchschaut hatte. »Und was machst du hier?«

»Ich bin zu Besuch bei Freunden meiner Mutter. So eine Art Bildungsurlaub. Meine Mutter ist Malerin.« Wieso hatte sie das gesagt? Weil Malerin interessant klang?

»Werden diese Leute sich keine Sorgen machen, wo du bist?«, mischte sich Lucia ein.

Daran hatte Valeria auch schon gedacht. »Ja, schon möglich. Ich sollte jetzt vielleicht ...« Sie blickte ratlos von Lucia zu Claudio.

»Ich kann nicht mehr fahren«, verkündete Claudio, der quer in einem der ausladenden Sessel hing und träge seine Beine über die Armlehne baumeln ließ. Er hatte ein fast leeres Glas Rotwein in der Hand und es war nicht sein erstes.

»Schick denen doch eine SMS, dass du bei Freunden übernachtest«, schlug Lucia vor.

Bei Freunden. Valerias Herz machte einen kleinen Salto angesichts der Aussicht, noch länger in Lucias Nähe bleiben zu können. Sie fühlte sich ihr auf eine eigenartige Weise verbunden. Es war, als hätte ihre Schattenschwester plötzlich Gestalt angenommen. Was war denn auch schon dabei, wenn sie blieb? Schließlich war Alessandro, wie sich herausgestellt hatte, nicht ihr Vater, sondern nur Rosas Exfreund, den sie obendrein dafür bezahlt hatte, dass er Valeria bei sich aufnahm. Somit waren er und Adriana genau genommen Leute, die ihr nichts vorzuschreiben hatten. Und sollten sie Rosa davon erzählen, war Valeria das auch egal. Einer Mutter, die ihre Tochter von vorn bis hinten belog und sie ohne ihr Einverständnis von einem Tag auf den anderen zu ihrem Exliebhaber in eine fremde Stadt schickte, so einer Mutter schuldete man keinen Gehorsam. Zu diesem Schluss kam Valeria binnen weniger Sekunden. Möglicherweise hatten auch die zwei Gläser Wein, die sie schon getrunken hatte, ihren Anteil daran.

Und Matteo, dessen Blick sie jetzt auffing.

»Ich habe mein Handy nicht dabei«, gestand sie, nachdem sie ihre kleine Tasche zwischen den Kissen hervorgekramt und hineingesehen hatte.

Lucia runzelte die Stirn. »Na großartig!«

»Aber ich weiß die Nummer auswendig.« Zahlen hatte sich Valeria schon immer gut merken können und für Notfälle hatte sie sich Alessandros Mobilnummer fest eingeprägt.

»Fein«, strahlte Lucia und Valeria registrierte dabei, wie rasch ihre Stimmung umschlagen konnte. Lucia streckte die Hand in Claudios Richtung und schnippte mit den Fingern. Der hob seinen wohlgeformten Hintern an und zog sein Telefon aus der Hosentasche.

»Mach du das«, bat Valeria, die befürchtete, das Smartphone nicht bedienen zu können. »Schreib, dass ich morgen wiederkomme und sie sich keine Sorgen machen müssen.«

Nachdem Lucia die Nachricht getippt und weggeschickt hatte, sagte sie: »Du kannst von mir aus hier schlafen.«

»Ja, unter dem wunderbaren Bild«, setzte Fabiana mit einem teuflischen Lächeln hinzu. Sie kauerte in den Tiefen ihres Sessels wie ein dunkler Gnom.

Unwillkürlich sandte Valeria einen Blick zur Decke. Die Nacht unter diesem apokalyptischen Gemälde verbringen? Kein schöner Gedanke, aber im Dunkeln würde sie es ja nicht sehen.

»Oder penn in meinem Zimmer, das Bett ist breit«, schlug Claudio vor.

Valeria bemerkte, wie Matteo ihr ganz leicht zuzwinkerte. Sie lächelte. Dass die anderen sie aufzogen, gab ihr das Gefühl dazuzugehören. Bei Freunden. Und Matteo schien sich insgeheim auf ihre Seite geschlagen zu haben. Seine beinahe schwarzen Augen waren wie Samt und hatten etwas Sanftes, genau wie seine Stimme. Er war kleiner als Claudio und einer seiner Vorderzähne stand ein wenig schief. Offenbar war er bemüht, diesen kleinen Makel zu verstecken, wodurch sein Lächeln ein wenig verkrampft wirkte. Valeria fand das rührend. Und seine schwarzen Locken, die ihm immer wieder in die Stirn fielen, hätte sie sich am liebsten um die Finger gewickelt.

»Danke Claudio, ich weiß dein Angebot zu schätzen, aber ich bevorzuge die Höllenvision«, antwortete Valeria und erntete prompt lautes Gelächter.

»Gebt ihr nichts mehr zu trinken, sie wird frech«, meinte Claudio und entblößte sein tadelloses Gebiss zu einem matten Grinsen.

»Ist der mit dem Schnabel der Tod?«, fragte Valeria, nach oben deutend.

»Fabiana, dein Stichwort.« Lucia deutete mit einer burlesken Handbewegung auf ihre Cousine.

Völlig unerwartet wurde deren Miene auf einmal hell und lebhaft. »Das ist ein Pestarzt«, sagte sie. »Man muss nämlich wissen, dass am 24. Dezember 1449 ein sogenanntes Jubeljahr anbrach, das Papst Nicolaus V. ausgerufen hatte. Um dies zu feiern, fielen Pilger aus der ganzen christlichen Welt in die Stadt ein. Der Andrang muss gewaltig gewesen sein, ein Riesengeschäft für die Wirte und die Händler, genau wie heute. Aber mit den Menschenmassen kam die Pest zurück. Die wütete damals ja immer wieder einmal in irgendeinem Landstrich und hatte hundert Jahre zuvor die Bevölkerung von Florenz nahezu ausgelöscht. Deswegen ließen sich einige römische Adelsfamilien später rechtzeitig einen Palazzo außerhalb des Zentrums bauen, als vermeintlich sicheren Rückzugsort. Und was lag näher als die Albaner Berge bei Frascati, zwanzig Kilometer südlich der Kernstadt, wo es im Sommer kühl und frisch ist und wo schon Cäsar und Brutus ihre Villen gehabt hatten? So entstand auch diese schlichte Behausung. Das Bild da oben wurde allerdings etwa zweihundert Jahre später gemalt. Vielleicht zur Mahnung an die düsteren Zeiten. Oder weil die Bewohner einen makabren Geschmack hatten.«

»Da hast du es«, sagte Lucia. »Fabiana studiert Kunst und speziell Kirchenmalerei. Sie kennt sich aus mit Höllenvisionen.«

»Waren sie hier denn sicher vor der Pest?«, wollte Valeria wissen.

Fabiana schüttelte lächelnd den Kopf, wobei das Kreuz an ihrem Hals aufblitzte. »Nein. Zumindest nicht alle. Zumindest gibt es im Garten ein paar Gräber aus der Zeit der Pest.«

»Was, echt jetzt?«, fragte Lucia.

»Klar. Frag den Drachen, der kann sie dir zeigen«, bestätigte Fabiana.

»Hört auf, das ist gruselig«, forderte Matteo.

»Apropos düstere Zeiten …« Claudio hielt sein leeres Glas in die Höhe. »Ich hab nichts mehr zu trinken.«

»Dann geh und hol dir was, du fauler Sack«, fuhr ihn Fabiana an.

»Ich würde ja, aber ich komme nicht mehr aus diesem Ungetüm raus«, behauptete Claudio.

»Wie ein alter Mann«, lästerte Matteo.

»Lass nur, ich gehe.« Lucia stand auf.

Es war das erste Mal, dass sie einen Finger rührte. Das Essen hatte Matteo zubereitet, während Claudio in der Küche den Tisch gedeckt hatte. Später hatte Fabiana das Geschirr abgeräumt und in die Spülmaschine geräumt und Valeria war als Einzige aufgestanden, um ihr zu helfen. Auf die Frage, ob sie zusammen die Töpfe abwaschen sollten, hatte Fabiana geantwortet, das sei nicht nötig, das würde der Drache morgen erledigen. Wer immer das sein mochte, Valeria hatte nicht nachgefragt.

»Brauchst du Hilfe?«, rief Matteo über die Schulter, wobei zu bezweifeln war, ob Lucia ihn hören konnte, denn die Küche war ganz schön weit weg. Valeria konnte sich nicht erinnern, jemals in einem so großen Haus gewesen zu sein, abgesehen von ein paar Museen.

»Garantiert kriegt sie die Flasche nicht auf«, seufzte Matteo.

»Typisch Mädchen«, grinste Claudio und verbrezelte seine Hände in einer unbeholfenen Drehbewegung.

Fabiana verdrehte die Augen und murmelte etwas von Machos.

»Wer kriegt was nicht auf?« Lucia kam mit der entkorkten Flasche zurück und verteilte Kopfnüsse an Matteo und Claudio, ehe sie Letzterem Wein nachschenkte. »Hier, du Schluckspecht.« Dann gab sie die Flasche an Matteo weiter.

Als der Valerias Glas erneut füllte, trafen sich ihre Blicke. Sie prosteten sich zu. Noch nie hatte Valeria sich so lebendig gefühlt wie gerade jetzt. Ihr war, als wäre ihr ganzer Körper von etwas Leuchtendem erfüllt, gleichzeitig empfand sie eine überschwängliche Leichtigkeit.

So wie jetzt, dachte sie, müsste das Leben immer sein. Doch ehe sie wie ein Luftballon davonschweben konnte, wandte Matteo den Blick von ihr ab und schaute mit einem Blick, den sie nur schwer zu deuten wusste, hinüber zu Lucia.

Sonst brichst du dir das Herz

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