Читать книгу Elfenzeit 7: Sinenomen - Claudia Kern, Susanne Picard - Страница 12

4.
Wahrheit oder Pflicht

Оглавление

Sie schliefen nicht. Nadja döste ein wenig und wiegte dabei Talamh, Robert lag auf seinem Feldbett, die Arme unter dem Kopf verschränkt und lauschte Annes Atemzügen. Einige Male, als er hörte, wie Nadja sich aufsetzte und ihren Sohn fütterte, war er kurz davor, ihr zu sagen, was mit ihm geschehen war, aber er fand immer einen Grund, es doch nicht zu tun.

Irgendwann wurde es lauter im Dorf. Die Feuer, die über Nacht niedergebrannt waren, wurden wieder entzündet, Elfen bereiteten das Frühstück vor oder trugen volle Wassereimer von einer unterirdischen Quelle zu den Trögen, in denen sich andere wuschen. Robert konnte sie durch das Fenster beobachten.

Er sah auf seine Armbanduhr. Es war elf Uhr, aber auf dem analogen Zifferblatt ließ sich nicht erkennen, ob abends oder morgens gemeint war. In den Höhlen verlor man jegliches Zeitgefühl.

Er schlug die Wolldecke zurück, setzte sich auf und fuhr sich zweimal mit der Hand durch die Haare. Dann strich er sie glatt.

Nadja grinste ihn an. »Katzenwäsche?«

Er grinste zurück. »Besser als mit den Elfen am Trog stehen.«

Neben ihm setzte sich Anne auf. Der Feuerschein, der durch das Fenster fiel, tauchte ihr Gesicht in ein weiches, klares Licht. Ihre Schönheit traf ihn so unvorbereitet, dass er einen Moment nur da saß und sie anstarrte. Sie schien seine Blicke nicht zu bemerken, vielleicht tat sie aber auch nur so. Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich. Das lange Haar fiel ihr über die Schultern.

Erst das Öffnen der Tür riss Robert aus seinen Gedanken. Ein Elf, den er bisher nicht gesehen hatte, stand im Türrahmen. Er hatte lange spitze Ohren und einen Schnabel anstelle eines Mundes.

»Catan wünscht euch zu sprechen«, sagte er klappernd. Dann drehte er sich um und verschwand. Die Tür ließ er offen.

Nadja nahm Talamh aus der Wiege. Sie hatte ihn in eine frische Decke gewickelt.

»Sobald ich die Möglichkeit zur Flucht sehe, werde ich sie ergreifen«, sagte sie. »Ich habe mir den Weg, den wir gekommen sind, eingeprägt.«

Robert nickte und stand auf. »Ich bin dabei.«

Zu seiner Überraschung nickte Anne ebenfalls.

Catan saß an der gleichen Feuerstelle wie am Vorabend. Neben ihm lagen ein Stapel Brennholz und einige kleine Zweige. Er schichtete die Zweige in der Glut auf und pustete hinein, bis erste Flammen am Holz leckten. Als Roberts Schatten über ihn fiel, stand er auf.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte er. Sein Blick fiel auf Talamh, der in Nadjas Armen lag und aus großen Augen die Umgebung betrachtete. »Kommt.«

Er führte sie von den Feuern weg zum Rand des Dorfs. Robert sah einen Tunnel zwischen aufeinander gestapelten Kisten und Holzabfällen. Zwei Elfen folgten ihnen in einigem Abstand und blieben erst stehen, als Catan sie mit einer Geste dazu aufforderte. Sie waren außer Hörweite, beobachteten jedoch alles. Der Laubelf war einer von ihnen, der andere hatte eine schuppige, graue Haut und ging gekrümmt.

Catan verschränkte die Arme vor der Brust. Er war komplett in dunkles Leder gekleidet. Es knarrte bei jeder Bewegung.

»Ich habe einiges über den Elfenkanal erfahren«, sagte er. »Bandorchu hat die Ereignisse auf Island überlebt.«

Anne verzog keine Miene.

»Sie erholt sich in ihrem neuen Schloss in Tara«, fuhr Catan fort. »Fanmór hat ebenfalls überlebt und sich in sein Reich zurückgezogen.«

»Was ist mit dem Getreuen?«, fragte Anne.

»Ich weiß nichts über ihn.«

»Und was ist mit meinen Eltern, und David und Rian?« Nadjas Stimme zitterte.

»Ich habe nicht nach ihnen gefragt. Sie haben keine Bedeutung für mich.« Catans Stimme klang plötzlich kalt und fremd. Jegliche Wärme war daraus verschwunden. »Andere Dinge sind wichtiger, so zum Beispiel, dass Bandorchu ein erhebliches Kopfgeld auf dich ausgesetzt hat.«

»Kopfgeld?« Nadja zuckte zusammen und wich zurück, bis sie gegen einen Kistenstapel stieß.

Catan lächelte. »Ihr Angebot ist wirklich verlockend. Wie du siehst, leben wir hier unten nicht gerade wie Könige. Mit dem Geld könnte ich meiner Sippe vieles ermöglichen.«

Er sah Anne an. »Es ist soviel, dass man es sogar teilen könnte, sollte sich die Gelegenheit ergeben. Ich bin in der Anderswelt nicht mehr willkommen. Wenn ich sie ausliefern wollte, bräuchte ich eine Fürsprecherin, die mir den Weg zu Bandorchu ebnet. Wir gehören zum gleichen Stamm, Anne. Daher halte ich es für angemessen, wenn du mich in dieser Angelegenheit unterstützen würdest.«

Robert traute seinen Augen nicht, als Anne langsam den Kopf neigte. Fassungslos ergriff er ihren Arm, so als könne er mit der Geste ihre Gedanken unterbrechen.

»Du denkst doch nicht etwa ernsthaft darüber nach?«

»Natürlich tu ich das«, entgegnete sie. »Wenn das, was er sagt, der Wahrheit entspricht, dann wäre das Angebot sehr vorteilhaft für ihn. Und es wäre meine Pflicht, ihn zu unterstützen.«

»Wir reden hier über Nadja!« Robert wollte sie schütteln, wollte das Eis aus ihren Gedanken schlagen und die Kälte aus ihrer Stimme. Ein Teil von ihm fragte sich, wie es möglich war, dass er eine Frau liebte, die zu so etwas fähig war.

»Ich bin mir bewusst, über wen wir reden.« Anne löste sich aus seinem Griff. »Aber dir scheint nicht bewusst zu sein, mit wem du redest. Ich bin eine Dämonin, Robert. Nicht Gefühle beherrschen uns oder Elfen, sondern die Gesetze unserer Welten.«

»Aber du fühlst etwas.« Am Rande nahm Robert wahr, dass Nadja sich Stück für Stück näher an den Tunnel heranschob. Catan war abgelenkt, auch die anderen beiden Elfen achteten nur auf die Auseinandersetzung vor ihren Augen. Robert wusste, was er zu tun hatte.

»Du fühlst etwas«, wiederholte er. »Du hast Dinge für mich getan, die riskant waren und dir keinen Vorteil verschafft haben.«

»Ich hatte meine Gründe.«

»Deine Gründe waren Gefühle, verdammt noch mal!« Robert versuchte nicht zu Nadja zu blicken, um sie nicht zu verraten. »Stell dir vor, Bandorchu hätte auf mich ein Kopfgeld ausgesetzt. Würdest du mich ausliefern? Sieh mir in die Augen und sag mir, dass du das tun würdest. Dann glaube ich dir, dass du nichts fühlst und dass alles, was uns verbindet, nur in meiner Phantasie existiert.«

Anne richtete ihren Blick auf die Wand. In ihren Augen lag ein seltsamer Ausdruck, den er nicht deuten konnte.

Catan seufzte. »Ich würde das gern abkürzen.« Seine Stimme wurde lauter. »Brandubh, Naoghas, nehmt die Menschen gefangen. Tut dem Kind nichts!«

Er drehte den Kopf, doch der Platz, an dem Nadja eben noch gestanden hatte, war leer. Fluchend fuhr er herum, sah sie fast am Eingang des Tunnels stehen.

»Lauf!«, schrie Robert. Er warf sich Catan entgegen. Der Elf wich ihm aus und riss das Knie hoch. Robert glaubte den Schmerz schon zu spüren, doch seine Fäuste schossen vor, so schnell wie seine Gedanken, und hämmerten den Tritt nieder.

Catan stolperte und verzog das Gesicht.

»Brandubh!«, rief er.

Ein Ast schoss an Robert vorbei, wickelte sich um Nadjas Hüften und zog sie zurück in die Höhle. Sie reagierte, legte Talamh auf eine der Kisten und schlug wild auf das Holz ein. Brandubh stemmte sich gegen sie. Der Ast war aus seinem rechten Arm gewachsen. Nun hob er die linke Hand. Eine Liane entrollte sich wie eine Peitsche aus seiner Handfläche.

Robert stieß sich ab. Aus dem Stand überwand er die mehr als drei Meter und prallte mit voller Wucht gegen den Elfen. Der Schwung warf sie beide zu Boden. Nadja schrie auf, als sie gegen einen Kistenstapel geworfen wurde. Sperrholz krachte, Obst zerplatzte. Es roch plötzlich nach Orangen.

Die Peitsche in Brandubhs Hand zuckte auf Robert zu. Kein Mensch hätte den Schlag abfangen können, doch er griff in genau dem richtigen Sekundenbruchteil zu. Die Liane wickelte sich um seinem Arm. Mit einem Ruck riss er sie in der Mitte durch. Grüner Pflanzensaft spritzte über seine Brust. Brandubh begann zu schreien.

Robert rammte ihm den Ellenbogen in den Magen. Etwas knackte laut. Die Schreie verstummten.

Er kam auf die Beine und drehte sich um. Naoghas, der Elf mit der Reptilienhaut, ging auf Nadja zu, die verzweifelt versuchte, sich von dem Ast zu befreien. Catan stand etwas abseits, Anne ebenfalls. Sie wirkte unsicher, so als wüsste sie nicht, auf welcher Seite sie eingreifen sollte.

»Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Catan in diesem Moment.

Robert kümmerte sich nicht um ihn. Er musste Nadja helfen. Ein weiteres Mal stieß er sich ab. Seine Muskeln gehorchten jedem seiner Befehle. Seine Fäuste bewegten sich so schnell wie die Gedanken, die sie antrieben. Er fühlte sich unverwundbar, stark und mächtig. Er fühlte sich frei.

Doch dann sah er Nadjas Blick. Sie starrte nicht den Elfen an, der zischelnd und lauernd wie eine Schlange auf sie zuging, sondern Robert. Er sah Entsetzen, Trauer, Wut und – er war sich nicht ganz sicher – etwa Mitleid?

»Ich wollte es dir sagen.« Mit einem Tritt zerbrach er den Ast, der Nadja festhielt. »Wirklich.«

Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht und wich zurück, als Naoghas knurrte. Stacheln schoben sich aus seinen Wangenknochen, Schultern und Ellenbogen.

»Kümmere dich um Talamh«, sagte Robert, als er sich zwischen Nadja und den Elfen stellte. »Ich erledige das.«

Sie kletterte aus den Holzresten heraus, ohne etwas zu sagen. Naoghas sah kurz zu ihr herüber, dann konzentrierte er sich auf Robert. Der winkte ihn heran. »Na, mach schon.«

Der Schlag traf ihn unvermittelt. Etwas schlug mit solcher Macht in seinen Rücken, dass er glaubte, die Wirbelsäule würde zertrümmert. Robert wurde gegen Naoghas geschleudert, entging nur knapp dessen Stacheln.

Er rollte sich herum. Brandubh stand über ihm. Seine Fäuste waren so groß wie Bowlingkugeln und aus dunklem Holz. Sie hingen von Armen herab, die fast bis zum Boden reichten.

»Ich sterbe nicht so schnell«, sagte Brandubh.

»Gut für dich«, erwiderte Robert und trat ihm die Beine unter dem Körper weg. Der Elf konnte sich mit seinen überlangen Armen nicht halten und stürzte. Robert warf sich zur Seite. Einen Augenblick dachte er, Brandubh würde in Naoghas’ Stacheln fallen, aber der Reptilienelf kam bereits wieder auf die Beine. Er wich Roberts nächstem Schlag aus und schlug einen Haken, der ihn zwischen Nadja und Talamh brachte.

Sie griff nach einer der zerbrochenen Kisten und zog einen langen Sperrholzsplitter heraus. Drohend ging sie auf ihn zu. Der Elf blinzelte, als ob er nicht einer Gegenwehr gerechnet hätte.

Catan tauchte plötzlich neben Naoghas auf. Er schien vor Roberts Augen zu verschwimmen. Seine Kleidung löste sich auf, sein Kopf wurde größer, seine Schultern breiter. Seine Hände verwandelten sich in Pranken, sein Mund schob sich vor, wurde zum Maul.

Er ist ein Panther!, erkannte Robert.

Catan überragte ihn um mehr als einen Kopf. Er brüllte, stieß Nadja mit einer Pranke zur Seite und griff nach Talamh. Der Junge begann zu weinen. Catan packte ihn und jagte mit katzenhafter Schnelligkeit in den Gang hinein.

»Nein!«, schrie Nadja. Sie kam vom Boden hoch, den Splitter immer noch in der Hand. Naoghas versperrte ihr den Weg. Sie schlug nach ihm, aber er wich aus.

Brandubh nutzte Roberts Unaufmerksamkeit und kam ebenfalls hoch. Seine Arme verwandelten sich in ein Geflecht aus Dornen und Zweigen. Es hüllte ihn ein wie ein Kokon.

Er will den Eingang des Tunnels versperren, begriff Robert. Er warf sich gegen ihn, aber die Dornen rissen seine Haut auf und die Zweige federten den Aufprall ab. Brandubh stolperte noch nicht einmal.

Robert sah zu Nadja. Naoghas schien mit ihr zu spielen. Er trieb sie zurück, ließ sie kommen, wich ihren Stichen aus und setzte wieder nach. Sie war verzweifelt, kam aber nicht an ihm vorbei.

Als Anne hinter ihm auftauchte, blinzelte Robert nervös. Er befürchtete, sie wolle auf Naoghas’ Seite in den Kampf eingreifen, um ihre Verpflichtung doch noch zu erfüllen.

Was mache ich nur?, fragte er sich, als sie zu einer Bewegung ansetzte, und dann presste sie die Hände gegen den Kopf des Elfen und brach ihm mit einem Ruck das Genick.

»Wir rauben keine Kinder, und erst recht keine Neugeborenen«, sagte Anne laut. Dann sah sie Nadja an. »Folge Catan. Wir kümmern uns um den Rest.«

Nadja ließ den Splitter fallen und verschwand in der Dunkelheit des Tunnels.

Brandubh drehte sich, schien zu bemerken, dass er allein war. Robert näherte sich ihm von der einen Seite, Anne von der anderen.

»Oh«, sagte der Elf.

Nadja rannte durch den dunklen Tunnel. Die Schreie ihres Sohns hallten von den Wänden wider. Sie zerrissen ihr das Herz.

Der Boden war so uneben, dass Nadja immer wieder stolperte, aber sie wurde nicht langsamer. Die Sorge um Talamh trieb sie voran, löschte jeden anderen Gedanken in ihrem Kopf aus, sogar den an Roberts Verwandlung. Später, wenn ihr Sohn wieder bei ihr war, würde sie darüber nachdenken. Und Talamh würde zu ihr zurückkehren, daran klammerte sie sich. Eine Alternative gab es nicht,

Ein waberndes Licht erhellte den Tunnel vor ihr. Eine dunkle Gestalt bewegte sich darin, begann ein Portal zu erschaffen. Ihr Schatten zuckte über den Boden. Nadja rannte auf sie zu.

»Catan!«, schrie sie. »Warte!«

Der Elf drehte sich um. Seine gelben Katzenaugen leuchteten. Er hielt Talamh im Arm und strich mit einer Pranke langsam über seinen Kopf. Nadja verstand die Drohung. Abrupt blieb sie stehen. Catan war weniger als zwei Meter entfernt.

»Komm nicht näher«, sagte er.

»Bitte tu ihm nichts.« Der Klang ihrer Stimme schien Talamh zu beruhigen. Er hörte auf zu schreien.

Catan warf einen Blick auf das Portal, das neben ihm entstand. Es sah aus, als schwänge eine Tür langsam auf. Licht drang durch den größer werdenden Schlitz. Wenn Catan mit Talamh durch das Portal ging, war alles vorbei, das war Nadja klar.

»Ich komme mit dir«, stieß sie atemlos hervor. »Gib Talamh frei, dann ergebe ich mich Bandorchu. Ich werde nicht versuchen zu fliehen, du hast mein Wort.«

»Das Wort einer verzweifelten Mutter.« Catan zog die Lefzen hoch. Seine Reißzähne glitzerten feucht. »Du würdest es bei der ersten Gelegenheit brechen, um zu deinem Sohn zurückzukehren.«

»Das würde ich …«

Er unterbrach sie mit einer Geste. Sein Blick glitt an Nadja vorbei in den Tunnel hinein. Er schien etwas zu hören.

»Ich bin kein grausamer Mann«, sagte er dann. »Ich werde dich nicht bitten und betteln lassen. Talamh kommt mit mir, denn ich habe für ihn ein weitaus besseres Angebot als für dich bekommen. Das ist die Wahrheit.«

Er wandte sich dem Portal zu.

»Nein!« Nadja warf sich auf ihn, aber er war schnell, viel zu schnell. Ihre Fingerspitzen strichen noch über Fell, dann war er schon mit einem Sprung im Portal verschwunden.

»Nein …« Nadjas Beine knickten unter ihr ein. Sie sackte auf den Lehmboden, starrte wie betäubt auf das Portal in der Tunnelwand.

»Nadja!« Robert tauchte plötzlich neben ihr auf. Seine Jacke war zerrissen, blutige Striemen bedeckten seine Hände. Anne lief an ihm vorbei, ergriff zuerst seinen Arm, dann Nadjas, riss sie mit einem schmerzhaften Ruck vom Boden hoch. Der Schwung trieb Nadja auf das Portal zu – und hindurch.

Elfenzeit 7: Sinenomen

Подняться наверх