Читать книгу Die Sprache der Blumen - Sven Haupt - Страница 16

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Lilian klammerte sich panisch an den Rücken des Affen, während dieser sich mühelos an den Lianen nach oben zog.

„Ich glaube, mein Bein ist gebrochen!“, rief sie.

„Nicht jetzt“, erwiderte George knapp und hangelte sich seitwärts an dem Blättervorhang entlang, bis er die überhängenden Äste eines Baumes erreichte, der am Rand des Astpfades wurzelte. Hier schwang er sich mit einer fließenden Bewegung hoch und rannte den Stamm empor. Das Gewicht der jungen Frau auf seinem Rücken schien er nicht einmal zu bemerken. In der Krone griff der Affe nach einer Liane, die dort mit dem Stamm verknotet war und sie weiter auf dem Weg zum nächsthöheren Astpfad brachte. Lilian, die sich das Atmen langsam wieder erlaubte, überwand den ersten Schock und verfolgte beeindruckt, mit welchem Geschick und Tempo der Affe an Höhe gewann.

„Sieht so aus“, kommentierte sie, „als würdest du diesen Weg nicht zum ersten Mal nehmen“.

„Nicht meine erste Flucht“, entgegnete der Affe.

Sie passierten zügig Ebene für Ebene auf ihrem Weg nach oben.

George ist mit seinem Körper deutlich besser an diese Welt angepasst als ich, dachte Lilian, während sie das harte Pulsieren in ihrem Bein zu ignorieren versuchte.

Die Astpfade wurden langsam schmaler und verschwanden kurze Zeit später ganz. An ihre Stelle traten breite, dicht verzweigte Äste, deren dichtes Laubwerk die Sicht stark einschränkte. Dafür beschleunigte der Affe seinen Anstieg hier noch einmal. Seine gedrungene Gestalt mit den langen sehnigen Armen war wie gemacht für diese Umgebung und selbst mit Lilian, die wie ein Sack auf seinem Rücken hing, zeigte George noch immer keinerlei Anzeichen von Ermüdung.

„Wie weit ist es noch?“, fragte Lilian irgendwann. „Und nebenbei: Wo wollen wir eigentlich hin?“

„Krone“, entgegnete der Affe knapp.

„Und warum wollen wir in die Krone?“, fragte Lilian hartnäckig weiter.

Der Affe seufzte und hielt einen Moment inne, um zu antworten: „Es sind noch etwa einhundert bis zweihundert Meter. Wir wollen an einen Ort, an den uns der Schwarm nicht folgen wird, jetzt, wo er dich gescannt hat, weil du unbedingt die Warnungen deines kleinen Flatterfreundes ignorieren musstest. Der Schwarm kennt jetzt dein Muster und wird es nie wieder vergessen. Er wird seinen Weg an deinen anpassen, wenn du in seine Reichweite kommst. Die Krone ist der einzige Ort, wohin uns der Schwarm nicht folgen kann. Das Astwerk ist dort oben zu dünn und würde unter seinem Gewicht kollabieren.“

Lilian schwieg angesichts dieser Eröffnung und dachte über Georges Worte nach. Sie verfolgte stumm seinen Aufstieg entlang der dicksten Äste und bemerkte, wie um sie herum plötzlich zahllose kleine, blaue Wasserfrüchte an den Ästen hingen.

„Sind das die Regenblüten?“, fragte sie leise.

„Wir durchqueren die Regenschicht“, entgegnete der Affe. „Sind etwa zwanzig Meter.“

Lilian verdrehte den Kopf, um nach oben zu sehen, und schnappte unwillkürlich nach Luft.

„Himmel!“, rief sie laut. „George, sieh doch, da oben. Da ist der Himmel. Er ist blau - ganz blau.“

George schnaufte.

„Nein, wirklich? Da bin ich aber froh, habe ich ja doch nicht die falsche Richtung genommen.“ Er wies mit einem Arm voraus. „Da vorne ist übrigens unser Ziel.“

George kletterte einen steil ansteigenden Ast entlang, als schlenderte er über einen normalen Pfad. Weit über ihnen, in einer großen, vielfach verzweigten Astgabel, zeichnete sich ein runder, dunkler Umriss gegen den hellen Himmel ab. Lilian kniff die Augen zusammen.

„Ist das ein Nest?“, fragte sie verblüfft. „Ich wusste gar nicht, dass Affen so große Nester bauen.“

„Tun sie auch nicht“, entgegnete George. „Aber es gibt hier oben ein paar Unterarten der Flatterbälle, die, wegen der Größe ihrer Flügel, nur dicht an der Krone leben können. Wenn sie ihre Nester verlassen, erweisen diese sich als überaus nützlich für heimatlose Primaten.“

Sie erreichten ein rundes Nest mit hohem Rand. Es hatte einen Durchmesser von mindestens drei Metern und bestand aus dicken, eng verflochtenen Ästen. Die Lücken waren mit Gras abgedichtet. Die ganze Konstruktion wirkte überaus solide. Lilian fragte sich gerade, wie sie ohne Hilfe ihrer Beine in das Nest kommen sollte, als George sich auf einen Ast neben dem Nest hochzog, hinter sich griff, Lilian auf beide Arme nahm und kurzerhand über den Rand des Nestes warf, als wäre sie ein Stapel Handtücher.

Sie schnappte erschrocken nach Luft, landete jedoch weich auf einem Haufen Kissen und Decken. George saß auf dem Rand des Nestes und sah auf sie herunter.

„Willkommen in einem meiner Nachtlager“, verkündete er. „Ich kann dir leider nicht viel anbieten, ich bekomme selten Besuch hier oben.“

Lilian blinzelte und sah sich um.

„Du hast mehrere von diesen Orten?“

„Oh ja, manchmal bauen die großen Flatterbälle ein neues Nest, dann wieder zerstören sie ein altes, aber ich bin da sehr flexibel. Ich reise gerne mit leichtem Gepäck.“ Er zeigte grinsend seine Zähne. „Also - normalerweise.“ Lilian musste lächeln und flüsterte: „Vielen Dank für die Rettung.“

Sie legte den Kopf in den Nacken und versuchte das starke Pochen in ihrem Bein nicht zu beachten. Über ihnen zeigten sich nur noch wenige Meter Blätterdach. Dahinter strahlte ein blauer, wolkenloser Himmel.

„Wie weit oben sind wir?“, fragte Lilian und genoss den Anblick des tiefen Blaus. George saß immer noch auf dem Rand des Nestes und sah konzentriert nach unten. „Etwa anderthalb Kilometer über der Höhle, circa vier über dem Boden.“

Lilian dachte einen Moment darüber nach, dann sah sie zu George hinüber.

„Wonach suchst du? Erwartest du Verfolger?“

„Späher“, erklärte George knapp. „Der Schwarm schickt immer einzelne Läufer voraus, die den Weg erkunden. Sie sind nicht gefährlich, aber mit hundert von denen in einem Nest aufzuwachen ist eine Erfahrung, die man nicht öfter als einmal haben muss, glaub mir.“

„Wonach suchen sie, dass sie in solchen Massen auftreten?“

Der Affe dachte einen Moment lang nach.

„Der Schwarm ist eine Art Reinigungstrupp des Baumes“, erklärte er schließlich. „Vergiss nicht, dass es im Wald keine Nahrungskette gibt. Keine Jäger, keine Beute. Wenn du stirbst, wartet niemand darauf, dich endlich fressen zu können. Der Schwarm sammelt alles ein, was im Wald keine Funktion mehr erfüllt und bringt es zum Boden.“

„Und dann?“

Der Affe zuckte mit den Schultern.

„Was weiß ich. Ich bin ihm niemals gefolgt, um das herauszufinden.“

„Aber ich bin doch gar nicht tot!“, rief Lilian.

„Du bist schwer verletzt. Der Schwarm wartet nicht immer, bis etwas seine Funktion aufgegeben hat. Manchmal reicht es, hilflos oder einfach im Weg zu sein.“

„Heißt das, der Schwarm hätte mich getötet?“

George schüttelte den Kopf, ohne seinen forschenden Blick von der Tiefe abzuwenden.

„Natürlich nicht, das wäre absurd. Nein, du wärst erstickt. Wie du dir sicher vorstellen kannst, ist es ungesund, unter Millionen von schwarzen Grasbällen begraben zu sein. Danach hätten sie Grund genug, dich einzusammeln.“

Lilian starrte den Affen mit aufgerissenen Augen an.

George sah kurz auf und bemerkte ihren Blick.

„Es ist wirklich keine Bösartigkeit“, erklärte er hastig. „Er ist nur …“ Er rang nach Worten. „Nicht sehr weise implementiert.“

„Korrupter Code?“, fragte Lilian tonlos.

„Genau“, bestätigte er nickend.

Beide schwiegen eine Weile, bis George schließlich begann, nervös hin und her zu rutschen.

„Ich schaue mal, ob ich etwas zu essen finden kann, während wir warten, dass der Schwarm uns passiert. Der Aufstieg war doch ein wenig anstrengender als gedacht.“

„Wie lange kann das noch dauern?“, fragte Lilian leise.

„Schwer zu sagen, aber vor Sonnenuntergang sollten wir schon wieder an der Höhle sein.“

Lilian hörte, wie der Affe sich leise raschelnd an den Ästen hinabließ und dann zügig entfernte. Sie hatte keine Zweifel, dass er finden würde, was er suchte. Er schien ein ausgesprochenes Talent dafür zu haben, überall etwas Essbares aufzutreiben.

Sie wollte sich umsehen, doch der Rand des Nestes war zu hoch, um etwas von ihrer Umgebung erkennen zu können. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte Lilian sich vorsichtig seitwärts auf ihr gesundes Bein. Von dort zog sie sich langsam an der Nestkante empor, bis sie gerade eben über den Rand spähen konnte.

Ein Blick reichte, um zu verstehen, warum die Erbauer des Nestes diesen Ort gewählt hatten. Die große Astgabel ragte ein gutes Stück über das umliegende Blätterdach hinaus und erlaubte einen ungehinderten Blick zum Zentrum des Waldes. Von hier oben präsentierte sich die Welt als weitgespannte Kuppel aus endlosem Grün, welche soweit reichte, wie ihr Auge sehen konnte. In ihrer Mitte, den Wald deutlich überragend, erhob sich eine große, geschlossene weiße Blüte, hoch über die Krone des Baumes. Die höchste Spitze des gewaltigen Stammes im Zentrum des Waldes.

Lilian beobachtete, wie ein Schwarm aus gelben Ballonwesen aus dem Blätterdach emporschwebte und in langer Formation langsam in einer ansteigenden Spirale die geschlossene Blüte umkreiste. Sie folgte den Wesen noch lange fasziniert mit den Augen, bis sie schließlich in der Ferne mit den dünnen, weißen Wolkenbändern verschmolzen, die den Horizont entlangliefen. Sie fühlte Entspannung in sich aufsteigen. Eine ferne, wehmütige Erinnerung aus der Tiefe ihres vernebelten Bewusstseins, die ihr erzählte, wie befreiend der Anblick des Horizontes sein konnte.

Lange kniete sie so, unbeweglich an den Rand des Nestes geklammert, bis sie die Geräusche des sich leise nähernden Affen im Blattwerk bemerkte und kurz darauf seine Stimme hinter sich hörte.

„Hunger?“, fragte er kauend.

Lilian ließ sich vorsichtig zurück in die Kissen rutschen, schob ächzend ein dickes Kissen unter ihr geschwollenes Bein und nahm die Banane entgegen, die George ihr wortlos reichte.

„Danke“, erwiderte sie und sah die Frucht nachdenklich an. Sie blickte zu dem Affen auf, der bereits wieder auf dem Rand des Nestes hockte und eine weitere Frucht schälte.

„Es ist“, begann sie, „nicht ganz einfach, etwas über diesen bizarren Ort zu lernen, weißt du? Es hat den Anschein, als würden die Wesen hier ihr Möglichstes tun, um keine Sprache zu sprechen, die irgendjemand verstehen kann.“ George schwieg. „Ich hatte heute“, fuhr Lilian fort, „eine etwas merkwürdige Begegnung mit einem sprechenden Bäumchen unter einem Astpfad. Er wurzelt dort kopfüber und ist äußerst gesprächig. Es ist kein unfreundlicher Baum, was ihm auch schwerfallen würde, da nichts von dem, was er sagte, irgendeinen Sinn ergab.“

George hielt beim Kauen inne und sah aus, als würde er nachdenken.

„Schmaler, kahler Nadelbaum? Quatscht hohl durch ein Loch im Stamm. Hektisch wedelnde Arme?“

Lilian nickte.

George schnaufte.

„Ich nenne ihn Quasselfichte. Hab’ nie etwas Sinnvolles aus dem herausbekommen.“

„Lass mich raten“, warf Lilian ein. „Korrupter Code?“

„Oh, ja“, bestätigte George. „Korrupter geht es kaum. Keine Ahnung, welchen Sinn die Dinger mal erfüllen sollten, aber jetzt meidet man sie besser, wenn man nicht stundenlang vollgesabbelt werden will. Sind sehr anhänglich.“

Lilian sah den Affen weiter an.

„Er erwähnte das Böse, welches in diesem Wald umgeht. Was meinte er damit?“

George inspizierte seine Banane.

„Solange ich hier lebe, bin ich niemals etwas Bösem begegnet, soviel ist sicher.“

„Er erwähnte“, fuhr Lilian fort, „dass das Böse sich versteckt hält, wo wir es nicht sehen können, dass es aber weiterhin unter uns ist.“

„Wie gesagt“, erklärte George, „schwachsinniges Gefasel von korruptem Code. Geschöpfe des Weltenbaumes neigen zu paranoiden Halluzinationen, wenn sie zu lange leben. Ist nicht gut für die Logikkreise.“

Lilian legte den Kopf zurück.

„Man kann von hier aus sogar die Blüte sehen und dahinter den Horizont. George, wie weit muss man laufen, um den Wald zu verlassen?“

George ließ die Banane sinken.

„Solange ich hier lebe“, erklärte er ruhig, „habe ich den Wald noch nie verlassen.“

„Hat dich nie interessiert, wie die Welt jenseits davon aussieht?“

Der Affe schnaubte.

„Wenn man die Natur einer Sache verstanden hat, dann werden die Dinge berechenbar - und langweilig. Heute wird sein wie gestern und übermorgen und weiter hinaus ist alles wie eben. Egal wo man lebt. Am Ende ist alles immer das Gleiche. Es gibt nur den Wald. Außerdem kannst du den Baum von den oberen Astebenen aus sowieso nicht verlassen.“

„Was ist, wenn ich zum Boden hinabsteige?“

Die Sprache der Blumen

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