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g) Ordre-public-Vorbehalt

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Im gesamten Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gilt der sog. Ordre-public-Vorbehalt, Art. 72 AEUV. Danach bleibt die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit unberührt.65 Art. 72 AEUV ist eine Vorgabe für die EU, ihre Kompetenzen nach Titel V dergestalt wahrzunehmen, dass die nationale Zuständigkeit für die Wahrung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der öffentlichen Sicherheit unberührt bleibt; insoweit ist Art. 72 AEUV eine Kompetenzausübungsschranke für die EU.66 Dabei bleibt nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten selbst unberührt, sondern deren Wahrnehmung als Konsequenz aus der Kompetenzübertragung auf die EU in den Bereichen Justiz und Inneres durch Titel V AEUV.67 Die EU besitzt keine Exekutivfunktion im Bereich des Polizeirechts in den Mitgliedstaaten und könnte polizeiliche Maßnahmen derzeit mangels eigener Vollzugsbeamten ohnehin nicht ergreifen. Nach den Ausführungen des BVerfG zum Lissabon-Vertrag („verfassungsfeste Integrationsschranke“, s. A.II.1.f.) erscheint fraglich, ob die Bundesrepublik an einer echten polizeirechtlichen Befugnisübertragung in größerem Umfang überhaupt mitwirken dürfte.68 Die EU darf nach Art. 72 AEUV insbesondere nicht durch Rechtsetzung in diesem Bereich auf die Befugnisse der Mitgliedstaaten einwirken.69

Diesen Grundsatz sahen einige mitgliedstaatliche Parlamente z. B. verletzt bei der DSRL-JI (dazu A.II.2.b.).70 Hierdurch würden Mitgliedstaaten zur Anpassung des innerstaatlichen Polizei- und Strafverfahrensrechts gezwungen.71

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Art. 72 AEUV ist aber auch dahingehend zu verstehen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gewisse Ausnahmen von EU-Grundsätzen erlauben. Art. 72 AEUV erhält insoweit die Bedeutung eines Rechtfertigungsgrundes für Abweichungen von EU-Grundsätzen.72 So können Mitgliedstaaten, auf Art. 72 AEUV gestützt, z. B. Binnengrenzkontrollen bei ernsthafter Gefährdung der inneren Sicherheit bis zu zwei Jahre wieder einführen, Art. 25 VO 399/2016.73

So wurden Binnengrenzkontrollen bei kulturellen oder politischen Großereignissen – etwa dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 – durchgeführt, um gewaltbereite Besucher fernzuhalten, aber auch in der sog. Flüchtlingskrise 2015/16 aufgrund massiver Zuwanderung74 und während der Corona-Pandemie 202075.

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Für die Zuständigkeit des EuGH findet sich in Art. 276 AEUV die Entsprechung zum Ordre-public-Vorbehalt aus Art. 72 AEUV. Aus der Zuständigkeit des EuGH ausgenommen sind gem. Art. 276 AEUV diejenigen Maßnahmen der Polizei, die nach Art. 82–89 AEUV getroffen wurden, weil sie im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit stehen.76 Die Beschränkung der Zuständigkeit des EuGH gilt – anders als Art. 72 AEUV – nicht für den gesamten Bereich des RFSR.

Binnengrenzkontrollen fallen aber unter Art. 77 Abs. 1 lit. a, Abs. 2 lit. e AEUV (2. Kapitel in Titel V) und darauf bezieht sich Art. 276 AEUV nicht. Der EuGH kann so die Zulässigkeit von polizeilichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Binnengrenzkontrollen überprüfen.77

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