Читать книгу Die Sprache der Blumen - Sven Haupt - Страница 8

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„Keine Sorge“, erklärte der Affe und sah aufmunternd über die Schulter zu seiner Begleiterin. „Wir sind gleich da.“

Sie liefen schon seit einer Weile den Astpfad entlang und waren ein paar Mal auf schmalere Wege abgebogen, die sich in weiten Kurven durch den Wald zogen und dabei immer wieder verzweigten. Der Schimpanse hielt die junge Frau bei der Hand und zog sie mehr oder weniger nachdrücklich hinter sich her. Zuerst war er zügig vorausgelaufen, doch sie blieb immer wieder stehen und sah stumm zum fernen Blätterdach empor. Die ganze Zeit über sprach sie kein Wort. Irgendwann griff er sie sanft bei der Hand und führte sie langsam, aber stetig die Pfade entlang, während er auf seine freie Hand gestützt vorweg ging.

Die Frau folgte ihm wie ein gehorsames, aber resigniertes Haustier, welches sich apathisch in sein Schicksal fügte. Er entdeckte keinerlei Anzeichen von Gegenwehr, geschweige denn überhaupt eine Reaktion. Sie schien auch vollkommen indifferent gegenüber ihrer Nacktheit oder dem klebrigen roten Schleim, der immer noch ihren ganzen Körper bedeckte. Gelegentlich wischte sie sich flüchtig über die Augen und blinzelte angestrengt. Danach starrte sie noch eine Weile lang ihre verklebte Hand an und bewegte sie hin und her, als wäre sie unschlüssig, was sie damit anfangen sollte.

Der Affe beobachtete dies und erklärte: „Ich weiß, es ist alles sehr verwirrend, aber das ist völlig normal. Dein Geist lag die ganze Zeit über in einem tiefen Schlaf und ist es noch nicht gewohnt, so viel Input zu verarbeiten. Es ist, wie aus einem tiefen Traum zu erwachen und nicht gleich wieder in die Realität zu finden. Das kann auch noch ein paar Stunden dauern.“

Die junge Frau schwieg und starrte wieder in den grünen Himmel empor. Sie zeigte keinerlei Furcht vor ihrer Umgebung, nicht einmal die tiefen Abgründe zu beiden Seiten des Weges schienen sie zu beeindrucken. Der Affe wusste noch nicht, ob er das als gutes oder schlechtes Zeichen werten sollte.

„Schau, da vorne ist schon unser Ziel. Das hat doch nicht lange gedauert, oder? Ich bin sicher, es wird dir gefallen.“

Der Astpfad wand sich einige Meter voraus in einer engen Spirale auf und bildete eine waagerechte Plattform mit einem Durchmesser von etwa fünf Schritt. Keine drei Meter darüber kreuzte ein anderer, breiter Weg. Dicht mit kleinen Blättern bewachsene Lianen hingen zu beiden Seiten herab und umgaben die Plattform wie ein Vorhang. Der Affe zog die Frau durch die Blätter in den kühlen Schatten und zeigte nach oben. Über ihnen hing eine Traube von großen sackartigen Früchten von der Unterseite des Astpfades herab. Die durchscheinenden Gewächse liefen spitz zu und endeten in dünnen Fortsätzen, die dicht über dem Kopf der jungen Frau baumelten.

„Nur zu“, ermunterte der Affe und wies auf die Wurzeln. „Einfach ausprobieren.“

Die Angesprochene starrte einen Moment lang ausdruckslos zu den Früchten empor, dann griff sie zaghaft nach einer der Wurzeln und zog vorsichtig daran. Die Frucht über ihr gluckerte leise und öffnete zahllose kleine Poren auf ihrer Unterseite. Ein warmer Regen aus duftendem Wasser fiel auf die Frau herab.

Der Affe war einige Schritte zurückgewichen, sorgsam darauf achtend, nicht nass zu werden, und beobachtete die Frau aufmerksam. Diese stand eine Zeit lang einfach regungslos unter dem Wasser und sah zu den Früchten empor, während sich das schleimige Fruchtfleisch langsam von ihr löste und zu Boden rann. Schließlich sah er, wie sich ihre Schultern langsam entspannten, und hörte ein kleines, wohliges Seufzen. Er erlaubte sich ein erleichtertes Lächeln.

Soweit, so gut. Warmer Regen ist bei Menschen immer erstaunlich effektiv.

Er beobachtete die Frau, die weiter regungslos unter dem fließenden Wasser stand und musterte sie kritisch. Zuerst glaubte er, ein Kind vor sich zu haben. Hauptsächlich wegen der schmalen Hüften und der sehr kleinen Brüste. Aber sie war zu groß und bewegte sich falsch. Die Art, wie sie ihren Körper benutzte, verriet eine deutlich ältere Person.

Ich frage mich, ob das Absicht ist, oder ob ich es schon wieder mit korruptem Code zu tun bekomme. Egal, wir werden es herausfinden. So oder so.

Die Wasserfrucht hatte ihren Inhalt derweil vollständig entleert und die junge Frau aktivierte bereits die nächste. Ein Schwall herben Kräuterduftes zog über den Affen hinweg. Er nickte langsam und zog sich für einen Moment auf die andere Seite des Vorhangs zurück, um entlang des Astpfades nach etwas Essbarem zu suchen. Er fand eine große, orange Frucht mit spitzen roten Stacheln, die an einer Liane dicht neben dem Pfad wuchs und angelte sich seinen nächsten Imbiss. Vorsichtig brach er die Frucht auf, knabberte aber nur ein wenig an dem fleischigen Inhalt herum. Als er kurz darauf durch den Blättervorhang trat, stand die Frau bereits unter der dritten Wasserfrucht. Diesmal roch es nach Rosen. Der Affe nahm wieder Platz und wollte sich gerade seinem Imbiss widmen, als die Frau die Augen öffnete und ihn zum ersten Mal direkt ansah.

Er erstarrte mit offenem Mund und versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen, was ihm jedoch nicht gelang.

Es ist tatsächlich eine Intelligente, dachte er fassungslos.

Die Frau starrte ihn schweigend an, während der Affe mit offenem Mund vergaß, seine Frucht zu kauen. Schließlich sprach sie mit leiser Stimme: „Ich kann mich nicht erinnern.“

Der Affe schluckte schwer.

„Das …“, stammelte er, „das ist völlig normal. Dein Hirn muss erst noch lernen, richtig zu arbeiten. Es kann eine Weile dauern.“

Die Frau machte nicht den Eindruck, als hätte sie auch nur ein Wort davon gehört.

„Dieser Ort …“, fuhr sie fort und verstummte. Sie blinzelte und versuchte es erneut: „Was ist dies für ein Ort? Er ist so seltsam.“

„Oh, glaub mir“, erwiderte der Affe und bemühte sich um einen aufgeräumten Tonfall. „Das ist noch gar nichts. Wir sind erst am Anfang. Von hier an wird es nur noch viel seltsamer.“

Sie starrte ihn weiter aus regungslosen Augen an und der Affe rutschte nervös am Boden umher.

„Ich hole dir mal etwas zum Abtrocknen“, verkündete er schließlich laut, ließ die Frucht fallen und verschwand schnell wieder auf der anderen Seite des Vorhangs. Dort atmete er tief durch und blickte suchend umher. Er wanderte ein Stück den Weg zurück und fand das Gesuchte schließlich am Rand eines unscheinbaren Seitenpfades. An einem niedrigen Bäumchen voller langer, violetter Blätter hingen einige dicke, braune Schoten. Die Frucht im Inneren wurde von festen, ledrigen Blättern umschlossen.

Der Affe brach zwei davon ab und kehrte wieder auf die Regenplattform zurück. Die junge Frau hatte ihre Position nur verändert, um unter eine neue Wasserfrucht zu treten. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Der Affe setzte sich wieder und begann, geschäftig an den steifen Blättern der Schote zu zerren, ohne die Frau dabei anzusehen.

„Die Dinger sind erstaunlich gut verpackt“, murmelte er genervt, während er ungeschickt an den dicken Schoten herumhantierte. „Wahrscheinlich, um sicherzustellen, dass der Inhalt trocken bleibt.“ Er riss die äußeren Blätter in dünnen Schichten herunter, kam aber dem Ziel nicht wirklich näher. „Dennoch“, grollte er, „sollte man meinen, dass es einem leichter gemacht wird, an die blöden Dinger heranzukommen. Aha!“ Es gelang ihm, die Schote der Länge nach aufzubrechen. Zum Vorschein kam eine flauschige, weiße Rolle, die er der Frau reichte.

Diese trat aus dem Regen und nahm das weiche Etwas entgegen. Von der harten Schale befreit dehnte sich der Inhalt jetzt stark aus. Die Frau drehte die weiche Rolle eine Weile unschlüssig in den Händen, dann schien sie den Zweck zu erfassen und entrollte ein großes, weißes Handtuch.

Der Affe nickte ermutigend.

„Vielleicht möchtest du dich abtrocknen, und dann sollten wir weitergehen. Wir müssen am Hauptstamm sein, bevor die Dämmerung kommt und der Weg ist weit für jemanden, der gerade erst vom Baum gefallen ist.“

Die Frau hatte sich den weichen Stoff vor das Gesicht gepresst und verharrte regungslos.

„Warum?“, klang es schließlich gedämpft durch das Handtuch.

„Weil es sonst dunkel wird“, erklärte der Affe geduldig. „Und ein Spaziergang auf einem Astpfad bei Dunkelheit ohne Lichtquelle und Geländer kann zu einer ebenso überraschenden wie kurzen Erfahrung werden.“

„Es gibt kein Licht?“, fragte die Frau durch den Stoff.

„Oh, es gibt Licht“, erwiderte der Affe. „Kleine leuchtende Krabbelkugeln. Aber die dämlichen Viecher stellen das Leuchten ein, sobald du sie auch nur schief ansiehst. Das ist übrigens eine Erfahrung, die du hier noch häufig machen wirst. Es ist, als wäre der gesamte Wald gerade schlau genug, um zu wissen, wie man einen Primaten am effektivsten ärgern kann.“

Die Frau ließ das Handtuch sinken und sah ihn an.

„Ich bin kein Primat“, verkündete sie.

„Das ist korrekt“, bestätigte der Schimpanse geduldig. „Primaten können klettern, sind sehr stark und dabei kein bisschen nackt oder hilflos.“

„Ich … ich bin ein … ein Mensch“, verkündete die Frau zögernd, als wäre sie erst in diesem Moment zu dieser wichtigen Einsicht gelangt.

Der Affe rollte die Augen.

„Wie schön, dass deine Erinnerungen zurückkehren. Aber glaube mir, diese Kategorien haben hier nicht die geringste Bedeutung.“

„Warum?“, fragte die Frau erneut.

Der Affe holte tief Luft.

„Weil es in diesem Wald nur Pflanzen gibt.“

„Es gibt“, fragte die Frau, „außer uns keine Tiere?“

„Nein, es gibt überhaupt kein tierisches Leben.“

„Aber“, erwiderte sie verwirrt, „ich bin keine Pflanze.“

Der Affe schwieg.

„Ich … ich bin von Menschen geboren worden“, erklärte sie, aber ihre Stimme klang zögernd.

„Und wo“, fragte der Affe leise in einem milden Tonfall, während er auf die Brocken von Fruchtfleisch zu Füßen der Frau blickte, „bist du gewachsen?“

Sie runzelte die Stirn.

„Im … im Bauch meiner Mutter?“

„Und?“, fragte der Affe sehr langsam. „Wie hat sie dich ernährt?“

„Na, über die Nabelschnur, die …“, sie verstummte. Sie ließ das Handtuch sinken und ihr Blick fiel auf ihren Bauch, wo ganz offensichtlich nichts zu sehen war. Vorsichtig strich sie mit den Fingern über die vollkommen glatte Haut, dann sah sie zu dem Affen auf und Angst lag in ihrem Blick.

„Höflich wie ich bin“, kommentierte der Affe trocken, „weise ich mal nicht allzu deutlich darauf hin, dass es bei uns beiden weiter unten nicht besser wird.“

Die Frau sah wieder an sich hinab und blickte stumm auf die Stelle zwischen ihren Beinen, wo ebenfalls nur glatte Haut zu sehen war.

„Aber … aber …“, stotterte sie. „Ich bin ein Mensch. Ein Mensch!“

Der Affe seufzte leise und griff nach der stacheligen Frucht, von der er eben noch gegessen hatte. Er erhob sich auf die Hinterbeine und schritt langsam und ungelenk zu ihr hinüber, während sie weiterhin fassungslos ihren Körper anstarrte. Vorsichtig, fast zärtlich, nahm er ihre freie Hand.

„Es tut mir leid“, erklärte er, „aber meiner Erfahrung nach ist es am besten, wenn man sich diesen Dingen möglichst frühzeitig stellt.“

Mit diesen Worten hob er ihre Hand und stach ihr mit einer der spitzen, roten Dornen in den Daumen.

„Au!“, rief die Frau und riss sich los. „Warum? Das tut weh! Warum? Was soll …“

Sie verstummte und beobachtete mit aufgerissenen Augen den großen Tropfen dicker, grüner Flüssigkeit, der aus ihrem Daumen quoll.

Der Affe hob seine eigene Hand und stach sich fast beiläufig ebenfalls in den Daumen. Wortlos hielt er ihn vor ihr Gesicht. Der gleiche Tropfen grüner Flüssigkeit quoll aus seiner Wunde heraus.

„Willkommen in der Familie“, verkündete er und lächelte schief.

Die Frau blickte stumm von seinem Daumen zu ihrem, sah dem Affen schließlich ins Gesicht und begann zu zittern. Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit einem erstickten Schluchzen hockte sie sich auf den Boden, presste das Handtuch vor ihr Gesicht und begann herzzerreißend zu weinen.

Der Affe trat einen Schritt zurück, sah auf die Frau herab und rollte die Augen.

„Okay“, murmelte er, „das hätte besser laufen können.“

Er setzte sich vorsichtig neben sie und legte ihr zögernd und unbeholfen die Hand auf den Rücken. Dabei gab er ein leises Gemurmel von sich, von dem er hoffte, dass es beruhigend klang. So verharrte er, bis das Schluchzen langsam verklang und die Frau verstummte. Lange hockte sie regungslos neben ihm, bis schließlich ihre gedämpfte Stimme durch das Handtuch drang.

„Ich verstehe diesen Ort nicht. Er ist so fremdartig. Es ist wie ein schlechter Traum. Ich sehe laufend seltsame Dinge und ständig kommen neue Bilder dazu, aber nichts davon ergibt Sinn. Ich erinnere mich nicht einmal an meinen Namen. An meinen eigenen Namen.“

Sie hob den Blick und sah den Affen an. Er sah ihre beiden leuchtend grünen Augen direkt vor sich und spürte Panik in sich aufsteigen.

„Weißt du vielleicht meinen Namen?“, fragte sie hoffnungsvoll.

Oje, dachte er und sah hektisch umher, auf der Suche nach einer Antwort.

Name …, Name …, Name …, dachte er hektisch.

Durch eine Lücke im Blättervorhang konnte er auf den Weg hinaussehen. Von einem der höheren Astpfade hingen dichte Vorhänge aus Blumen herab. Riesige trichterartige Blüten in Gelb und Rosa.

Ach was soll‘s.

„Lilien?“, fragte er.

Die junge Frau blinzelte.

„Lilien, Lil … Lilian …“

Sie schien den Namen vorsichtig zu kosten. Dann lächelte sie zum ersten Mal. Dem Affen wurde flau im Magen.

Lilian!“, rief sie. „Ja, das funktioniert.“

„Wie schön“, krächzte der Schimpanse erstickt.

Sie sah ihn nachdenklich an.

„Hast du auch einen Namen?“, fragte sie.

Der Affe schüttelte nur stumm den Kopf.

Sie betrachtete ihn eine Weile, dann lächelte sie wieder.

„Du lässt mich nie aus den Augen und schaust mich immer so neugierig an. Ich glaube, ich nenne dich George.“

George!“, rief der Affe entgeistert. „Was ist denn das für ein Name? Wie kommst du denn jetzt auf George?“

Lilian lächelte entschuldigend.

„Ich weiß es nicht.“

Der Affe musterte sie entsetzt, dann schüttelte er erneut den Kopf und erklärte schwach: „Du solltest dich abtrocknen, wir müssen aufbrechen. Der Weg ist lang.“

Lilian nickte und erhob sich. Mit schnellen Bewegungen trocknete sie sich ab und warf George wortlos das Handtuch zu. Sie ging zu der zweiten Schote hinüber, hob sie vom Boden auf und betrachtete sie eine Weile lang aufmerksam. Schließlich nahm sie die Frucht und rollte sie mit festen Bewegungen einige Male zwischen ihren flachen Händen. Es knackte und knisterte. Danach griff sie die Schote am hinteren Ende und schlug sie zweimal fest in ihre freie Hand. Die Handtuchrolle rutschte mit einem Plopp auf ihre leere Hand. Sie schüttelte das große Handtuch aus, wickelte es sich mit einer eleganten Bewegung um den Körper und faltete den oberen Rand zu einem provisorischen Kleid. Nachdem sie einen Moment lang kritisch darauf hinabgesehen hatte, drehte sie sich probeweise einmal und lächelte den Affen an, der sie mit offenem Mund anstarrte.

„Ich bin soweit“, verkündete sie.

Die Sprache der Blumen

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