Читать книгу Hummel, Hummel, Latschenflicker - Sven E. Janssen - Страница 7
DUNKLE WOLKEN
ОглавлениеNach seinem Erholungsaufenthalt in Hamburg war Jan Lübben – wie immer – mit recht dicken, roten Wangen und einem zackigen Haarschnitt nach Ludwigshausen zurückgekehrt. Dies lag einerseits in der Tatsache begründet, dass seine Großmutter Hildegard nicht nur eine hervorragende Köchin war, sondern ihn, darüber hinaus, auch noch stetig mit Süßigkeiten vollstopfte. Den diskriminierenden Haarschnitt – mit ausrasiertem Nacken und messerscharfem Scheitel – hatte er indes seinem Stiefgroßvater zu verdanken, der ihn immer gleich an den ersten oder zweiten Besuchstagen zu „Fietes Herrenfrisöre“ am Gänsemarkt mitnahm, einer alteingesessenen Hamburger Institution. Dort hing, an der Innenseite der mahagoniholzvertäfelten und mit einem Schiffsbullauge versehenen Toilettenwand, ein Emaille-Schild mit der Aufschrift „Geh näher ran du Schwein, der nächste könnte barfuß sein!“, was wiederum der einzige Grund war, dessentwegen Jan dazu zu bewegen war, den Altherren-Barbier-Salon mehr oder weniger freiwillig zu betreten, brachte ihn dieser Ausdruck typisch hanseatischen Humors doch jedes Mal zum herzlich lachen. In der Zwischenzeit hatten sich die suizidalen Wogen am Truffaud-Ring wieder geglättet, wenn das Ganze auch noch immer Tratsch-Thema Nummer eins der feinen Römerschänzer Gutbürgergesellschaft war, natürlich getuschelt und hinter vorgehaltener Hand.
Im Sommer 1974 zeichnete sich ein großes Ereignis im Hause Lübben ab, denn für Jan stand nun, mit dem Ende des vierten Grundschuljahres auf der Huckelsberg-Schule, ein Schulartwechsel an. Jan Lübben war von Natur aus ein faules Schwein und hatte, bereits von der ersten Klasse an, in jenen Fächern, die ihm nicht in den Schoß fielen, schlechte Zensuren. Ganz besonders schlimm wirkte sich dies in der sogenannten Mengenlehre aus, zu der das gute alte Rechnen im Deutschland der 70-er Jahre von eifrigen Bildungspolitikern pervertiert worden war. So war es denn auch insbesondere die ‚Fünf´ in Mengenlehre, die das Grundschullehrer-Kollegium dazu veranlasste, Jan Lübben mit dem Attribut ‚zu dumm für den Gymnasialbesuch’ zu versehen, wenn dies auch auf dem offiziellen Schulpapier, das kurz vor den Sommerferien im Briefkasten der Lübbens landete, diplomatischer ausgedrückt war. Doch hatten die Huckelsberg-Pädagogen die Rechnung ohne Juliane Lübben gemacht. Diese sah ihren Sohn ausschließlich als Oberschüler und dachte gar nicht daran, sich an die Empfehlung des schulmeisterlichen Rates zu halten. Juliane Lübben war, aufgrund ihrer beruflichen Position in Ludwigshausen, eine recht angesehene Persönlichkeit, sie kannte sozusagen Gott und die Welt. Also zückte sie nun ihren kleinen schwarzen Telefonkalender, aus dem bereits einige Seiten herausfielen, und begann zu blättern. Nur wenige Tage später erschien in der Lokalpresse des Provinzstädtchens ein Artikel über einen Grundschuldirektor, dem angeblich pädophile Tendenzen nachgesagt wurden. Bald erzählte man sich, der betroffene Philologe sei von ‚Haifisch-Klaus’, dem härtesten Kripo-Beamten von Ludwigshausen, höchstpersönlich vernommen worden. Kurze Zeit nach dem mutmaßlichen Skandal revidierte das Pädagogengremium der Huckelsbergschule sein Urteil bezüglich der Gymnasialtauglichkeit des Jan Lübben, der jetzt lediglich „mit leichten Vorbehalten für den Besuch einer weiterführenden (Ober-) Schule empfohlen“ wurde. Jan Lübben sollte nun, wie geplant, mit dem Ende der Sommerferien, ab Mitte September 1974, aufs Gymnasium wechseln. Das Leben der Familie Lübben war unterdessen, von außen betrachtet, jenes einer ganz normalen, glücklichen deutschen Kleinbürgerfamilie, die eifrig an ihrem Aufstieg in die obere Mittelschicht arbeitete. Juliane Lübben hatte, in der streng hierarchisch gegliederten Welt ihrer Fabrik, immer mehr Macht, war sie doch zwischenzeitlich schon disziplinarische Herrin über rund 2000 Industriearbeiter und, darüber hinaus, gut drei Dutzend Lehrlinge, sowohl ‚Kaufmännische’ als auch ‚Gewerbliche’, die sie zum Teil selbst mitausbildete. Sogar ihrem Wolfrath hatte sie einen Job als Hilfslaborant im Chemie-Labor ihrer Firma besorgt, nachdem dieser, nach Jahren als Vorarbeiter in verschiedenen Schuhfabriken, fast schon depressiv geworden war. Morgens fuhren die beiden in Wolfrath Lübbens orange-rotem R5 gemeinsam zur Arbeit, nachdem sie zuvor ihren Sohn Jan noch am Schultor absetzten. Doch in der Fassade des vermeintlichen Glücks der kleinen Aufsteigerfamilie hatten sich bereits seit längerem die ersten Haarrisse gebildet, die sich, langsam aber unerbittlich, immer weiter voranfraßen. Insbesondere Juliane Lübben kochte innerlich vor Wut und dafür hatte sie, ihrer Meinung nach, seit Jahren ausreichend Gründe.
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Nach seiner Ankunft in Ludwigshausen, im September 1963, fand Wolfrath Lübben eine Dachlaube zur Untermiete in der Gründerzeitvilla der Arztfamilie Schmal, die in der eleganten Fuchsweilerstraße residierte. Deren etwa gleichaltriger Sohn, Johannes Schmal, studierte Medizin im benachbarten Saar- Land, und bald entstand zwischen den beiden eine innige Männerfreundschaft, wenn diese auch anfangs lediglich auf den gemeinsamen Freizeitinteressen Schürzenjagd und Saufen basierte. Im Oktober begann für Wolfrath Lübben das Studium an der Ludwigshausner ´Technische Fachschule für Leder und Textil´. An den Wochenenden zog er mit Johannes Schmal durch das für eine Kleinstadt erstaunlich wilde Ludwigshausner Nachtleben; in dem lediglich rund 60.000 Einwohner zählenden Städtchen gab es einfach alles: Kneipen, in denen die lokale Biersorte Ludwigsbräu hektoliterweise floss, verrauchte Beatschuppen, in denen die hierzulande stationierten US-Soldaten den Whisky gleich gallonenweise soffen, illegale Spielhöllen in Spelunken-Hinterzimmern, in denen um viel Geld gezockt wurde, Bordelle, in denen Huren jeglicher Couleur ihre Dienste feilboten. Wolfrath Lübben war vom Ort seines nicht ganz freiwilligen Exils durchaus angenehm überrascht. Selbst das, was er bisher in Hamburg an Nachtleben gesehen hatte, war dagegen eher fad. Die Stadt boomte, der Schuhindustrie ging es blendend, und selbst die Allerdümmsten verdienten einen unglaublichen Haufen Geld, den sie anschließend ebenso bereitwillig wie protzig wieder zu verprassen pflegten. Über Johannes Schmal lernte Wolfrath Lübben bald auch noch den Studenten der Zahnmedizin Rudi Fleischmann kennen, der in seiner Freizeit Rallyes fuhr, ein neues Laster, für das sich Wolfrath Lübben sofort mit flammender Begeisterung gewinnen ließ.
Im Februar 1964 näherte sich mit dem Karneval einmal mehr eines der wichtigsten Ludwigshausner gesellschaftlichen Ereignisse. Die sich ohnehin schon während des ganzen Jahres in stetiger Trinkbereitschaft befindliche autochthone Bevölkerung, nebst der etwa 20.000 Mann umfassenden US-Militärkolonie, rastete dann völlig aus. Der wichtigste Karnevalstermin überhaupt war traditionell der große Ringerball des LSV, eines alteingesessenen Ludwigshausner Sportvereins. Die drei Freunde beschlossen, sich den Kostümball nicht entgehen zu lassen, denn, so wie Johannes Schmal und Rudi Fleischmann Wolfrath Lübben hoch und heilig versicherten: „Dord konnsche mause, bissada abfalld!“ (Dialektal, vulgär: „Dort kannst Du ficken, bis er dir abfällt!“) Der Faschingsball des rührigen Sportvereins war nicht viel mehr als ein gigantisches Massenbesäufnis, zu dem die größtenteils enthemmten Trinker beiderlei Geschlechts verkleidet erschienen und das, traditionell, in einer Reihe wüster Schlägereien zu enden pflegte. Das Ganze fand in der großen zweigeschossigen Sporthalle des Vereins, in der Turnvater Jahn Straße, statt. In der ersten Etage der großen LSV-Turnhalle fand sich ein kleiner, normalerweise von den Ringern genutzter Trainingsraum, der mittels Luftschlangen und Lampions zu einer Art Hawaii-Bar umfunktioniert worden war, in der ausschließlich Sekt und Schnaps ausgeschenkt wurden. Die Luft dort war so sehr vom blauen Zigarettenqualm und vom Schweiß der eng zusammengepferchten Karnevalsnarren geschwängert, dass man sie geradezu durchschneiden konnte. Im oberen, in der zweiten Etage gelegenen, großen Saal spielte das Orchester. Dort wurde, in 0,4-Liter-Steinkrügen, das frischgezapfte Ludwigsbräu ausgeschenkt. Davor hielten die kräftigsten Vertreter der Ringer-Abteilung des LSV Wache und achteten streng darauf, dass keine Rocker oder sonstige Störenfriede Eintritt fanden; doch auch so gab es am Bierstand oder auf den Toiletten immer wieder Rangeleien, die nicht selten in Windeseile gewalttätig aufflammten und bei denen so mancher irdene Bierseidel auf einem besoffenen Dickschädel das Blut zum Sprudeln brachte. Die drei Freunde beschlossen, ihr Glück zunächst in der etwas weniger gefährlichen Sektbar zu versuchen, wo auch, in der Regel, der Frauenanteil höher zu sein pflegte. Nach einigem Gerangel hatten sie sich eine Ecke an der Theke erkämpft, bestellten sich eine Flasche Sekt und drei Kartoffelschnaps. Am anderen Ende des Tresens fiel Wolfrath Lübben sofort eine langbeinige Blondine auf, die eine Art blauglitzerndes, lediglich aus Hotpants und einem scharf konturiertem Oberteilchen bestehendes Barbarellakostüm trug. Dazu hatte sie sich überdimensional lange Wimpern angeklebt, mit denen sie künstlich gelangweilt über den Rand ihres Sektglases hinwegklimperte. Wolfrath Lübben war sofort Feuer und Flamme. Begleitet war die unbekannte Schöne ganz offensichtlich von zwei als, nicht eben gerade originell, Indianerinnen verkleideten Freundinnen, eine davon bockhässlich, die andere konnte man lassen, zumindest hatte sie eine riesige Oberweite. Wollte man also anbandeln, würde sich einer der drei Freunde opfern müssen. Man beschloss, dass diese Aufgabe Johannes Schmal zufallen würde, denn letzterer hatte, insbesondere ab einem gewissen Alkoholpegel, keinerlei Skrupel, jegliches weibliche Stück Fleisch zu besteigen, ganz gleich wie vergammelt dieses war. Rudi Fleischmann hingegen übernahm die Anmache, denn dabei war er ebenso plump wie effektiv. Schon zehn Minuten später hatte er es geschafft, die pittoreske Damengruppe an Land zu ziehen, die Herren orderten eine Pullmannflasche Rüttgers Club. Wolfrath Lübben freilich brachte seiner hübschen Barbarella gegenüber zunächst keinen Ton heraus, denn er war, trotz seines grundsätzlichen Erfolgs bei den Frauen, ein eher schüchterner Typ. Also soff er, um sich Mut zu machen, einen Schnaps nach dem anderen, den er jeweils mit einem eiskalten Sekt herunterspülte. Schon eine Stunde später lag er, heftig knutschend und fummelnd, mit seiner noch immer unbekannten Eroberung hinter der Holzdekoration der Hawaii-Sektbar, Alles um sich herum vergessend. Am nächsten Mittag wachte Wolfrath, noch halb angekleidet, zusammen mit einem furchtbaren Kater, auf dem Boden seiner Dachlaube liegend auf. Er hatte pochende, ja regelrecht hämmernde Kopfschmerzen, einen scheußlich trockenen Mund, gleichzeitig verspürte er einen ekelhaften Geschmack, der wohl von den mindestens drei Päckchen Peter Stuyvesand herrühren musste, die er im Verlaufe der vorherigen Nacht geraucht hatte. Obendrein war ihm, auf eine besonders elende Weise, schwindlig. Mit einiger Mühe zog er sich an dem Waschbecken hoch, das sich am Fuße seines Bettes an einer halb verkachelten Wand befand, die in der schrägen Dachhälfte des kleinen holzvertäfelten Zimmers endete. Im Spiegel begutachtete er sein von Sekt, Bier und Kartoffelschnaps rot aufgedunsenes Gesicht; wenigstens hatte er seinen ersten Ringerball unverletzt überlebt, was an sich schon an ein Wunder grenzte. Langsam erinnerte er sich an Details des Abends, die wilde Knutscherei mit der unbekannten Barbarella; allein bei dem Gedanken daran bekam er sofort einen heftigen Ständer, noch verstärkt von den Nachwirkungen des Alkohols. Er legte sein nach Zigarettenqualm stinkendes Hemd ab, steckte seinen dröhnenden Kopf in das kleine weiße Waschbecken und ließ mindestens zehn Minuten lang das eiskalte Wasser über seinen Schädel laufen. Anschließend putzte er sich lange die Zähne, rasierte und frisierte sich akribisch. Nachdem er sich frisch angekleidet hatte, beschloss er, nach unten zu gehen, um zu sehen, ob Johannes schon das Licht des neuen Tages erblickt hatte. In der großen Wohnküche der Villa Schmal saßen Johannes Schmal und Rudi Fleischmann, der die Nacht im Gästezimmer verbracht hatte, feixend über einem opulenten, deftigen Mittagessen, das die Haushälterin zubereitet hatte, dazu hatten sie schon wieder einige Flaschen eiskalten Bieres geleert. Ihren Freund begrüßten sie mit der Frage: „Na Alter, haste noch `n Rohr von gestern Abend?“ Dann erzählten sie ihm genüsslich alle Details. So sei er, Wolfrath Lübben, einmal mehr der mit Abstand Besoffenste gewesen. Seine neue Eroberung, die geheimnisvolle Blonde, und er selbst seien heute sicherlich in aller Munde, hätten sie doch in der Sektbar des biederen Sportvereins durch ihre Fummelei fast einen öffentlichen Skandal ausgelöst. Wolfrath Lübbens ohnehin vom Alkohol geröteter Kopf nahm die Farbe einer frischen Paprikaschote an, an Details konnte er sich nicht mehr erinnern. Jetzt schob ihm Rudi Fleischmann einen zerfledderten Ludwigsbräu-Bierdeckel zu, auf den mit Lippenstift eine Telefonnummer gekritzelt war: „Hier, das hat mir deine Angebetete gestern Abend noch für dich mitgegeben, du hast ja mal wieder. nix geschnallt.“ Das erste Rendezvous mit seiner Karnevals-Eroberung war für Wolfrath Lübben peinlich, denn er konnte sich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern. Nachdem er seinen ganzen Mut zusammengenommen hatte, beschloss er, die auf den Bierdeckel gepinselte Telefonnummer zu wählen und sich mit der ihm eigentlich Unbekannten im Pilsstübchen, einer in der Innenstadt gelegenen Bierkneipe, zu verabreden.
Wolfrath Lübben konnte seinen Augen nicht trauen, denn seine Verabredung, die zehn Minuten zu spät das winzig kleine Bierlokal betrat, war genau das, was er sich, zumindest physisch, unter einer Traumfrau vorstellte: Blond, sehr langbeinig, dunkelgrüne Augen, große Oberweite, voller Mund und eine kleine, zierliche Nase. Doch wie sich im Laufe der ersten, schüchternen Unterhaltung herausstellte, hatte die Sache natürlich einen Haken. Juliane Gundermann, die sich, dem Himmel sei Dank, gleich selbst vorgestellt hatte, war die Tochter eines kleinen Beamten und einer nicht berufstätigen Hausfrau, sie selbst arbeitete als kaufmännische Angestellte in der Fabrik. Kleinbürger, tiefste Provinz, ein Mädchen aus sehr bescheidenen Verhältnissen, bildhübsch, adrett, ja sogar chic, aber nur mit Volksschulabschluss und wohl auch bettelarm. Als ob all dies noch nicht genug gewesen wäre, war sie auch noch vier Jahre älter als er selbst. Niemals würden seine Eltern eine solche Partie akzeptieren. Doch es war schon zu spät. Wolfrath Lübben hatte sich bereits über beide Ohren verliebt. Und auch Juliane Gundermann war schnell Feuer und Flamme für den höflichen, hochgewachsenen, blonden Mann mit den blaugrauen Augen, der – für Ludwigshausner Verhältnisse – so ungewöhnlich schön sprach. Noch am selben Abend landeten die beiden in Wolfrath Lübbens Dachlaube, um dort das zu Ende zu bringen, was bereits auf dem Maskenball seinen Anfang genommen hatte. Wolfrath Lübben verschwieg seinen Eltern zunächst die Freundin aus der Provinz. Er liebte seine Juliane sehr, doch insgeheim plante er, die Geschichte nach dem Abschluss seiner Ausbildung im Niemandsland zu beenden. Bis zu jenem Tag im Dezember 1964, als Juliane Lübben ihm unter Tränen mitteilte, dass sie schwanger sei. Es bestehe kein Zweifel, sie habe sich bereits allen Tests unterzogen. Wolfrath Lübben gefror das Blut in den Adern, Hunderte von Bildern schossen im auf einmal durch den Kopf. Zunächst dachte er daran, seinen Freund Johannes Schmal um Beihilfe zu einer Abtreibung zu bitten, eine Idee, die er noch im gleichen Augenblick wieder verwarf. Dann kam ihm der absurde Gedanke einer Flucht zur See in den Sinn, einfach nie wieder an Land gehen, zumindest nicht in Deutschland. Doch schließlich setzte sich sein kühler protestantischer Geist durch. Er würde sich seiner Verantwortung stellen, gleichwohl wissend, dass sich sein Leben von nun an radikal ändern sollte. Kurz vor Weihnachten 1964 reisten Wolfrath Lübben und Juliane Gundermann nach Hamburg. Wolfrath Lübben hatte zuvor, in einem langen Brief, seinen Eltern gebeichtet. Das anschließende Telefonat mit seinem Stiefvater würde er zeit seines Lebens nie vergessen.
Der Empfang in der Poppenbütteler Villa der Blaus war ebenso eiskalt wie das Hamburger Dezember-Wetter. Bewahrte Karl Hubertus Blau noch seine typisch hanseatische Contenance, so konnte Hildegard Blau ihre Abneigung der zukünftigen Schwiegertochter gegenüber kaum verbergen. Für sie war der Fall klar: Diese unverschämte Person hatte sich ihren Sohn geangelt, sich bewusst in andere Umstände versetzen lassen, um ihn nun nach Strich und Faden zu schröpfen. Juliane Gundermann freilich wusste gar nicht, wie ihr geschah, denn ihr Wolfrath hatte stets nur vage von seiner Hamburger Heimat gesprochen und mit keiner Silbe erwähnt, dass seine Eltern vermögend waren. Sie wäre auch niemals auf die Idee gekommen, ihn nach so etwas zu fragen. Im April 1965 heirateten Wolfrath Lübben und Juliane Gundermann in Hamburg, protestantisch, Juliane Gundermann war bereits im dritten Monat schwanger. Gegen den ausdrücklichen Willen von Wolfrath Lübbens Eltern beschloss das junge Ehepaar, zunächst in Ludwigshausen zu leben, denn Juliane Lübben war gerade befördert worden – zur jüngsten Personalleiterin der Region. Wolfrath Lübben hingegen hatte seine Ausbildung abgebrochen, woraufhin er lediglich eine Anstellung als Produktionsleiter einer kleinen Schuhfabrik in einem Dorf im Grenzland zwischen Ludwigshausen und Frankreich fand. Im September 1965 wurde der erste und einzige Sohn von Wolfrath und Juliane Lübben, Jan Lübben, in Ludwigshausen geboren.
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Das Leben der kleinen Familie Lübben, die nun im Feiner-Leute-Viertel Römerschanze, am Truffaud-Ring 255, residierte, schien nur nach außen hin perfekt. Im Frühjahr 1974 waren schon rund zehneinhalb Jahre vergangen, seit Wolfrath Lübben am stets gottverlassen wirkenden Ludwigshausner Bahnhof angelangt war. Sein Sohn Jan, den er über alles liebte und der, seinerseits, auf ungewöhnliche Art und Weise an seinem Vater hing, würde dieses Jahr schon seinen zehnten Geburtstag feiern. Doch in der Ehe zwischen Wolfrath und Juliane Lübben, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand, kriselte es bereits seit Jahren. Karl Hubertus und Hildegard Blau hatten ihre Schwiegertochter nie akzeptiert und ließen Juliane Lübben dies bei jedem Zusammentreffen deutlich spüren. So waren insbesondere die gemeinsamen Familienurlaube in der Blauschen Ferienresidenz Las Palmeras auf Teneriffa für Juliane Lübben ein Graus. Einerseits war sie von dem Luxus des riesigen Anwesens mit Atlantikblick und Dienstboten beeindruckt; auch machte es sie glücklich, ihren Mann und ihren Sohn so sehr zufrieden zu sehen, die sich in Las Palmeras stets pudelwohl fühlten. Andererseits fühlte sie sich von der typisch hamburgischen, blasiert-herablassenden Art ihrer Schwiegereltern erniedrigt, die keine Gelegenheit ausließen, ihr, wenn auch subtil, zu zeigen, dass sie ein Schmuddelkind war, nicht gut genug für ihren Sohn, nicht gut genug als Mutter für ihren Enkel Jan. So wurde letzterem, während der Aufenthalte in Las Palmeras, stets ein Kindermädchen, Fabia, zugewiesen, das ihn rund um die Uhr versorgte, was für Juliane Lübben natürlich nur eine weitere Schmach bedeutete. Doch diese rächte sich auf ihre Weise, indem sie sich nämlich strikt weigerte, dem stetigen Drängen der Schwiegereltern nachzugeben, die Familie möge doch endlich Ludwigshausen verlassen, um nach Hamburg zu ziehen, damit dort, so der offizielle Tenor, Wolfrath Lübben langsam aber sicher die Firmengeschäfte übernehmen könne. Juliane Lübben dachte indes überhaupt nicht daran, ihr geliebtes Ludwigshausen aufzugeben, wo sie sich mit viel Schweiß und Ellenbogen eine mehr als respektable Position erkämpft hatte. Was wollten denn die versnobten Herrschaften aus Hamburg, verdiente sie zwischenzeitlich nicht sogar das Dreifache wie ihr Wolfrath, hatte sie diesem nicht sogar zu einem anständigen Arbeitsplatz verholfen? Ihre in der Heimat gewonnene Machtposition ließ Juliane Lübben auch ihren Mann zunehmend spüren, demgegenüber sie sich im Laufe der Zeit einen etwas herrischen, stets unterschwellig autoritären Ton angewöhnt hatte. Wolfrath Lübben war hingegen von Natur aus eher ein friedliebender, gutmütiger Mensch, der sich aus der Situation rettete, indem er immer mehr Zeit im Kreise seiner alten Freunde verbrachte. So fuhr er an den Wochenenden mit Rudi Fleischmann Rallyes, ging mit Johannes Schmal zum Angeln auf dessen Wochenendgrundstück Seefeld, wo die beiden häufig mehrere Tage verbrachten, oder widmete sich seinem Ehrenamt als Vergnügungswart im lokalen Automobilclub. Sein Freund Johannes Schmal hatte unterdessen in der Ludwigshausner Innenstadt eine gutgehende internistische Praxis eröffnet, die auch schnell aufgrund ihrer hübschen Arzthelferinnen bekannt wurde. Die Ludwigshausner Tratschgesellschaft munkelte bereits, dass mit den schönen Gehilfinnen auf dem Seefeld recht unkatholische Orgien gefeiert würden, ein Gerücht, das natürlich auch ins Chefbüro der Juliane Lübben vordrang. Tatsache war, dass sich Dr. Johannes Schmal mit seinen recht häufig wechselnden Assistentinnen zuweilen in seinem Sprechzimmer vergnügte; die Orgien auf dem Seefeld waren jedoch frei erfunden. Mehr noch, laut einem ungeschriebenen Kodex, der zwischen den Busenfreunden herrschte, war das Seefeld-Anwesen streng frauenfreie Zone und galt als geschütztes Reservat für maskuline Vergnügungen wie Angeln, Bogen schießen, Segeln, Modellflugzeuge bauen, Grillen und Saufen. Dennoch sorgte das böse Gerücht für einen furchtbaren Ehestreit im Hause Lübben, der, paradoxerweise, dazu führte, dass Wolfrath Lübben gleich für ganze vierzehn Tage auf dem Seefeld einzog, wo es eine komfortable Blockhütte gab. Quasi um sich für das hässliche Gerede der Ludwigshausner Plebejer zu rächen, beschlossen Johannes Schmal und Rudi Fleischmann – auch letzter hatte zwischenzeitlich eine eigene Zahnarztpraxis eröffnet – ihren Freund Wolfrath in der Tat mit einer Party auf dem Seefeld zu überraschen, zu der sie sämtliche ihrer Sprechstundenhilfen einzuladen gedachten, dabei bewusst das einmalige Brechen ihres Ehrenkodex` in Kauf nehmend, handelte es sich doch schließlich um eine Ausnahmesituation. Und so kam es, am ersten Juni-Wochenende 1974, zu jener Jahrhundertorgie an einem verträumten Waldsee, die in die Annalen von Ludwigshausen eingehen sollte und die im Laufe der Folgewochen durch zahlreiche Übertreibungen und Lügen immer weiter aufgebauscht wurde. Natürlich wurde auch Juliane Lübben der Vorfall zugetragen, noch dazu auf eine ihr höchst unangenehme Art und Weise, von einem ihrer Industriearbeiter. Juliane Lübben kochte vor Wut und schwor auf Rache, wenn sie auch noch nicht wusste wie. Einige Tage später beschloss Wolftrath, nach Hause zurückzukehren, und Juliane machte zunächst gute Miene zum bösen Spiel, allein schon zuliebe ihres Sohnes Jan, dem sie, ob der Abwesenheit des Vaters, etwas von einer Dienstreise vorgelogen hatte und der sich wie wahnsinnig über dessen Heimkehr freute.
Am letzten Juni-Wochenende stand mit dem großen Grumbierebroode (Dialektal: Traditionelles Kartoffel-Rösten im Holzkohlenfeuer) auf dem Birkenhof, einem in der Nähe des Stadtteils Römerschanze mitten im Wald gelegenen Biergarten, eines der großen Festlichkeitsglanzlichter des Ludwigshausner Sommerkalenders auf dem Plan. Wolfrath Lübben hätte sich eigentlich am liebsten mit seinen Kumpanen Johannes Schmal und Rudi Fleischmann verabredet, traute sich aber, nach den Vorfällen der vergangenen Wochen, nicht, mit dem Vorschlag herauszurücken. Also beschloss er, mit seiner Frau Juliane und seinem Sohn Jan alleine zum Birkenhof hinunter zu fahren, in der sicheren Hoffnung, die Freunde dort ohnehin anzutreffen. Nach einigem Suchen fanden die drei in dem weitläufigen Biergarten mit Eichenbestand einen schattigen Tisch, Wolfrath Lübben kaufte eine Portion Grillkartoffeln, eine Weinschorle für seine Frau, eine Fanta für seinen Sohn und für sich selbst einen Schoppen Bier. Doch schon nach einer knappen Stunde kam es, wie es kommen musste: Mit quietschenden Reifen fuhr der dicke Ami- Schlitten von Rudi-Fleischmann auf dem Parkplatz des Ausflugslokals vor, dem Rudi Fleischmann selbst, Johannes Schmal und drei miniberockte junge Damen entstiegen. Wolfrath Lübben wollte schon seinen Arm zum Winken erheben, als er von seiner Frau mit einem autoritären, scharfen: „Wag’s dich nicht!“ unterbrochen wurde. In diesem Augenblick überfiel Wolfrath Lübben eine Zornesattacke. Er hatte das Gehabe seiner Frau ein für alle Male satt. Sein Puls erhöhte sich dramatisch, er begann zu schwitzen, zitterte, sein Gesicht wurde erst weiß, dann feuerrot, gleichzeitig verspürte er eine Mischung aus Schwindel und Ohnmacht. Er vergaß jetzt, dass sein Sohn Jan am Tisch saß, er vergaß jetzt, dass er sich in einem voll besetzten Biergarten befand, er spürte nur noch seine unendliche, in Jahren aufgestaute Wut, einen Hass, der wie eine nukleare Explosion aus seinem Magen hervorzubrechen schien. Ohne ein Wort zu sagen, sprang er vom Tisch auf, dabei seinen Stuhl umstoßend. Er begab sich mit langen Schritten zum Parkplatz, den er, eine riesige Staubwolke hinterlassend und mit quietschenden Reifen, in seinem R5 Richtung Römerschanze verließ. Blind vor Zorn und mit stark überhöhter Geschwindigkeit raste er die alte Wehrmachtstraße hinauf, die den Birkenhof mit dem Wohnviertel Römerschanze und dem Truffaud-Ring verband. In einer ersten Kurzschlussreaktion beschloss er, ins Sportheim des Römerschänzer Fußballklubs zu fahren, um sich zu betrinken. Dort angekommen, parkte er seinen Wagen direkt vor dem Eingang, stürmte die drei Stufen des Vereinslokals hoch, bestellte sich an der Theke sofort ein Pils und einen Kartoffelschnaps, dem vier weitere Biere folgten, die er mit vier weiteren Kartoffelschnäpsen herunterspülte. Doch der Alkohol heizte seinen Zorn erst richtig auf, er wollte nur noch eins, auf alles scheißen, sich einfach gehen lassen, sich hemmungslos besaufen, sollten ihn doch alle am Arsch lecken heute, Gott verflucht. Jetzt würde er noch in die Stadt, ins Pilsstübchen, fahren, um dort weiterzutrinken, bis zur Besinnungslosigkeit, nur vergessen, nur vergessen! Er nahm die drei Stufen des Sportheims in einem Satz, sprang regelrecht in den Sitz seines Renaults und fuhr, erneut eine weit sichtbare Staubwolke hinter sich lassend, vom Schotterparkplatz des Fußballvereins. Wie vom Wahn getrieben, beschloss er, noch eine Runde um den Truffaud-Ring zu drehen, einer Sackstraße, wobei er seinen orange-roten R5 auf mindestens hundert Sachen brachte; schließlich, nach dem Umfahren des Wendehammers am Ende der Römerschanze und nachdem er sich eine weitere Stuyvesant angezündet hatte, fuhr er mit Vollgas Richtung Innenstadt. Doch jetzt zeigte sich bereits die Wirkung der fünf Pils und der fünf Schnaps, die Wolfrath Lübben hastig regelrecht in sich hineingeschüttet hatte. Auf der Höhe der Abfahrt Richtung Birkenhof fiel ihm die Zigarette, die ihm, wie immer, lässig im Mundwinkel steckte, in den Schoß. Reflexartig griff er nach dem Glimmstängel, der sich bereits in den braunen, perforierten Plastiksitz des R5 brannte, um, in diesem Augenblick, wie ohnmächtig, einen dumpfen Schlag an der rechten Seite des Wagens zu verspüren. Er sah ganz klar, was sich da im Bruchteil von Sekunden abspielte, doch es war wie ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gab. Wolfrath Lübben hatte keine Chance. Mit knapp Tempo 100 war er in eine Kurve gerast, die allerhöchstens 70 Sachen vertrug, als ihm seine Kippe in den Fahrersitz fiel und er durch die Ablenkung gegen den Bordstein geriet. Durch den Aufprall wurde ihm mit brutaler Gewalt das Lenkrad aus der linken Hand geschlagen, der Wagen landete mit titanischer Wucht frontal auf einer der gerade erst neu installierten stählernen Straßenlaternen in Mastform. Wolfrath Lübben war nicht angeschnallt, sein Kopf durchschlug die dünne Windschutzscheibe des R5, die in tausend Stücke ging, während sich die scharfen Metallteile des Armaturenträgers wie Stilette in seinen Oberkörper bohrten. Er verlor sofort das Bewusstsein.
Der spektakuläre Unfall hatte die biederen Anwohner der umliegenden Häuser und Wohnungen aufgeschreckt, die von dem ohrenbetäubenden Knall des Aufpralls von ihren feisten sonntagnachmittäglichen Kaffeetafeln hochgescheucht worden waren. Schon zehn Minuten später war ein Rettungswagen zur Stelle, allerdings nur mit zwei Sanitätern besetzt: „Ooa heer, dänne hadds awwa bees vawischd!“ (Dialektal: „Oh jeh, den hat´s aber böse erwischt!“) war der Kommentar des ersten Retters. „Do gummo, was farre gailie Uur, hobb, dabba, die nemmschem jetzmo ab, bevor de Doggda kommd!“ (Dialektal: „Da schau mal, was für ´ne geile Uhr, schnell, die nimmst du ihm jetzt mal ab, bevor der Notarzt kommt!“), bemerkte der Zweite. Dann holte der Erste ein kleines Zängchen aus der Tasche seines Kittels hervor, um Wolfrath Lübben einen goldenen Eckzahn zu entfernen, den er noch im letzten Moment entdeckt hatte. Als wenige Augenblicke später Notarztwagen, Polizei und Feuerwehr am Unfallort eintrafen, war der leblose, blutüberströmte, entstellte Körper Wolfrath Lübbens bereits gefleddert. Nach dem Vorfall auf dem Birkenhof nahm sich die ebenfalls vor Zorn bebende Juliane Lübben ein Taxi und fuhr mit ihrem Sohn Jan zu ihren Eltern in die Hindenburgstraße. Sie wollte Jan übers Wochenende dort lassen, denn es war klar, dass es heute zu einem schlimmen Streit zwischen ihr und Wolfrath kommen würde. Ein Beinbruch war das Ganze insofern nicht, als dass Jan Lübben ohnehin am liebsten bei seinen Großeltern und bei Maxi Dieffenbach in der Hindenburgstraße war, wie sie sich mit einem schamhaften Gefühl beißender Eifersucht eingestehen musste. Für die Rückfahrt auf die Römerschanze beschloss sie, den Bus zu nehmen, nicht nur, um Geld zu sparen, sondern auch, um das nach Hause kommen in die leere Wohnung hinauszuzögern. In der Grünwälder Straße, auf der Höhe des Neusprachlichen Gymnasiums Ludwigshausen, kamen dem Bus ein Rettungsfahrzeug, ein Notarztwagen, ein Polizeiauto und ein Feuerwehreinsatzwagen, allesamt mit heulenden Sirenen und Blaulicht entgegen. Juliane Lübben nahm die Szene kaum war, zu sehr war sie mit ihren eigenen trüben, zornigen Gedanken beschäftigt. Am Ende der Grünwälder Straße nahm der Bus die scharfe Linkskurve, am Schaufenster der Metzgerei Schlüter vorbei, um in den Stadtteil Römerschanze einzubiegen, der früher einmal ein eigenes Dorf gewesen war. Dann ging die Fahrt weiter, bis zum Beginn des Truffaud-Rings. Auf der Höhe der Abfahrt Richtung Birkenhof, die, von der Busfahrspur aus gesehen, auf der rechten Seite lag, sah Juliane Lübben auf der gegenüberliegenden Straßenseite plötzlich ein völlig zertrümmertes Autowrack, das regelrecht mit einer Straßenlaterne verschmolzen schien, die, wie ein gefallener Riese, halb umgeknickt war. Der Trümmerhaufen qualmte, Benzin oder Öl war auf die Straße gelaufen. An der Unfallstelle gab es einen Menschenauflauf, während die Feuerwehr versuchte, die Überreste des Wagens von dem Laternenmast zu trennen. Juliane Lübben hatte plötzlich das Gefühl, wie ein schwereloser Körper ins Bodenlose zu fallen, und ihr wurde kalt, furchtbar kalt, trotz des schwülheißen Juni-Nachmittages, dessen Sonnenstrahlen gnadenlos durch die großflächigen Scheiben des Stadtbusses fielen. In der Masse zerfetzten Bleches und blutverschmierter Glassplitter erkannte sie die Überreste des orange-roten R5 ihres Mannes Wolfrath. Die ersten, die im Ludwigshausner Krankenhaus eintrafen, um sich nach dem verunglückten Freund zu erkundigen, waren Johannes Schmal und Rudi Fleischmann. Etwa zwei Stunden später kam die, zumindest äußerlich, gefasste Juliane Lübben hinzu, Wolfrath Lübben wurde zu diesem Zeitpunkt schon einer Notoperation unterzogen, bei der Johannes Schmal anwesend sein durfte. Als, nach rund vier Stunden, Johannes Schmal, mit rotunterlaufenen Augen den OP verließ, sagte er zu Juliane Lübben: „Mach dir keine Sorgen, der Wolfrath schafft das schon.“ Doch Johannes Schmal sollte nicht recht behalten.
Drei Tage später starb Wolfrath Lübben an allgemeinem Organversagen, zu schwer waren die inneren Verletzungen, die ihm das Blech seines geliebten Renaults zugefügt hatten. Juliane Lübben verlor jetzt die Nerven, sie wurde von einer Art Wahn befallen. Letztendlich hatte sie die Schuld an allem, so redete sie sich ein, zu sehr hatte sie sich vom bösartigen Geschwätz der Ludwigshausner Tratscher beeinflussen lassen, zu wenig hatte sie ihrem Wolfrath vertraut. Jetzt war er tot. Sie verspürte eine tiefe, hemmungslose, nie geahnte Schwere und Traurigkeit, gepaart mit panischer Angst. Am meisten Angst hatte sie freilich vor der Reaktion der Schwiegereltern in Hamburg, die sie sich nicht auszumalen wagte. Also beschloss sie, Johannes Schmal zu bitten, bei den Blaus anzurufen. Trotz des schlechten Leumunds, den Johannes Schmal in Ludwigshausen als Schürzenjäger und Säufer genoss, war dieser doch bei Karl Hubertus und Hildegard Blau hoch angesehen, als Doktor der Medizin und bester Freund ihres Sohnes. Der treue Johannes Schmal willigte ein, ebenso wie er einwilligte, Jan Lübben für einige Tage bei sich aufzunehmen, denn man hatte beschlossen, diesem von der ganzen Angelegenheit zunächst überhaupt nichts zu erzählen. Man log ihm vor, der Vater sei plötzlich schwer krank geworden, so schwer, dass man ihn nicht einmal im Krankenhaus besuchen könne, so schwer, dass sogar die Wohnung am Truffaud-Ring 255 „von den Bazillen“ gesäubert werden müsse. Und so kam es, dass Jan Lübben seinen Vater nie wieder zu Gesicht bekam, weder im Krankenhaus, noch bei der Beerdigung. Erst gut eine Woche später durfte er wieder nach Hause kommen. Jan Lübben sollte diesen Tag Zeit seines Lebens nie vergessen. Auf dem Parkplatz vor der elterlichen Wohnung stand, zu seiner großen Überraschung, der silbergraue Mercedes seines Hamburger Großvaters Karl Hubertus Blau. Johannes Schmal führte ihn bis zur Haustüre, wo ihn bereits seine Mutter, mit bleichem Gesicht und ganz in Schwarz gekleidet, erwartete. Sie begrüßte ihn wortlos, indem sie ihm über den Kopf strich, anschließend leerte sie den außen liegenden Briefkasten, der von all den schwarz umrandeten Karten und Briefen regelrecht überquoll. Jetzt wusste Jan Lübben, dass etwas ganz Schlimmes passiert sein musste. Sie begaben sich nach oben, in den zweiten Stock, wo die Wohnung der Lübbens lag. Im Wohnzimmer saßen Karl Hubertus und Hildegard Blau, die ihren Enkel mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange begrüßten. Dann ging alles ganz schnell. Karl Hubertus Blau sagte: „Setz dich bitte hin mein Junge, ich muss dir etwas sagen. Dein Vater ist tot, es tut mir sehr leid Jan.“ Jan Lübben schoss das Blut in die Wangen, wie immer, wenn er sehr aufgeregt war, dicke Tränen quollen aus seinen Augen, er brachte kein Wort heraus. Bei diesem Anblick fingen Juliane Lübben und Hildegard Blau ihrerseits erneut zu schluchzen an. Karl Hubertus Blau, der, der Gruppe den Rücken zuwendend, durch das zum Garten hin gelegene große Fenster hinausblickte, fauchte mit scharfer, trockener Stimme: „Hört auf mit der Heulerei, Wolfrath ist jetzt tot, das bringt ihn auch nicht wieder zurück!“
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