Читать книгу Die Sprache der Blumen - Sven Haupt - Страница 10
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ОглавлениеDie kleine, grüne Graskugel schwirrte um Lilians Kopf herum und gab helle, trillernde Töne von sich. Nach einer weiteren Umrundung setzte sie sich auf den Kopf der Frau und faltete die beiden großen, roten Flügel auf dem Rücken zusammen. Sie sahen aus, als wären sie aus zahllosen winzigen Blütenblättern zusammengesetzt. Das kleine Wesen rollte einen langen, dünnen Rüssel aus seinem Blütengesicht und tupfte Lilian damit von oben auf die Nase. Die Frau lachte und verscheuchte den aufdringlichen Gast von seinem Rastplatz. Der kleine Flatterball hob mit einem Fiepen ab, flog einige Meter voraus und begann sich trillernd im Kreis zu drehen.
„Ich kann nicht glauben“, lachte Lilian, „dass das wirklich alles Pflanzen sind.“
„Und ich kann nicht glauben“, murrte der Affe, während er auf allen vieren vorausging, „dass eine ganze Gattung derart nutzlos und aufdringlich sein kann.“
„Gibt es denn verschiedene Arten von diesen fliegenden Blumen?“, fragte Lilian und winkte dem Grasball zu, der begeistert Loopings schlug.
„Dutzende“, stöhnte George. „Und alle sind sie farbenfroh und nervtötend.“
„Ich finde sie lustig“, erklärte Lilian.
„Warte mal ein paar Ewigkeiten“, murmelte George zu sich selbst, „dann lässt das nach.“
Lilian ließ den Blick über die zahllosen Astpfade schweifen, von denen sie auf allen Seiten umgeben waren. Überall wuchsen Pflanzen auf den schwebenden Wegen oder hingen in dichten Vorhängen davon herab. In ihnen zwitscherte, hupte oder trillerte eine Vielzahl bunter Geschöpfe inmitten nicht weniger bunter Blüten. Manche der breiteren Wege boten Platz für ganze Alleen von Bäumen. Diese wiederum stützten Astpfade darüber und bildeten so einen endloses Wirrwarr aus dicht bevölkerten, sich kreuzenden Wegen, die in einem fort stiegen oder fielen, Spiralen bildeten oder in Kreuzungen zusammenliefen.
Lilian fühlte sich vollkommen überfordert von dem Meer blühender Pflanzen, das sich in alle Richtungen erstreckte. Sie hatte sofort die Orientierung verloren, während ihr Weggefährte sie kontinuierlich und zielstrebig aufwärts führte, dem Licht entgegen.
„Ich frage mich“, flüsterte sie leise, „wie all diese Pfade in der Luft bleiben. Sie sind alle irgendwie miteinander verbunden, aber müsste nicht allein ihr eigenes Gewicht alles zum Einsturz bringen?“
Der Affe sah sie erstaunt an.
„Das ist eine sehr gute Beobachtung. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß, ist, dass sich die Gravitation auf den Astpfaden nicht ganz so verhält, wie man es erwarten würde. Ich vermute also, dass der Wald stark lokalisierte Kraftfelder generieren kann.“
Lilian runzelte die Stirn.
„Was heißt, sie verhält sich anders?“
„Die Pfade“, erklärte George, „lassen mich stabiler und sicherer laufen, als ich es allein könnte. Es fühlt sich manchmal an, als würde der Weg mich vom Abgrund fortschieben, damit ich nicht falle.“
Lilian spähte vorsichtig über den Rand des Pfades in den Abgrund hinunter.
„Das ist irgendwie beruhigend.“
Sie hatte schon ernsthaft überlegt, wie George auf allen vieren zu laufen. Einige der Wege waren äußerst schmal und wenn sie dicht neben sich in die Tiefe spähte, sah sie nichts außer einem endlosen Chaos sich kreuzender Pfade und weit unten in der Tiefe eine drohende Dunkelheit.
Sie riss sich von dem Anblick fort.
„Wo gehen wir überhaupt hin?“
„Nun“, entgegnete der Affe. „Wenn du nicht für den Rest deiner Tage mit einer Hand das Handtuch festhalten willst, dann sollten wir dir etwas zum Anziehen besorgen.“
Er deutete auf eine dicht mit Büschen bewachsene Plattform, die etwas abseits am Ende eines leicht abfallenden Spiralpfades neben ihrem Hauptweg hing. Der kleine Flatterball kannte offensichtlich ihr Ziel und war bereits vorausgeflogen.
„Diese Ecke“, erklärte George, als er sie den Pfad hinabführte, „habe ich schon vor langer Zeit entdeckt. Ich konnte nur nie etwas damit anfangen.“
Lilian folgte dem Schimpansen durch die dichten Büsche auf eine kleine Lichtung. Dort sah sie sich um und musste unwillkürlich lachen. Um sie herum standen etwa zwanzig kleine, schlanke Bäumchen, die allesamt weiße Kleider trugen. George war an einen der Bäume herangetreten, befühlte fachmännisch den Stoff und erklärte:
„Ganz gutes Material, aber nicht ganz mein Stil.“
„Stimmt“, erwiderte Lilian ernst und inspizierte die Bäume. „Vielleicht finden wir später noch etwas Farbenfroheres für dich … mit vielen Blüten.“
George schnaubte und wandte sich ab.
„Viel Spaß. Ich bin gerade mal um die Ecke, ich glaube, ich habe aus dem Augenwinkel Bananen erspäht.“
Lilian grinste und machte sich daran, einen passenden Baum zu finden. Keine zwei der Bäumchen hatten die gleiche Größe und es dauerte eine Weile, bis Lilian ein geeignetes Baumkleid gefunden und geerntet hatte. Der Stoff wurde auf der Innenseite von zahllosen kleinen Ästen in Form gehalten und sie gab sich große Mühe, die Pflanze nicht zu verletzen. Das Kleidungsstück selbst war sehr schlicht gehalten. Eine gerade Röhre aus Stoff mit zwei kurzen Ärmeln. Einfach, aber immer noch besser als ein Handtuch.
Lilian hatte sich gerade angezogen, als es neben ihr trillerte. Sie drehte sich um und sah die kleine Flatterkugel im leeren Astwerk des Bäumchens sitzen. Sie legte den kleinen Blütenkopf schief und pfiff eine anerkennend klingende Tonfolge.
„Danke sehr“, erwiderte Lilian und kraulte das kleine Geschöpf mit dem Zeigefinger am Bauch. „Es ist wirklich erstaunlich, was die Natur alles erschaffen kann.“
„Ich muss dich enttäuschen“, erklang die Stimme des Affen hinter ihr. Er kaute auf einer Banane. „Hier gibt es keine Natur und eine schaffende schon mal gar nicht.“
„Aber“, entgegnete Lilian, „irgendwo müssen all diese Wesen doch herkommen.“
„Nun, wer immer es war, die Natur hat nichts damit zu tun. Oder glaubst du, es ist die Natur, welche dir grünes Blut gibt und ganz nebenbei ein paar Organe verschwinden lässt?“
Lilian betrachtete ihren blassen Daumen, auf dem sich die grünliche Wunde bereits geschlossen hatte, aber immer noch gut zu sehen war. Ein gequälter Ausdruck zog über ihr Gesicht. Sie sah in den grünen, blühenden Himmel empor.
„Aber es ist doch ein Wald“, flüsterte sie. „Ein seltsamer Wald, aber dennoch ein Wald. Niemand baut Wälder. Sie entstehen und wachsen doch … natürlich.“
„So natürlich wie Kleiderbäume?“, fragte George unschuldig.
Lilian krauste die Stirn.
„Also ein Beweis ist das trotzdem nicht.“
„Nein?“, fragte George. „Den meisten würde es als Beweis reichen, aber vielleicht ist das auch mehr eine Logik für Affen.“
Er steckte sich das letzte Stück Banane in den Mund und warf die Schale so flink, dass Lilian kaum die Bewegung sah. Hinter ihr fiepte es verblüfft auf und der kleine Flatterball stürzte, in eine leere Bananenschale verheddert, zu Boden. Er schlug hektisch mit den Flügeln und versuchte laut pfeifend wieder in die Luft zu kommen, aber der Affe war schon über ihm und hob das zappelnde Wesen mit einem sicheren Griff vom Boden auf.
„Warum hast du das gemacht?“, rief Lilian erschrocken. „Er hat dir doch überhaupt nichts getan.“
„Er nervt“, kommentierte der Affe. „Ich habe schon für weniger mit Obst geworfen. Aber das ist nicht der Punkt. Sieh her!“
Er drehte das kleine Wesen um und fixierte einen der Flügel zwischen zwei Fingern.
„Was soll das, du tust ihm weh!“, rief Lilian aufgebracht.
„Es ist fliegendes Gemüse“, erklärte der Affe. „Entspann‘ dich und sieh hin.“
Lilian zog düster die Brauen zusammen, musterte aber stumm den Rand des Flügels. Sie stutzte.
„Zahlen“, flüsterte sie. „Zahlen und Striche.“ Sie starrte den Flügel an.
„Produktionscode und Seriennummer“, erklärte der Affe und warf den Flatterball mit einer nachlässigen Bewegung über die Schulter. Das Geschöpf raste davon und piepte laute, empört klingende Tonfolgen. Lilian sah ihm mit offenem Mund nach.
„Aber wie …?“, begann sie. „Wer …?“
„Sehr gute Fragen“, kommentierte der Affe. „Lass mich wissen, wenn du Antworten gefunden hast.“
„Das ist doch nicht möglich“, flüstert Lilian. Der Affe grinste.
„Ich habe dir doch gesagt, dass es ab hier nur noch seltsamer wird.“
Als sie wieder auf den Hauptweg traten, drehte sich George einmal flüchtig um sich selbst und wanderte dann in seinem Knöchelgang zügig davon.
„Ich verstehe wirklich nicht“, rief Lilian ihm hinterher, „wie du es schaffst, dich hier so gut zu orientieren.“
Ein Schwarm von etwas, das aussah wie gelb pulsierende, schnatternde Ballons zog in Formation an ihnen vorbei und verschwand im Gewimmel der mit Blüten beladenen Lianen, die wie bunte Wasserfälle von den umliegenden Astpfaden herabhingen. „Nicht nur, dass ich nicht weiß wo wir sind oder wohin wir eigentlich gehen, wir könnten schon das dritte Mal im Kreis gelaufen sein, ohne dass ich es auch nur bemerken würde.“
„Wenn man etwas nur lange genug anstarrt“, murmelte der Affe, „dann findet sich eine Art Ordnung an der Wurzel von jedem Chaos. Manchmal dauert das jedoch verblüffend lange.“ Er wies in eine Richtung, die sich in Lilians Augen durch nichts vom restlichen Grün unterschied. „Siehst du den breiten, länglichen Schatten, der sich dort hinten abzeichnet?“
Lilian nickte ergeben, obwohl sie nichts sah und George sich nicht einmal nach ihr umdrehte.
„Das ist der zentrale Stamm. Alle Wege führen dorthin … oder von dort weg. Je nach persönlicher Philosophie.“
„Stamm?“, fragte Lilian und kniff die Augen zusammen. „Wie ein Baumstamm?“
„Nicht nur irgendein Baum“, erklärte George. „Der größte Baum. Der einzige Baum. Unser Weltenbaum. Alle Pfade im Wald sind Äste an seinem Stamm. Alle Pflanzen wachsen auf ihm, alles Leben geht auf ihn zurück. Er ist das Zentrum und wacht über alles Leben. Der Kreislauf beginnt und endet mit ihm.“
„Welcher Kreislauf?“, fragte Lilian verwirrt.
„Der Affe hob die Hand und zeichnete mit dem Finger einen Kreis in die Luft, während er auf einen Spiralpfad trat und Lilian weiter aufwärts führte.
„Der große Kreislauf des Werdens und Vergehens. Alle Wesen werden durch sein Wirken, alle vergehen durch ihn und alles Leben kehrt zu ihm zurück.“
„Werden und Vergehen“, wiederholte Lilian leise. „Und wie kehrt man zurück?“
„Nun“, erklärte George heiter. „Meistens reicht es, vom Ast zu fallen. Das ist die einfachste Methode.“
Lilian vermied es, in die Dunkelheit zu sehen, die weit unten in der Tiefe neben dem Pfad auf sie zu lauern schien.
„Wie weit ist es nach unten?“, fragte sie vorsichtig.
„Von hier? Etwa zwei Kilometer. Allerdings liegen ziemlich viele Ebenen dazwischen. Du würdest also sehr oft mit einem dicken Astpfad kollidieren.“
Lilian schauderte.
„So tief“, flüsterte sie. „Wie groß ist denn der Baum?“ George zögerte einen Moment.
„Das ist schwer zu sagen. Ohne vernünftiges Werkzeug ist es nicht ganz einfach, präzise Messungen anzustellen. Ich würde sagen, der Stamm ist etwa dreieinhalb bis vier Kilometer hoch und misst ein paar hundert Meter im Durchmesser.“
Lilian starrte sprachlos nach oben, wo sich in den Lücken zwischen den zahllosen, kreuzenden Astpfaden vage der grüne Himmel des Blätterdachs abzeichnete. Die Krone eines einzigen Baumes. Sie spürte, wie ihr bei dem Gedanken schwindelig wurde.
„Warst du schon einmal ganz oben?“, fragte sie.
„Natürlich. Für einen Affen ist das keine große Herausforderung.“
„Was sieht man“, fragte sie weiter, „wenn man ganz oben ist?“ George schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
„Ganz oben an der Spitze des Stammes ist eine mächtige, geschlossene Blüte. Sie ist sehr groß. Etwa zwanzig Meter hoch.“
„Und wie sieht sie aus, wenn sie blüht?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Solange ich existiere, war sie immer geschlossen.“
Sie schwiegen, während sie weiter nach oben liefen. Gelegentlich raschelte es in den Büschen und Bäumen um sie herum und unsichtbare Geschöpfe kommentierten ihr Passieren mit lauten Rufen oder trillerndem Gesang.
„Kann ich die Blüte sehen?“, fragte Lilian schließlich.
„Nur wenn du einige hundert Meter lang an dünnen Ästen in die höchsten Ebenen der Krone klettern kannst“, erwiderte George.
„Kann ich denn nach unten zum Boden klettern?“, fragte Lilian hartnäckig.
„Warum?“, fragte George zurück. „Irgendwann steht dir diese Reise sowieso bevor. Spätestens, wenn du von deinem Pfad herunter in die Leere trittst. Die meisten Wesen ziehen es jedoch vor, das erst am Ende ihres Lebens zu tun. Der Boden liegt nicht umsonst in Kälte und Dunkelheit. Alles, was verborgen bleiben soll, bleibt dort unten und nur wenige, die die Reise antraten, kehrten zurück.“
„Warst du schon einmal unten?“, fragte Lilian.
„Ich ziehe Orte vor, an denen Bananen wachsen.“
Mit diesen Worten fiel der Affe erneut in Schweigen.
Lilian brauchte noch eine ganze Weile, bis auch sie den Schatten des Stammes, von dem ihr Gefährte gesprochen hatte, erkennen konnte. Die Entfernung war tatsächlich nicht groß, aber die Vegetation dicht und die Pfade verliefen selten gerade. Lilian fühlte sich erschöpft und sehr müde, doch George trieb sie zur Eile an, denn der Tag neigte sich seinem Ende entgegen.
Es dauerte eine Weile, bis sie bemerkte, wie das Licht langsam abnahm und der Wald stiller wurde. Die klagenden Töne der Nachtrufer schallten jetzt häufiger durch den Wald und mit jedem Schritt, der sie dem Stamm näherbrachte, schien es schneller dunkel zu werden. Lilian begann langsam, sich Sorgen zu machen, wie sie den Weg im Dunkeln finden sollten, als sie plötzlich ein Licht im Wald entdeckte.
„Da!“, rief sie. „Schau doch, da drüben!“
Es sah aus, als würde jemand kleine Lichtpunkte in die Zweige der Bäume hängen. Winzige Laternen funkelten überall um sie herum und tauchten den Wald in einen gelblichen Schein.
„Leuchtkugeln“, verkündete der Affe, ohne hinzusehen. „Sie wären extrem nützlich, wenn sie nicht sofort erlöschen würden, kaum dass man sie berührt.“
Lilian trat unter einen Zweig, der über den Pfad hing und lächelte im Schein des kleinen Wesens, das sich dort mit den dünnen Füßchen am Zweig festhielt. Als sie das kleine Geschöpf vorsichtig vom Ast löste, klammerte es sich sofort an ihren Finger und erlosch.
„Schütteln, fluchen und gegen den Baum werfen funktioniert nicht“, kommentierte George, dessen Gestalt in der zunehmenden Dämmerung bereits mit dem Wald verschmolz. „Habe ich alles schon probiert.“
Lilian nahm das kleine Wesen dennoch mit.
Wie sie es am Ende zum Stamm und in die schützende Baumhöhle schafften, konnte Lilian nicht mehr sagen. Plötzlich fiel die Dunkelheit über sie und George musste sie den Rest des Weges wieder an der Hand führen.
In der Höhle roch es nach frischem Holz und es war angenehm warm. Lilian ließ sich mit einem dankbaren Seufzen auf dem Boden nieder und tastete vorsichtig umher. Ihre Hände fanden etwas Weiches.
„Decken und Kissen“, erklärte George aus dem Dunkeln. „Ich dachte mir schon, dass wir spät kommen werden. Hier gibt es Sträucher für alles und Menschen schlafen doch gerne bequem.“
Lilian nestelte im Dunkeln mit den gefalteten Decken.
„Und wie schlafen Affen?“, fragte sie beiläufig.
„In Nestern hoch oben in den Baumkronen“, entgegnete George. „Nichts gegen Höhlen, aber Affen mögen den offenen Himmel über sich.“
Lilian schwieg.
George starrte eine Weile in das Dunkel, dann seufzte er. „Aber wir können natürlich auch Ausnahmen machen.“
„Danke“, flüsterte Lilian leise.
Plötzlich blühte ein kleiner zaghafter Schein in der Dunkelheit auf, der langsam heller wurde. George erkannte Lilians Lächeln hinter der kleinen Leuchtkugel, die von ihrem ausgestreckten Finger hing.
„Wie in aller Welt …?“, begann der Affe.
„Sie mögen es, den Bauch gestreichelt zu bekommen“, erklärte Lilian. „Und es hilft, wenn man Bitte sagt.“