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IN DER OBERSTADT

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Bald stand im Hause Lübben ein großer Umzug an, denn Jan Lübbens Vater Wolfrath hatte die Schnauze endgültig voll von der lauten und schmutzigen Westendstraße. Und so mietete er, gegen den Willen seiner Frau, eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem Neubau auf der Römerschanze, einem noch jungen Stadtteil im Grünen, am Rande von Ludwigshausen, wo sich nun, peu à peu, die Besseren Leute ansiedelten. Juliane Lübben schmeckte der Umzug überhaupt nicht, denn jetzt war sie nicht mehr in der Nähe ihrer Fabrik und auch ihre Eltern fanden sich nun plötzlich am anderen Ende der Stadt. Für Jan Lübben stand mit dem Umzug eigentlich ein Schulwechsel an, denn er gehörte jetzt, streng verwaltungstechnisch gesehen, auf die Römerschänzer Grundschule, eine Ganztagsschule, die als die beste der Stadt galt. Doch seine Mutter Juliane setzte alles daran, dass er trotzdem auf der Huckelsberg-Schule blieb, denn so konnte sie ihren Sohn weiterhin täglich bei den Großeltern abliefern, wo sie ihn besser aufgehoben wähnte. Es war nicht etwa so, dass Juliane Lübben ihren Jan nicht liebte, nicht stets das Beste für ihn wollte, ganz im Gegenteil; doch war ihr jedwedes akademische Denken einfach fremd. Und so kam es, dass Jan, trotz der neuen Wohnung und gegen den Willen seines Vaters, weitere zwei Jahre auf der alten Schule blieb. In der Umzugswoche hatten Juliane und Wolfrath Lübben ihren ersten großen Ehekrach. Die neue Wohnung der Familie Lübben lag in einem nagelneuen vierstöckigen Miethaus am Truffaud-Ring, einer ebenfalls nagelneuen Straße, im nagelneuen Nobel-Viertel Römerschanze. Hier wohnten die Ludwigshausner Gutbürger, die Chemiefabrikanten, die Bauunternehmer, die Anwälte, die Architekten, die Oberlehrer und die Ärzte. Blitzsaubere, ja aseptische Einfamilien-Bungalows in blitzsauberen, frischbepflanzten Gärten stehend. Das brave viergeschossige Miethaus, in dem sich die Wohnung der Lübbens fand, wirkte hier fast wie ein Fremdkörper, ebenso wie der orange-rote R5 von Wolfrath Lübben, der sich scheu zwischen den schweren Limousinen der Nachbarschaft duckte. Auch Jan Lübben war ein Fremdkörper auf dem, für Ludwigshausner Maßstäbe, feinen Truffaud-Ring. Die Fabrikanten- und Oberlehrer-Söhne aus der neuen Nachbarschaft rochen, geifernden, sabbernden, geilen Bluthunden gleich, dass er nicht aus dem gleichen Stall stammte, sie rochen, dass er in der Hindenburgstraße mit Schmuddelkindern gespielt hatte und sie rochen, dass er auf der Huckelsberg-Schule mit Geistesschwachen, Psychopaten und Trinker-Kindern die Bank teilte. Und so war Jan Lübben von Beginn an der von allen verachtete Außenseiter, der Sonderling, der Absonderliche, vielleicht sogar der Schmutzige, denn Armut ist ja auch immer Schmutz, Aussatz, für die Oberstädtler, macht jenen Angst, die, in parfümierte Watte gebettet, an der weichen Brust der sorglosen, seichten, glatten, ewig reibungslosen Bürgerlichkeit aufgewachsen sind. Die Lübbens wohnten in der zweiten Etage mit Hanglage, wo sie eine schöne helle Wohnung mit Terrasse und sogar einem kleinen Garten bezogen hatten. Unter ihnen gab es noch eine Kellerwohnung, wo eine halb verblödete, bösartige Alte hauste, die aber, zur großen Erleichterung Jan Lübbens, bald das Zeitliche segnete. In der Wohnung über den Lübbens wechselten die Mieter so häufig, dass Jan sich nicht mehr an Details erinnern konnte. Doch im vierten Stock waren die Ottos eingezogen. Auch Familie Otto bestand nur aus drei Mitgliedern, dem Ehepaar Richard und Hildegard Otto, sowie deren Sohn Thomas, der etwa zwei Jahre jünger als Jan Lübben war. Richard Otto betrieb ein kleines Transportunternehmen, Hildegard Otto widmete sich dem Haushalt. Zwischen den Ottos und den Lübbens entstand bald eine nachbarschaftliche, bald auch eine persönliche Freundschaft. Insbesondere Wolfrath Lübben und Richard Otto verstanden sich hervorragend. Beide waren Autonarren, beide waren Hobbyköche und, vor allem waren sie beide standfeste Trinker, ein Laster, dem sie regelmäßig mal in der einen, mal in der anderen Hausbar frönten, sehr zum Leidwesen ihrer jeweiligen Gattinnen.

Am Wochenende gingen die beiden jungen Familien oft gemeinsam zum Wandern. Das kleine Industriestädtchen Ludwigshausen lag mitten in einem riesigen Waldgebiet, mit fast unwirklich schönen, endlosen, dichten Pfaden, wo entsprechende sonntägliche Ausflüge als eine Art Nationalsport betrieben wurden. Richard Otto war nicht nur ein begeisterter und durchtrainierter Wanderer, mit den für die Männer der Region so typischen dicken Waden, sondern auch ein regelrechter Vergnügungswart, ein Clown, der gut mit Kindern umgehen konnte. Während der Wanderungen machte er stets unzählige Späße mit Jan und seinem Sohn Thomas, ersann sich die ulkigsten Phantasiefiguren, erzählte die komischsten Witze und sang kindische oder auch schlüpfrige Lieder. Stets schleppte er einen prall gefüllten Rucksack mit sich, aus dem er immer wieder Leckereien für die Kinder zauberte, dazu einen dicken, naturgewachsenen, gedrehten Wanderstab, in dessen Kopfende das Gesicht eines Walddämons geschnitzt war. Auch trug er die typischen Dreiviertel-Hosen aus grobem Wildleder, rote Kniestrümpfe, ein kariertes Hemd, einen grauen Spitzhut mit Feder und einen dichten schwarzen Vollbart, der das Bild vom lebenslustigen, romantischen Vagabunden vollends abrundete. Fast immer endeten die Exkursionen in einem der zahlreichen Waldheime der Gegend, einfachen Wanderhütten, die von freiwilligen Helfern mit deftiger Hausmannskost bewirtschaftet wurden. Dort gab´s dann Erbsensuppe mit Wiener oder Hausmacher Wurst mit Brot, anschließend frischen Kuchen oder Mohrenköpfe, dazu natürlich reichlich Weinschorle für die Erwachsenen und Fanta oder Malzbier für die Kinder. Das Einkehren auf den Wanderhütten, insbesondere im nicht allzu weit von der Stadt entfernten Wanderheim ´Drei Birken´, barg immer eine gewisse Gefahr, denn oft endete das Ganze in einem tüchtigen Besäufnis. So war es nichts Ungewöhnliches, dass ein erwachsener Ludwigshausner an einem normalen Sonntagnachmittag fünf oder sechs Schoppen Weinschorlen trank, dazu noch mal die gleiche Menge Schnaps. Einmal waren die Ottos so stark betrunken, dass sie ihren Thomas glatt in der gemütlichen Gaststube der ´Drei Birken` sitzen ließen, und sich erst Stunden später, verkatert, daran erinnerten, dass sie ihren Sohn im Wald vergessen hatten. Unterdessen machten sich Richard Otto und Wolfrath Lübben bald einen Ruf als hervorragende Hobbyköche am Truffaud-Ring. Richard Ottos Spezialität waren Pilze und Wildgerichte, Wolfrath Lübben war hingegen ein begnadeter Pizzabäcker. Und so kamen die beiden eines Tages auf die Idee, ein Mini-Straßenfest zu organisieren, mit Pizza, Bier vom Fass und reichlich Schnaps; eingeladen war, wer Lust hatte. Und so begab es sich, dass, an jenem Sonntagnachmittag im Spätsommer, Richard Otto und Wolfrath Lübben in die feine Gesellschaft ihrer akademisch gebildeten Nachbarschaft aufgenommen wurden, denn auch die Notare, Architekten und Ärzte soffen ihr Bier, ihren Schnaps und fraßen ihre leckere Pizza nach Herzenslust.

In der darauffolgenden Nacht wurde Jan Lübben durch laute Schreie brüsk aus dem Schlaf gerissen. Es waren die Stimmen von Richard und Hildegard Otto, dazwischen das Gewimmer von Thomas Otto. Im vierten Stock war ein überaus brutaler, gnadenloser Ehekrach ausgebrochen, die Worte flogen wie Projektile, tödlich, mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit. Jan Lübben hatte Angst, denn er konnte die Gewalt durch die Wände hindurch, bis unter seine Decke spüren. Doch war dies nur der Anfang. Der Speditionsfirma von Richard Otto ging es schlecht, die Schulden häuften sich. Bald fingen sowohl Richard, als auch Hildegard Otto damit an, bereits an normalen Wochentagen über das Maß hinaus zu trinken, um sich hernach im Suff brutal zu streiten, immer vor den Ohren ihres kleinen Sohnes. Zu seinem neunten Geburtstag im September hatte Jan Lübben von seinen Großeltern aus Hamburg ein Paar Rollschuhe geschenkt bekommen, die er stolz auf dem Gehsteig vor dem elterlichen Miethaus am ausprobierte, als plötzlich zwei Einsatzfahrzeuge der Polizei mit kaltem Blaulicht, ohne Sirene, heranbrausten, gefolgt von einem Krankenwagen. Zu seinem Entsetzen hielt der Tross genau vor seiner Haustür, Polizisten und Sanitäter stürmten über den etwa zehn Meter langen Kieselweg bis hin zum Eingang, wo sie dann, im vierten Stock, an der Tür der Ottos Sturm läuteten. Etwa 40 Minuten später trugen die Sanitäter eine Bahre mit einem verhüllten Körper aus dem Haus. Erst am nächsten Tag sollte Jan Lübben auf dem Schulhof erfahren, dass es sich bei dem Leichnam auf der Bahre um die sterblichen Überreste Richard Ottos handelte, der sich mit seiner Jagdpistole in den Kopf geschossen hatte. Richard Otto, der singende, der lustige, der stets lachende und infantile Wandersmann, der Lieblingsnachbar und Bilderbuchvater. Doch Richard Otto hatte die Schnauze voll von allem, von den Schulden, vom Stress, doch vor allem auch vom ständigen Streit mit seiner Frau, und so soff er eine ganze Flasche Whisky aus, setzte sich anschließend im Badezimmer auf den Toilettendeckel, steckte sich seine 357-er Smith & Wesson Magnum Kaliber 38-P tief in den Hals, ganz nach oben, und drückte ab. Es war ein schöner, überaus meisterlicher, sauberer Schuss, der ihm quasi das ganze Hirn auf einen Schlag herausblies, alles gegen die blau-grünen Keramik-Plättchen der Badezimmerwand. Die Schädeldecke ging in tausend Stücke, die, winzigen Raketen gleich, in der blutig-klebrigen Gehirnmasse an der Badezimmerwand stecken blieben. Das stets so lustige, vollbärtige Gesicht Richard Ottos sank auf den Kachelboden, wo es, wie ein schlaffer Luftballon, liegen blieb. So fand ihn schließlich sein siebenjähriger Sohn Thomas, der von dem lauten Knall in seinem Kinderzimmer aus dem Schlaf gerissen wurde.

Hummel, Hummel, Latschenflicker

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