Читать книгу Hummel, Hummel, Latschenflicker - Sven E. Janssen - Страница 8
MÜTTER
ОглавлениеFür Juliane Gundermann war die Nachricht von der Schwangerschaft, im Dezember 1964, zunächst eine absolute Katastrophe. Ihre streng katholische Mutter, Gerlinde Gundermann, weinte tagelang völlig hilflos, während ihr ebenso autoritärer wie jähzorniger Vater, Wilhelm Gundermann, wochenlang nicht mit ihr sprach, dabei dunkle Todesdrohungen gegen den Vater des Kindes ausstoßend. Konkrete Hilfe hatte sie von keiner Seite zu erwarten. Dennoch, eine Abtreibung kam für sie nicht infrage, auf jeden Fall würde sie das Kind haben, daran gab es keinen Zweifel. Vom ersten Augenblick an war sie akribisch darauf bedacht, sich gesund zu ernähren, keinen Tropfen Alkohol zu trinken, nicht zu rauchen und stets ausreichend zu schlafen. Nicht einmal ‚hässliche’ Filme schaute sie sich an, wie sie stets betonte, so sehr war sie um die Gesundheit des ungeborenen Kindes bedacht. Juliane Gundermann stellte ihr ganzes Leben in den Dienst der Schwangerschaft, dabei jegliches Ego vergessend. Der viel unreifere Wolfrath Lübben bewunderte sie dafür, auch wenn er, für seinen Teil, an seinem bis dato geführten Junggesellen-Lotterleben zunächst noch nicht allzu viel änderte. Als Jan, im September 1965, geboren wurde, war Juliane Lübben, geborene Gundermann, die glücklichste Ehefrau und stolzeste Mutter der Welt. Jetzt lebte sie nur noch für das Baby. In der Firma machte sie Überstunden, damit ihr kleiner Sonnenschein immer ´wie aus dem Ei gepellt´ daherkäme, wie sie stets zu sagen pflegte. Jede noch so kleine Arbeitspause nutzte sie aus, um von der Westendstraße, in der ihre Fabrik lag, die gut 20 Minuten zu Fuß in die Hindenburgstraße, wo ihre Mutter tagsüber das Kind hütete, fast im Laufschritt zu bewältigen, um den Säugling wenigstens für einige Augenblicke im Arm zu halten. Zwar bedauerte sie es zutiefst, nicht mehr Zeit für ihren Sohn zu haben, dennoch war sie fest davon überzeugt, dass ihre harte Arbeit und die damit verbundene ökonomische Sicherheit das Beste für ihre Familie seien. All die während der Schwangerschaft erlittenen Ängste und Depressionen waren wie weggeblasen. Zwar war auch der junge Vater, Wolfrath Lübben, wie aus dem Häuschen, jedoch ließ ihm Juliane Gundermann quasi keine Chance, sich überhaupt mit dem Kind zu beschäftigen. Eigentlich blieb ihm nur das tägliche Bad des kleinen Jan, viel mehr war nicht drin.
Zum einjährigen Geburtstag von Jan Lübben schenkten ihr einige Arbeiter ´ihrer´ Fabrik eine etwa 15 Zentimeter große, weiche Stoffpuppe für das Kind, mit Stupsnase, blauen Augen und blondem Nylon-Haarschopf. Juliane Lübben war ganz baff, denn die Puppe sah ihrem Jan tatsächlich ein wenig ähnlich. Von der Puppe sollte sich Jan Lübben Zeit seines Kleinkinderlebens nie wieder trennen, er liebte seine ‚Buba’, so wie er das Spielzeug, kaum dass er sprechen konnte, taufte, über alles, trug sie Tag und Nacht im Arm. Einmal, Jan war etwa knapp drei Jahre alt, ging seine Großmutter, Gerli Gundermann, mit ihm in die Stadt, zum Einkaufen, Jan saß in seinem blauen Stoffkinderwagen, wie immer seine ‚Buba’ ganz fest im Arm haltend. Doch dann passierte die Katastrophe. Von der Großmutter unbemerkt, fiel die Puppe auf den Gehsteig, und Jan hörte nicht mehr auf zu schreien. Ohne zu zögern nahm sich Juliane Lübben in der Firma einige Tage frei, und suchte, zu Fuß, die ganze Stadt ab. Ihr war es scheißegal, was die Leute dachten. Es war ihr scheißegal, dass sie sich möglicherweise erniedrigte, sich vor den Augen sämtlicher Spießbürger der Kleinstadt lächerlich machen könnte; Sie suchte hinter jedem Busch, in jedem Hauseingang, in jeder Mülltonne, bis sie schließlich, am fünften Tag, Jans ‚Buba’ im Papierkorb einer Bushaltestelle fand. Es musste wohl ein Hund gewesen sein, der zuvor das Gesicht der kleinen Puppe weitestgehend zerstört hatte, die winzige Stupsnase fehlte ganz, ein Auge war herausgebissen. Am nächsten Tag beauftragte Juliane Lübben nicht weniger als drei Chemielaboranten ‚ihrer’ Firma mit der Rekonstruktion des Gesichtchens der Puppe, die sie, gut zwei Wochen später, ihrem überglücklichen Sohn wieder in die Arme drückte.
Nach dem Tod ihres Mannes Wolfrath begann für Juliane Lübben ein Martyrium, für das insbesondere ihre Hamburger Schwiegereltern sorgten, die nun keinerlei Anlass mehr sahen, Gnade mit der stets ungeliebten Mutter ihres Enkels Jan walten zu lassen. Für Karl Hubertus und Hildegard Blau war der Fall eindeutig klar: Juliane Lübben hatte Wolfrath durch ihre übertriebene Eifersucht und ihre herrische Art in den Tod getrieben. Überhaupt stand die Schwiegertochter für all das Schlechte, Dunkle, Schäbige, Verruchte, ja Widerwärtige, was die Blaus in Ludwigshausen zu erkennen glaubten. Auf keinen Fall wollten sie es zulassen, dass diese Person nun auch noch ihren Enkelsohn großzöge und somit der ungute Einfluss der verhassten süddeutschen Provinz diesen womöglich ganz verdürbe. Zunächst beantragten sie selbst das Sorgerecht für Jan Lübben, was aber vom zuständigen Familiengericht – wegen des Vorhandenseins einer in jeder Hinsicht gesunden leiblichen Mutter, jedoch auch aus Altersgründen – abgelehnt wurde. Von dieser, wenn auch absehbaren, Niederlage nur noch motiviert, kam den Blaus nun die Idee, für Jan Lübben einen Vormund bestallen zu lassen. Keiner könnte für diese Aufgabe, ihrer Meinung nach, besser geeignet sein, als Johannes Schmal, der sich, nach langem Zögern und vielen schlaflosen Nächten, schließlich grundsätzlich bereit erklärte. Doch Karl Hubertus und Hildegard Blau hatten nicht mit der hartnäckigen Verbissenheit der Juliane Lübben gerechnet, die mit allen Mitteln um ihren Sohn kämpfte und die den Jahre dauernden, absurden, unfairen und perversen Rechtsstreit schließlich auch gewann. Zwischen den beiden Parteien, ja den beiden Welten, stand stets Jan Lübben, hin- und hergerissen zwischen Hamburg und Ludwigshausen, dabei ständig gemartert vom eigenen schlechten Gewissen, das er den streitenden Parteien gegenüber hatte. Nach dem Tod ihres Mannes Wolfrath opferte sich Juliane Lübben – getrieben von ihrem schlechten Gewissen und ihrer abgöttischen Liebe zu ihrem Sohn – noch mehr auf. Sie arbeitete nun noch besessener in ‚ihrer’ Firma, wollte sie doch beweisen, dass sie Jan auch ohne finanzielle Hilfe aus Hamburg ein schönes und sicheres Leben würde bieten können. Die Erziehung Jans überließ sie freilich weiterhin überwiegend ihren Eltern in der Hindenburgstraße, denen sie so viel Geld zusteckte, wie sie nur eben konnte. Im Laufe der Zeit musste sie, mit verhohlener Eifersucht, für die sie sich selbst schämte, feststellen, dass ihr Sohn viel lieber bei den Großeltern, beziehungsweise bei seiner ‚Tante’ Maxi Dieffenbach war, als in der mütterlichen Wohnung am Truffaud-Ring, wo seit dem Tode Wolfrath Lübbens stets eine unterschwellig vorhandene depressive Stimmung nicht verarbeiteter Trauer vorherrschte. So war es vor allem diese nie besprochene, nie gelebte, ja regelrecht tabuisierte Trauer, die dazu führte, dass sowohl Jan Lübben, als auch seine Mutter in eine tiefe Depression verfielen. Juliane Lübbens Gegenmittel bestand zunächst darin, dass sie in einen regelrechten Kaurausch verfiel, der sich insbesondere insofern äußerte, als dass sie sich immer mehr und immer teurere Kleidung anschaffte. Auch ein gebrauchter Mercedes stand plötzlich vor der Tür, denn nie wieder in ihrem Leben wollte sie sich in ein ‚kleines’ Auto setzen. Hinzu kamen teure Urlaubsreisen, zu denen sie stets auch ihren Jan mitnahm. Zwar verdiente Juliane Lübben, für Ludwigshausner Verhältnisse, sehr gut, dennoch baute sich im Laufe der Zeit, wenn auch zunächst wie unbemerkt, ein ein immer bedrohlicheres Ausmaß annehmender Schuldenberg auf. Wenn sie gar nicht mehr weiter wusste, rief sie bei Karl-Hubertus Blau an, um sich von diesem Geld zu leihen; zwar half ihr letzterer, um seines Stiefenkels willen, mehrmals aus der Patsche, doch bald näherte sich der Tag, an dem der konservative hanseatische Kaufmann genug von den Eskapaden seiner ungeliebten Schwiegertochter hatte. Juliane Lübben begann nun, noch verbissener in der Firma, einer reinen Männerwelt, zu arbeiten, wo sie sich längst nicht am Ende der Karriere-Leiter sah. Und so zog sie, wenn auch in einem sehr langsamen, schleichenden Prozess, den Groll ihrer Vorgesetzten auf sich, die eines Tages des, ihrer Meinung nach, ‚unverschämten Weibes’ überdrüssig geworden, gezieltes Mobbing anordneten. Ob des zunehmenden Drucks begann Jan Lübbens Mutter damit, am Abend Schlaf- und Beruhigungspillen zu schlucken, deren betäubenden Effekt sie morgens mit Aufputschmitteln auszugleichen trachtete. Juliane Lübben, die, außer Maxi Dieffenbach, über die sie, wegen deren vermeintlicher Kleinbürgerlichkeit, so manches Mal die Nase rümpfte, keine Freunde hatte, suchte nun bald ihr Heil in einer lange Jahre währenden, innigen Beziehung zu Dionysos. Ihr einziger Trost in all den düsteren Jahren, die auf den Tod des Wolfrath Lübben folgten, war stets ihr Sohn Jan, dem sie nach wie vor jeden Wunsch von den Lippen ablas, ihn dabei verwöhnend, so gut sie nur eben konnte. Sie, die fast keine Hilfe von außen erfuhr, war, auf ihre Weise, eine vorbildliche, vor allem aber eine grenzenlos liebende Mutter.
Etwa zwei Jahre nach dem Tode ihres Wolfrath machte sie einen ebenso kurzen wie definitiv letzten Versuch, erneut mit einem Mann zusammenzuleben, ein Experiment, das wenige Monate später in einem infernalischen Streit im Flur der Lübbenschen Wohnung endete, bei der sich Juliane Lübben, vor den Augen Jans, der, wie zu Eis erstarrt, die Szene aus der einen Spalt weit geöffneten Tür seines Kinderzimmers beobachtete, eine laut schallende Ohrfeige eintrug. Mit dem Eintreten Jans in die Pubertät verlor Juliane Lübben dann auch noch ihren letzten Halt: Bereits mit 13 Jahren war Jan Lübben nicht mehr kontrollierbar und setzte seinen Willen nun zunehmend mit unbändigen Zornes-Attacken durch. Weitere zwei Jahre später war aus ihrem einst ruhigen, gutmütigen, fröhlichen Kind ein rotzfrecher, arroganter, völlig unbeherrschbarer Bengel geworden, der ihr durch seine Eskapaden das Leben endgültig zur Hölle machte.