Читать книгу Elfenzeit 7: Sinenomen - Claudia Kern, Susanne Picard - Страница 13
5.
Wo Milch und Honig fließen
ОглавлениеJimmy Raunga Roimata langweilte sich.
Diese wöchentlichen Versammlungen nervten ihn. Nicht genug, dass er im Internat in New Plymouth schon immer die morgendlichen Zusammenkünfte abreißen musste – nein, sein Großvater erwartete sogar am Wochenende von ihm, dass er dabeisaß und mit der Gemeinde nicht nur den Gottesdienst, sondern auch die Angelegenheiten durchsprach, die für das Zusammenleben in Pukearuhe eine Rolle spielten und insoweit für den Ngati-Tama-Stamm von Bedeutung waren.
Der Sechzehnjährige wäre viel lieber surfen gegangen. Um diese Jahreszeit war das Wetter dafür ideal. Und heute schien auch noch die Sonne. Er konnte den Impuls, aufzuspringen, sich den Pick-up seines Onkels zu schnappen und damit an den Strand zu fahren – möglichst weit weg von Pukearuhe –, kaum unterdrücken.
Jimmy versuchte, sich etwas bequemer hinzusetzen und gab sich dabei kaum Mühe leise zu sein, doch seine Großtante, die Ehefrau des ariki, des Oberhaupts des Stammes und ihrer Würde sehr wohl bewusst, stieß ihn heftig von der Seite an.
Mit einem mauligen Stöhnen setzte Jimmy sich geräuschvoll auf. Glücklicherweise begann die Gemeinde jetzt mehr schief als schön das letzte Lied des von Brauchtum durchsetzten Gottesdienstes zu singen, die Nationalhymne. Jimmy fiel automatisch mit ein, denn er musste jeden Morgen nach dem Frühstück die Hymne anstimmen. Auch das verlangte Tamati Waka Nene von seinen Untertanen, denn er war nicht nur das Oberhaupt des Ngati-Tama-Stamms, sondern auch der tohunga, der Schamane.
Der Sechzehnjährige warf einen vorsichtigen Blick auf seine Tante Whetu, die als Frau des ariki so etwas wie die oberste Sittenwächterin war und vor ihm saß. Als er sah, dass sie ihre Augen andächtig auf ihren Gatten gerichtet hatte, der neben dem tohunga vorn stand und soeben anfing, die weltlicheren Dinge anzusprechen, die in der kleinen Gemeinde eine Rolle spielten, rutschte er wieder tiefer in die Bank. Diesmal bemühte er sich, weniger Lärm zu machen.
Jimmy hielt nichts von dem Budenzauber, wie er das nannte, den sein Großvater allsonntäglich zusammen mit seinem Bruder, dem ariki, im Versammlungshaus, dem whare hui, abhielt. Am liebsten wäre er wieder ins Internat zurückgegangen, auch wenn er sich dort langweilte. Seine Mitschüler waren bis auf ein paar coole Typen einfach nur blöd. Aber mit denen, mit Trevor, Kuri und Adam, hätte er wenigstens surfen gehen können. Eins wusste er genau – sobald er achtzehn war, würde er nach Wellington abhauen. Er, Trevor und Adam wollten am dortigen College Informatik studieren. Nur noch siebzehn Monate, die kriege ich auch noch rum, dachte er, während er sich auf einen strengen Blick von Tante Whetu hin widerwillig aufrecht hinsetzte. Der formelle Teil der sonntäglichen Versammlung war vorbei, jetzt wurde diskutiert. Onkel Tearoa sortierte seine Abrechnungen und rückte wie immer seine Brille zurecht, während er referierte, was wohl die neuen Zäune kosten würden und die Reparatur der Stromleitungen. Es wurde besprochen, wie groß die Feier zur Taufe von Cousine Huhanas Baby ausfallen würde und – zu guter Letzt – wen Tamati Waka Nene als seinen Nachfolger auswählen würde. Natürlich war es Großmutter Maata, die das Thema ansprach. Auch das war jeden Sonntag dasselbe.
Jimmy wusste, dass er die Nachfolge antreten müsste, und deshalb hörte er gar nicht hin. Jeden Sonntag hier zu stehen und über Zaunreparaturen zu reden, gehörte nicht zu seinen Zukunftsplänen. Sollte doch Bill Mokau, sein Cousin und der jüngere Bruder von Huhana, das übernehmen. Oder Jimmys ältere Schwester Mahine, der hätte das gefallen. Sie war Krankenschwester in Inglewood, vier Jahre älter als er und kannte all die Sagen und Legenden auswendig, die Großmutter Maata immer vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Doch er war der älteste männliche Enkel und sein Großvater hatte sich bis jetzt nicht damit arrangieren können, seine Würde als tohunga einer Frau zu übergeben. Jimmy war allerdings fest entschlossen, auf diesen ganzen andersweltlichen Unsinn aus Sagen und Märchen zu verzichten. Er wusste, in Wellington oder Auckland wurden Computerexperten gesucht, und er kannte sich ein wenig mit Spieleentwicklung aus. Was gab es hier in Pukearuhe denn schon anderes zu tun, als abends World of Warcraft zu spielen oder eigene kleine Spiele zu schreiben? Und wenn es in Wellington nichts damit wurde, dann konnte er immer noch nach Sydney gehen.
Da war wenigstens was los, im Gegensatz zu seinem Heimatdorf, wo man abends die paar Bürgersteige, die es gab, hochklappte, weil angeblich Erdgeister umgingen.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, einmal vor der Gemeinde im Versammlungsraum zu stehen und die jährlichen Rituale im September zu vollziehen. Jimmy hielt das für rückständig. Keiner wollte doch heutzutage mehr wissen, ob in irgendeiner uralten Zeit, die keinerlei Rolle mehr spielte, eine Handvoll Maori auf einem wackligen Einbaum-Ausleger ausgerechnet bei Pukearuhe an Land gegangen war.
Und ihn interessierte auch nicht, dass unter seinen Vorfahren der berühmte Te Rangi Hiroa gewesen war und er – wie sein Großvater nicht müde wurde, zu betonen – gefälligst dessen Erbe würdig anzutreten habe. Angeödet drückte Jimmy sein Knie an die Rücklehne der Bank vor ihm, rutschte noch ein wenig tiefer und legte den Kopf in den Nacken, um die Schnitzereien am Dachfirst zu betrachten. Auch wenn er die Muster längst auswendig kannte. Wie viele Sonntage habe ich schon auf diese Art verschwendet?, fragte er sich und fand es auf einmal interessant, sie zu zählen. Es müsste so ziemlich jeder Sonntag gewesen sein, seit er auf der Welt war, also …
In diesem Moment geschah etwas Unvorhergesehenes, das Jimmy Roimata davor bewahrte, sich an jeden langweiligen Sonntag seines Lebens zu erinnern.
Es pochte laut an der Tür zum Gemeinde-Saal, mitten in die Abrechnung von Onkel Tearoa hinein.
*
Nadja rutschte auf Gras aus und taumelte. Grelles Sonnenlicht blendete sie. Ihr schossen Tränen in die Augen. Verschwommen sah sie den Panther, der mit langen Sprüngen zwischen den Hügeln verschwand. Eine Brise verwehte Talamhs Schreie.
Nadja wollte ihm folgen, aber Anne hielt sie immer noch fest.
»Er ist schneller als du«, sagte die Muse. »Du wirst ihn nicht einholen.«
»Er hat Talamh!« Nadja riss sich los. »Ich werde ihn finden, und du wirst mich nicht …«
Anne unterbrach sie. »Ich weiß, wohin Catan deinen Sohn bringen wird.« Sie streckte den Arm aus und zeigte auf einen Punkt hinter den Hügeln. »Dorthin.«
Nadja schirmte ihre Augen mit einer Hand ab und folgte der Geste. Sie standen in einem kleinen Tal zwischen einigen Hügeln. Gras bedeckte den sandigen Boden, irgendwo plätscherte ein Bach. Es war warm und trocken.
Der Punkt, auf den Anne zeigte, lag weit jenseits der Hügel. Es war ein Berg, der mächtig und grau in den Himmel aufragte. Nadja konnte seine Höhe nicht schätzen, aber der obere Teil war schneebedeckt und von Wolken umgeben. Der Gipfel fehlte, so als habe eine gewaltige Macht ihn weggesprengt und nur einen Krater hinterlassen.
Nadja kannte Bilder des Bergs, trotzdem zögerte sie, bevor sie seinen Namen aussprach. »Der … Olymp?«
Anne nickte. »So nennen ihn viele.«
Robert trat neben sie. Er richtete seinen Blick nicht auf den Berg, sondern auf eine Herde Dromedare, die in einiger Entfernung durch das Tal zog. Sie fraßen Gras und Blumen, die so gelb waren, dass sie zu leuchten schienen.
»Sind wir in der Anderswelt?«, fragte Robert, während er sich ins Gras hockte und mit der Hand über die Halme strich. »Alles ist so viel klarer als bei uns.«
Nadja wusste, dass sie nicht dort waren, sonst hätte sie über dem Boden geschwebt.
»Das ist nicht die Anderswelt.« Anne seufzte. »Jedenfalls nicht ganz.«
Sie sah sich um. »Wir befinden uns zwar in einer Sphäre der Anderswelt, aber was ihr hier seht, ist ein Traum, eine Vision, eine Welt innerhalb einer Welt.«
»Heißt das, sie ist nicht real?«, fragte Nadja.
»Wir sind darin, also ist sie real«, sagte Anne. Sie warf einen Blick in den makellos blauen Himmel. »In der Menschenwelt ist sie nur ein Traum. Ihr kennt sie vielleicht als das Reich des Priesterkönigs Johannes.«
Robert stand auf. »Die Legende aus dem Mittelalter? Natürlich kenne ich die. Sie stammt aus …«
»Können wir weiterreden, während wir gehen?«, unterbrach ihn Nadja. Seit sie wusste, was er war, brachte sie es nicht mehr über sich, Robert anzusehen.
»Natürlich.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab. Die Wunden, die von Dornen und Zweigen gerissen worden waren, verheilten bereits.
»Sie stammt aus dem zwölften Jahrhundert«, fuhr er fort, als sie den Hügel hinaufgingen. Die Dromedare im Tal hoben kurz die Köpfe, als der Wind Roberts Stimme zu ihnen hinüber trug, grasten dann jedoch weiter. »Es begann mit Gerüchten über eine großes christliche Domäne im Osten. Dann tauchte ein Brief auf, in dem jemand, der sich Presbyter Johannes nannte, von diesem seinem Reich erzählte. Es sollte sich von Indien bis zum Sonnenuntergang erstrecken und über immense Reichtümer und wundersame Bewohner verfügen. Die Quelle der Unsterblichkeit vermutete man dort.«
Nadja wurde hellhörig. Die Geschichte des Priesterkönigs war ihr nicht fremd, aber sie hatte sich nie damit beschäftigt. Robert anscheinend schon.
»Mehrere Päpste rüsteten Expeditionen aus, um das Reich des Johannes zu finden«, erzählte Robert weiter. Er klang aufgeregt. »Keine hatte Erfolg. Man vermutete es in Indien, Afrika, China. Sogar Marco Polo suchte danach. Irgendwann erklärte man den Brief zur Fälschung und Priesterkönig Johannes zu einem Mythos.«
Er sah Anne an. »Aber er war kein Mythos, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber er war auch nicht Priesterkönig Johannes. Diesen Namen nahm er erst an, nachdem er in der Menschenwelt so genannt wurde. Ich war damals seine Muse und half ihm bei der Erschaffung des Reichs.«
»Wer war er?«, fragte Robert.
»Ich weiß es nicht. Mir fehlt die Erinnerung an seine Identität.«
Immer dasselbe, dachte Nadja frustriert. Jede Antwort, die Anne ihnen gab, warf weitere Fragen auf, die sie nicht beantworten konnte oder wollte. Robert schien sich damit zufriedenzugeben, denn er nickte nur und ging weiter den Hügel hinauf.
Die Pranken des Panthers hatten tiefe Spuren im sandigen Boden hinterlassen. Sonnenstrahlen brachen sich in kleinen Steinen, die verstreut im Gras lagen. Nadja bückte sich und hob einen von ihnen auf. Es war ein Smaragd, so groß wie ein Daumennagel.
»Nett«, sagte Robert. »Wir hätten ein paar Taschen mitnehmen sollen.«
»Hier ist jeder reich«, erklärte Anne. »Niemand muss hungern, es gibt keine Armut. Das war eines der Dinge, die dem König bei der Erschaffung seines Reichs sehr wichtig war. Daran kann ich mich noch erinnern. Er wollte über ein Paradies herrschen, in dem niemandem etwas fehlte.«
Nadja ließ den Smaragd fallen. Sie hatten die Hügelkuppe fast erreicht. »Wenn niemandem etwas fehlt«, sagte sie, »was wollen sie dann mit meinem Sohn?«
»Nicht sie«, widersprach Anne, »er. Bei allem Reichtum: ein Kopfgeld, höher als das von Bandorchu, kann sich auch hier nur der König leisten.«
»Und ich weiß, was er will«, sagte Robert. Er stand bereits auf der Kuppe und blickte über das Land, das vor ihm lag. Nadja überwand die letzten Meter und trat neben ihn. Überrascht stieß sie den Atem aus.
Die Hügel fielen sanft hinab bis zu einer Ebene, die in der Sonne glitzerte. Nadja sah Bäume, die kahle Äste in den Himmel streckten und gelb verdorrtes Gras. Gewaltige Staubwolken wehten durch die Weite. In der Ferne stieg Rauch auf. Skelette lagen zwischen Diamanten und trockenem braunen Laub. Einige wirkten menschlich, andere animalisch, manche einfach nur fremd. Ein verrostetes Schwert steckte im Boden, daneben lag ein Helm.
Robert griff nach dem Schwert, aber es zerfiel in seiner Hand. Rost rieselte zwischen seinen Fingern hindurch.
»Die Zeit hat das Paradies erreicht.«
Sie erreichten die Ebene, als es dunkel wurde. Anne entdeckte einen kleinen Fluss mit kristallklarem Wasser. Sie trank zuerst daraus und bat Nadja, beim Trinken an etwas zu denken, das sie gern essen würde. Robert grinste, als Nadja den ersten Schluck Wasser ausspuckte, dann aber vorsichtig ein zweites Mal trank.
»Wasser, das nach Chili con carne schmeckt, ist etwas gewöhnungsbedürftig«, sagte sie und stand auf.
Er lachte. »Bist du satt geworden?«
»Ja, aber vielleicht hole ich mir gleich noch einen Nachschlag. Was willst du?«
»Danke, ich brauche nichts.« Er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte. Einen Moment lang hatte sie wohl vergessen, was er war.
»Nadja.«
Sie schüttelte den Kopf und setzte sich einige Meter entfernt auf einen Felsen. Robert seufzte leise. Er zuckte zusammen, als Anne ihre Hand auf seinen Rücken legte.
»Ihr werdet nie wieder Freunde sein«, sagte Anne. Bei einem Menschen hätte das grausam geklungen, bei ihr klang es wie eine Tatsache. »Sie wird in dir immer den Vampir sehen. Sie kann dir nicht mehr vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es keine Freundschaft:«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir vertraue, dachte Robert, aber trotzdem liebe ich dich. Erkläre mir das.
Beinahe hätte er die Worte ausgesprochen, doch im letzten Moment fing er sich. »Eine simple Gleichung«, sagte er stattdessen.
Anne nickte sichtlich zufrieden, zog ihre Jacke aus und legte sie sich um die Schultern.
»Wir sollten Holz sammeln für ein Feuer, bevor es ganz dunkel wird«, sagte Nadja. Sie hatte die Knie angezogen und sah auf die Ebene hinaus.
»Nicht nötig. Es wird nicht kälter werden.« Anne zog ihre Stiefel aus. »In diesem Reich muss niemand frieren.«
Robert setzte sich. Das Gras war trocken und weich. »Kein Hunger, kein Durst, keine Armut, keine Kälte … wo ist der Haken?«
Anne legte sich die Jacke über den Kopf. »Es regnet jeden Abend um die gleiche Zeit«, sagte sie.
Sie hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, als schwere warme Tropfen aus dem plötzlich grauen Himmel fielen. Innerhalb von Sekunden wurden sie zu einem Sturzbach. Nadja sprang von dem Felsen und hockte sich unter einen Vorsprung. Robert schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Instinktiv wollte er ebenfalls Schutz suchen, doch dann fiel ihm ein, dass er nicht mehr krank werden konnte. Er stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und sah dem Regen zu. Es war ein perfekter Regen mit perfekten Tropfen, die in perfekten geraden Fäden fielen.
Nur einen Lidschlag später wechselte das Wetter. Der Regen versiegte, als habe man die Fäden durchgeschnitten. Abendrot senkte sich über die Ebene.
»Aber es dauert nie lange«, schloss Anne und schüttelte Wasser aus ihrer Jacke.
»Du weißt all das.« Nadja kam näher heran. Regentropfen glitzerten in ihren Haaren. »Aber du weißt nicht, wer dieses Reich erschaffen hat?«
»Das ist richtig.«
Robert sah Nadjas Misstrauen. »Es wird sich bestimmt alles klären, wenn wir den Berg erreicht haben«, sagte er, ohne es selbst zu glauben. Der Olymp ragte majestätisch jenseits der Ebene auf. Die Entfernung ließ sich nicht schätzen. Vielleicht waren sie ein paar Tage von ihm entfernt, vielleicht ein paar Monate.
Wenn Zeit hier überhaupt eine Rolle spielt, dachte Robert, als er sich wieder ins Gras setzte. Der Boden war nicht mehr feucht. Das Erdreich schien den Regen vollständig aufgenommen zu haben.
»Wieso will Catan zum Olymp?«, fragte Nadja unvermittelt.
Anne zog ihre Jacke an. »Der Palast des Königs liegt am Fuß des Bergs.«
»Und wie will er Talamh bis dahin ernähren?«
»Nadja.« Anne klang ungeduldig, machte dann jedoch eine Pause und fuhr ruhiger fort. »Er wird nicht zulassen, dass deinem Sohn etwas geschieht. Der König wird das Kopfgeld nur zahlen, wenn Talamh lebt. Was sollte er mit einem toten Säugling anfangen?«
Robert verzog das Gesicht. Ihre Wortwahl war nicht gerade taktvoll.
»Und was will er mit einem lebenden?« Nadjas Stimme zitterte.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Anne.
Ihre Worte hingen in der Luft. Die Unterhaltung brach ab.
Es wurde rasch dunkel. Nadja legte sich unter den Felsvorsprung und drehte sich auf die Seite, die Arme um den Körper geschlungen. Robert wusste, dass sie Angst um ihren Sohn hatte, doch helfen konnte er ihr nicht. Sie sprach ja noch nicht einmal mehr mit ihm.
Anne legte sich neben ihm ins Gras. Sie hatte Recht behalten. Die Nacht war kaum kühler als der Tag. Robert sah in den schwarzen, lichtlosen Himmel.
»Es gibt keine Sterne«, sagte er.
Anne schüttelte den Kopf. Die Geste war kaum zu sehen. »Der König wollte nicht, dass sich seine Untertanen nach den Sternen sehnen, also erschuf er ein Reich ohne.«
»Er klingt nicht ganz gesund. Geistig, meine ich.« Robert stützte sich auf die Ellenbogen. Er spürte die Wärme, die von der Muse ausging und hörte ihren Atem. »Weißt du wirklich nichts über ihn?«
»Nein. Wenn ich versuche, an ihn zu denken, stoße ich gegen eine Wand.« Der Gedanke schien sie zu verstören.
Robert nahm ihre Hand. Anne drehte sich zu ihm. Es war dunkel, trotzdem konnte er ihr Gesicht erkennen.
»Cool«, sagte er.
Sie runzelte die Stirn. »Was?«
»Ich kann im Dunkeln besser sehen.«
»Nicht besser als ich.«
»Ich würde es nicht wagen, etwas besser zu können als du.« Er lächelte, Anne nicht. Ihre Mimik war ausdruckslos, nur ihre Augen musterten ihn, glitten über sein Gesicht, dann über seinen Körper. Sie drückte seine Hand so fest, dass es weh tat.
Oh Gott, wie sehr möchte ich mit ihr schlafen, dachte Robert. Er drehte den Kopf. Nadja lag keine drei Meter entfernt. Er hörte ihren Atem. Sie war wach.
»Ich bin müde«, sagte er rasch. Es war weniger eine Aussage als ein Befehl, den er an seinen Körper richtete.
Anne ließ seine Hand los. »Ich auch.« Ihre Stimme klang rau. Sie räusperte sich. »Gute Nacht.«
Sie schloss die Augen.
Robert ließ sich ins Gras fallen und seufzte leise. Der Himmel über ihm war so schwarz und leer, dass er glaubte hinein zu stürzen. Er drehte sich auf die Seite, schloss die Augen, öffnete sie jedoch wieder, als ihm plötzlich ein Gedanke kam.
»Sollten wir nicht Wache halten?«, fragte er.
Er wartete einen Moment, aber weder Anne noch Nadja antworteten. Robert hob die Schultern und versuchte zu schlafen.
Als er die Augen das nächste Mal öffnete, dämmerte es bereits. Er setzte sich auf. Anne schlief neben ihm, der Platz unter dem Felsen, an dem Nadja gelegen hatte, war leer. Einen Augenblick lang befürchtete er, sie habe sich auf eigene Faust auf die Suche nach Talamh gemacht, doch dann sah er sie an dem kleinen Bach hocken. Sie hatte die Jacke ausgezogen und wusch sich das Gesicht.
Robert stand leise auf, um Anne nicht zu wecken. In manchen Situationen war es besser, ohne sie zu handeln. Dies war eine solche Situation.
»Ich hoffe, es schmeckt nicht immer noch nach Chili con carne«, sagte er, als er neben Nadja trat. Sie zuckte zusammen, hatte ihn wohl nicht gehört. Dann sah sie auf. Wasser lief über ihr Gesicht.
»Es schmeckt nach Minze.« Sie trocknete sich mit ihrer Jacke ab und stand auf.
»Nadja, wir müssen reden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, müssen wir nicht.«
Robert ergriff ihren Arm, aber sie sah ihn so wütend an, dass er wieder losließ. »Okay«, sagte er. »Dann muss ich eben reden. Wirst du mir wenigstens zuhören?«
»Wozu?« Sie hielt seinen Blick. »Damit du sie in Schutz nehmen kannst? Damit du Entschuldigungen dafür finden kannst, dass sie dich in ein Ungeheuer verwandelt hat?«
Sie wurde immer lauter, schrie beinahe. Robert hatte sie noch nie so wütend erlebt.
»Jeder hat dich gewarnt. David, ich … wir alle wussten, was früher oder später geschehen würde. Aber du wusstest es ja besser. Und jetzt sieh, was sie aus dir gemacht hat. Du bist tot, Robert! Sie hat dich umgebracht!«
Tränen schimmerten in ihren Augen.
»Es war nicht so, wie du denkst. Sie hat …«
»Und du nimmst sie trotzdem noch in Schutz.« Die Wut verflog aus Nadjas Stimme. Resignation trat an ihre Stelle. »Nach allem, was sie getan hat und …«
Robert unterbrach diesmal sie. »Nadja, ich habe Anne darum gebeten.«
»Was hast du?«
Er rieb sich mit einer Hand den Nacken. »Es gab keine andere Möglichkeit. Ich wäre gestorben, wenn sie es nicht getan hätte, und sag nicht, ich sei tot. Wenn die Blutgräfin mich gebissen hätte, wäre ich wirklich zu einem Ungeheuer geworden.«
»Und was bist du jetzt?«, fragte Nadja. Sie wischte sich mit einer ärgerlichen Bewegung die Tränen aus den Augen.
Er hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es, selbst Anne nicht.«
Die Muse war aufgewacht und lauschte mit ausdruckslosem Gesicht der Unterhaltung. Robert war froh, dass sie sich nicht einmischte.
»Aber ich weiß, dass ich kein Ungeheuer bin«, fuhr er fort. »Ich laufe nicht herum und beiße Leute. Ich bringe niemanden um.« Er lächelte. »Es hat sich nichts geändert, Nadja, abgesehen von all dem Superheldenzeug.«
Sie antwortete nicht darauf, aber sie wandte sich auch nicht ab.
Ein Anfang, dachte er.
»Jemand kommt«, sagte Anne und stand auf. Ihr Blick richtete sich auf die Ebene. Robert sah nichts außer Staub und Sand. Bist du sicher?, wollte er fragen, doch da schälten sich bereits Gestalten aus dem Dunst.
Sie waren zu zweit und ritten auf Pferden. Robert hörte Metall klirren und kniff die Augen zusammen.
»Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet«, sagte er, als die Reiter näher kamen. Ihre Rüstungen blitzten in der Sonne. Sie trugen Helme, Kettenhemden, Brust- und Beinpanzer. Die Visiere waren geöffnet, ihre bärtigen Gesichter staubgrau. Die Pferde, auf denen sie ritten, waren groß und ebenso gepanzert wie sie selbst.
»Ritter?« Nadja hob die Augenbrauen.
Robert nickte. »Sieht so aus.«
Die beiden Männer kamen näher. Ihre Rüstungen saßen schlecht, klapperten, knirschten und quietschten bei jeder Bewegung. Ein paar Meter vor Robert zügelten sie ihre Pferde. Die Staubwolke legte sich.
»Wer seid ihr?«, fragte der Größere der beiden. Er hatte nur ein Auge und sprach mit einem merkwürdig kehligen Akzent.
Anne trat vor. »Wir sind Reisende.«
Die Männer sahen sich an. Eine lautlose Unterhaltung schien sich zwischen ihnen abzuspielen, dann zogen sie gleichzeitig ihre Schwerter.
»Ihr lügt«, sagte der Einäugige.
Mit einem wilden Schrei trieb er sein Pferd voran. Robert stieß Nadja zur Seite. Die Flanke des Pferdes traf seine Schulter, wirbelte ihn herum. Er stürzte. Das Wasser des Bachs schlug über ihm zusammen. Es schmeckte nach Minze.
Prustend kam er hoch und duckte sich sofort wieder, als eine Schwertklinge auf seinen Kopf zu schoss. Pferdehufe wühlten Wasser und Schlamm auf. Der Einäugige fluchte.
Im nächsten Moment saß Anne hinter ihm im Sattel. Mit beiden Fäusten schlug sie in seinen Nacken, traf aber nur die Rüstung. Er drehte das Schwert in seiner Hand und stach nach ihr. Sie wich der Klinge aus, klammerte sich an ihn und versuchte, ihm den Helm vom Kopf zu reißen.
Das Pferd tänzelte nervös und wieherte. Robert sah das Weiße in seinen Augen, als er sich aus dem Bach kämpfte. Die Kleidung hing schwer von seinem Körper. Sein Blick fand Nadja. Der zweite Reiter trieb sie vor sich her. Sie wich ihm aus und schlug Haken, um Hufen und Schwert zu entgehen.
Einen Moment zögerte Robert, wusste nicht, wem er helfen sollte.
Scheiße, dachte er, dann riss er sich die Jacke vom Leib und lief auf den Reiter zu, der Nadja angriff. Der Mann sah ihn, bevor er an ihn herangekommen war und wendete sein Pferd. Er griff hinter sich und zog einen Morgenstern aus einer Satteltasche.
»Zum Ruhme Gottes!«, brüllte er. Dann klemmte er sich die Zügel zwischen die Zähne und gab seinem Pferd die Sporen.
Robert blieb nicht stehen. Ein Teil von ihm achtete auf den Morgenstern, den der Ritter über seinem Kopf schwang, ein anderer auf das Schwert in seiner rechten Hand. Die Hufe des Pferdes pflügten den Boden auf, schleuderten Gras und Sand in die Luft. Es war keine vier Meter entfernt, dann drei, zwei. Robert stieß sich ab.
Der Sprung katapultierte ihn über den Kopf des Pferdes. Er sah die Überraschung in den Augen des Ritters, dann prallte er auch schon gegen ihn. Metallplatten schlugen krachend aufeinander. Der Morgenstern wurde dem Ritter aus der Hand geprellt und flog durch die Luft. Robert schlug mit dem Kopf gegen eine gepanzerte Schulter. Scharfer Schmerz zuckte bis in sein Genick. Die Umgebung verschwamm. Er sah den roten Himmel über sich, die Rüstung unter sich, dann schlug er auf.
Der Ritter stöhnte. Hufe bohrten sich neben seinem Kopf in das Gras. Sein reiterloses Pferd wieherte und galoppierte davon.
Robert schüttelte sich benommen. Er lag halb auf dem Ritter und halb auf dem Boden. Ein eiserner Handschuh blitzte vor ihm auf. Er wollte ausweichen, doch sein Körper reagierte langsam, wie der eines Betrunkenen. Die Faust traf seine Schläfe. Knochen knirschten in seinem Kopf.
Er sackte zusammen, spürte, wie der Ritter ihn von sich schob, hörte, wie er grunzend hochkam. Dann klärte sich sein Blick. Der Mann hielt einen Dolch in beiden Händen und kniete vor ihm. Er grinste.
»Zum Ruhme Gottes«, sagte der Ritter atemlos.
Er holte aus. Die Klinge des Dolchs blitzte im roten Morgenlicht.
Es knallte.
Robert blinzelte, als der Mann innehielt. Seine Augen füllten sich mit Blut. Er öffnete den Mund, schloss ihn und kippte nach vorn. Die Klinge bohrte sich neben Robert in den Sand. Der Ritter fiel darauf. In seinem Helm steckte der Morgenstern.
Nadja stand schwer atmend hinter ihm. »Ist er tot?«
»Ja«, sagte Robert. Die Benommenheit wich langsam von ihm. Tot konnte er wirklich nicht sein, so, wie er sich fühlte. Er kam auf die Beine und sah sich nach dem zweiten Ritter um. Seine Augen weiteten sich, als er sah, wie Anne einem Schwerthieb im letzten Moment auswich. Der Ritter war vom Pferd gesprungen, setzte ihr mit Schwert und Dolch zu. Immer wieder versuchte sie seine Deckung zu durchbrechen, aber er war zu gut.
Robert drehte sich zu Nadja um. »Bleib hier«, sagte er, dann sprang er mit einem Satz über den Bach. Der Ritter wandte ihm den Rücken zu. Unbemerkt schlich Robert sich an. Ihn trennten noch mehrere Meter von seinem Gegner.
Der Ritter täuschte einen Schwertschlag an und setzte mit dem Dolch nach, als Anne ausweichen wollte. Sie ließ sich fallen. Der Stoß ging über sie hinweg, doch ein Tritt des Ritters traf sie in den Magen, warf sie auf den Rücken.
Der Mann brüllte triumphierend und hob sein Schwert.
»Anne!«, schrie Robert entsetzt. Etwas zischte an seiner Schulter vorbei. Der Ritter wurde ins Gras geschleudert und blieb reglos liegen. In seinem Rücken steckte ein Speer.
Robert fuhr herum, während Anne sich aufrichtete. Nadja stand nur ein paar Schritte entfernt. Vor ihr ragte ein gepanzertes Reittier auf. Es war größer als ein Pferd, aber ähnlich gebaut. Zwei geschwungene Hörner ragten seitlich aus seinem Kopf. Unter der Rüstung war es schwarz. Blaue Augen blitzten zwischen dem Metall.
Ein Ritter saß in einem hölzernen Sattel, die Hände auf den Knauf gelegt, die Zügel locker in der Hand. Er wirkte zu klein für das Tier, wie ein Kind, das man auf einen Ackergaul gesetzt hatte. Das Visier seines Helms war geschlossen. Ein Schwert hing an seinem Gürtel, eine Armbrust auf seinem Rücken. Er trug einen verstaubten, ehemals weißen Waffenrock, auf dem ein leuchtend roter Hammer abgebildet war. Rechts und links des Hammers waren zwei ebenso rote Symbole zu sehen: Alpha und Omega.
Der Ritter löste einen Lederriemen unter seinem Kinn, dann zog er sich mit beiden Händen den Helm vom Kopf. Sein Haar war so kurz, dass es wie ein dunkler Schatten wirkte. Graue Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht. Eine Narbe zog sich von seiner linken Wange bis zum Kinn. Seine Augen waren so blau wie die seines Reittiers.
Er stellte den Helm auf seinen Oberschenkel und stützte sich mit dem Ellenbogen darauf.
»Beim brennenden Inferno«, sagte er, »wo kommt ihr drei Narren denn her, und wie habt ihr es geschafft, bis hierher zu überleben?«
Robert verzog das Gesicht. »Nun …«, begann er.