Читать книгу Die Sprache der Blumen - Sven Haupt - Страница 14

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Am nächsten Tag verließ Lilian die Höhle noch vor Sonnenaufgang. Das Morgengrauen verdrängte gerade erst die Nacht und es gab kaum genug Licht, um den Weg zu erkennen. Sie hatte schon seit Stunden wach gelegen und zuletzt in eine Decke gewickelt am Eingang der Höhle gesessen, während die sanft glühenden Punkte der Leuchtkugeln langsam erloschen. Die Nachtrufer beendeten zögerlich ihre Schicht, und als Lilian die ersten Schreie der Morgenrufer durch den Wald schallen hörte, sprang sie auf, warf die Decke ab und lief eilig den Weg hinab.

Sie duckte sich mehrmals unter niedrigen Astpfaden hindurch und bog bei jeder Gelegenheit auf Nebenwege ab, die sie tiefer in den Wald trugen. Nach kurzer Zeit hatte sie bereits vollständig die Orientierung verloren. Wenn ich selbst nicht mehr weiß, wo ich bin, dann können neunmalkluge Affen mich hoffentlich auch nicht finden. Sie lächelte grimmig.

Dieser bizarre Ort wartet nur darauf, von mir verstanden zu werden, und das gelingt mir unter Garantie besser ohne die ständigen Kommentare eines schlecht gelaunten Primaten in den Ohren.

Die Nummer mit der menschenfressenden Blume war ein fauler Trick gewesen. Darüber würden sie noch reden, aber zuerst musste sie einmal verstehen, was es mit diesem Wald auf sich hatte. Vor allem wollte sie verstehen, wo dieses Gefühl herkam, alles Notwendige bereits zu wissen und es lediglich für einen kurzen Moment vergessen zu haben.

Lilian sprang über einige dicke Baumwurzeln, die quer über den Pfad wuchsen, und wurde auf der anderen Seite von einem überraschten Quieken empfangen.

„Huch!“, rief sie, als ein erschrocken in die Luft steigender Nachtrufer mit ihr zusammenstieß, und sie mit den Armen rudernd um ihr Gleichgewicht kämpfte.

Das kleine Flatterwesen schien noch nicht ausgewachsen zu sein, denn es war nur etwa halb so groß wie seine Artgenossen. Der kleine, geflügelte Grasball fing sich sehr elegant, indem er sich an Lilians ausgestreckten Arm klammerte. Dort hing er kopfüber, seine vier biegsamen Flügel schüttelnd, und hupte Lilian empört an.

„Entschuldige bitte“, lachte sie. „Ich bin noch neu hier und wusste nicht, dass da jemand auf der anderen Seite sitzt.“

Der Nachtrufer drehte sich flatternd aufrecht und kletterte geschickt an Lilians Arm empor, bevor er auf ihrer Schulter ankam und es sich dort bequem machte.

„Okay“, kommentierte die Frau langsam. „Es scheint, als käme ich doch nicht ohne einen Aufpasser aus.“ Sie musterte das kleine Wesen kritisch, das derweil mit schiefem Kopf versuchte, ihr ins Ohr zu schauen. „Weißt du vielleicht, wo ich am besten etwas Neues über diesen seltsamen Ort lernen kann?“

Der Nachtrufer tutete eine kurze Tonfolge und wies mit einem Blütenkopf auf eine nahe Wegkreuzung. Lilian stutzte.

„Na, das war ja einfach“, kommentierte sie und folgte dem angewiesenen Pfad. „Wieso“, fragte sie sich halblaut, „werde ich das Gefühl nicht los, dass der halbe Wald pausenlos meine Gedanken liest?“ Sie wandte sich an den Nachtrufer. „Kannst du meine Gedanken lesen?“

Der Flatterball plusterte sich auf und hupte eine fröhliche Tonfolge. Lilian musste lachen.

„Wusste ich es doch!“

Sie liefen eine Weile miteinander durch den langsam heller werdenden Wald. Die Schreie der Morgenrufer wurden lauter und die letzten Lichter in den Büschen und Baumkronen erloschen. Lilian atmete die kühle Luft des morgendlichen Waldes tief ein. Am frühen Morgen überwogen süße, frische Gerüche, welche die nachtblühenden Pflanzen mit ihren herberen Noten ablösten. Der Nachtrufer auf ihrer Schulter genoss offensichtlich den Transport und Lilian musste ständig lachen, weil seine Flügel sie am Ohr kitzelten.

Der Flatterball hatte gerade eine komplexe, aber lustig klingende Tonfolge getrillert, als Lilian abrupt stehen blieb. „Hast du das auch gehört?“, fragte sie.

Der Flatterball hupte ihr fragend ins Ohr.

„Hörst du das denn nicht?“

Der Nachtrufer flatterte kurz auf und wies mit seinem Trichterschnabel vehement einen abzweigenden Pfad entlang. „Da hinten?“, fragte Lilian. Sie ging langsam den Weg entlang und blieb kurz darauf wieder stehen.

„Das ist doch eine Stimme“, flüsterte sie.

„Kleidung nicht am Körper bügeln!“, tönte eine Männerstimme ganz in der Nähe.

Lilian hielt inne und sah ihren Begleiter an.

„Hast du das gerade gesagt?“

„Erlauben Sie Kindern nie, in der Spülmaschine zu spielen!“

Lilian sah den Nachtrufer mit großen Augen an.

Sie schritt schnell den Pfad entlang und stand kurz darauf vor einem dichten Blättervorhang. Vorsichtig steckte sie den Kopf zwischen die Lianen. Der Boden unter dem Astpfad war leer, aber über ihr, mitten auf der Unterseite des oberen Astpfades, wurzelte ein überaus merkwürdiger Baum, der dadurch kopfüber vor ihr hing. Er schien einmal eine grüne Krone besessen zu haben, von der jedoch jetzt nur noch wenige vertrocknete Äste mit braunen Nadeln zeugten. Er besaß lediglich zwei knorrige Äste, die seitlich vom Stamm abstanden und nach unten hingen. Etwa auf Lilians Augenhöhe zeigte sich die runde Öffnung einer kleinen Baumhöhle im Stamm. Das Ganze machte den absurden Eindruck einer hölzernen Gestalt, die kopfüber hing, die Arme im Schrecken über die eigene Position über den Kopf hob und den Mund dabei in einem erstarrten Schrei weit öffnete. Dieser Eindruck wurde sehr nachdrücklich durch die Stimme unterstützt, welche aus dem Loch im Stamm tönte.

„Nicht auf das Gerät und den Akku beißen oder daran saugen“, erklärte der Baum ernst. „Dadurch kann das Gerät beschädigt oder eine Explosion verursacht werden!“

„Was du nicht sagst“, entgegnete Lilian. „Das ist gut zu wissen.“

Der Nachtrufer steckte ebenfalls den Blütenkopf durch den Vorhang und hupte eine Begrüßung.

„Führen Sie das Gerät und mitgelieferte Zubehörteile nicht in Augen, Ohren und den Mund ein“, entgegnete der Baum. „Es besteht Erstickungsgefahr und kann zu anderen ernsthaften Verletzungen führen.“

„Schön, dich kennenzulernen“, erwiderte Lilian ernst.

„Auspack und freu!“, rief der Baum begeistert. „Stippel A kaum abbiegen und verklappen in Gegenstippel B für Illumination. Mit Klammer C in Sacco oder Jacke von Lebenspartner einfräsen und lächeln für Erfolg.“

Er wedelte mit seinen Astarmen und der ganze Stamm schien vor Aufregung zu beben.

Der Nachtrufer schien dies alles schon erlebt zu haben, denn er tutete kurz und zog sich wieder auf die andere Seite zurück. Lilian hörte, wie er davonflatterte und ein Stück entfernt vergnügte Tonfolgen von sich gab.

„Bist du schon lange hier in diesem Versteck?“, fragte sie höflich.

Der Baum schien darüber nachzudenken.

„Daran denken“, erklärte er schließlich. „Was im Rückspiegel erscheint, befindet sich hinter Ihnen!“

„Das“, bestätigte Lilian, „erscheint mir sehr weise in dieser Situation. Wahrscheinlich gibt es nicht viele, denen du so etwas sagen kannst, nicht wahr?“

„Produkt nicht zum Verzieren von Speiseeis verwenden!“

„Nein, wirklich? Ich wette, dass George dich wahrscheinlich schon gefunden hat, stimmt’s? Kennst du George? Klein, muffelig, schmeißt gerne mit Obst?“

„Buggy besitzt Autofaltfunktion!“, rief der Baum entsetzt. „Kind vor dem Zusammenklappen entfernen!“

„Das dachte ich mir“, erwiderte Lilian nickend.

Plötzlich hörte sie das alarmierte Hupen des Nachtrufers.

„Oh, ich glaube, mein Freund braucht mich. Einen Moment bitte.“

Sie wollte gerade den Kopf zurückziehen, als Bewegung in die Astarme kam. Mit verblüffender Geschwindigkeit griff das Baumwesen nach ihrer Hand und hielt sie fest. Ein eindringliches Flüstern drang aus dem Loch im Stamm:

„Hör zu, hör zu, hör nicht auf mich, hör zu. Das Böse verschwand vor langer Zeit von allen Straßen, doch es ist noch immer unter uns und verwischt seine Spuren. Aber wir werden siegen. Wir sehen dich. Deine Welt braucht dich!“

Nach diesen Worten verstummte der Baum und die Äste hingen schlaff herab.

Lilian sperrte den Mund auf und starrte das Wesen an.

„Aber das hier ist nicht …“, begann sie, doch das Hupen des Nachtrufers hinter ihr wurde so laut und eindringlich, dass sie sich umdrehte und zu dem kleinen Flatterball eilte, der einige Meter entfernt am Rande des Astpfades saß und hektisch tutend auf und ab hüpfte.

„Was hast du denn nur?“, fragte Lilian und kniete sich neben das aufgebrachte Geschöpf. Der Grasball schlug wild mit den Flügeln und beugte sich dabei mit seinem Blütenkopf weit über den Rand des Weges. Lilian folgte seinem Blick und spähte ebenfalls seitlich am Pfad hinunter. Am Blättervorhang unter ihnen hing ein kleiner, schwarzer Grasball, der mit dünnen Zweigbeinen auf den Lianen stand. Das Wesen schien keinen Kopf zu haben und sein kugeliger Körper zeigte keinerlei Anzeichen von Augen oder einem Mund. Nur seine acht Beine standen gleichmäßig um den Körper verteilt hervor.

„Nanu“, rief Lilian überrascht. „So etwas wie dich kenne ich ja noch gar nicht. Wo kommst du denn her?“

Während sie sprach, kraulte sie unbewusst den Rücken des kleinen Nachtrufers, der sein Gezeter einstellte und sich fest an Lilian drückte.

Sie betrachtete den schwarzen Ball aufmerksam. Das Wesen saß nicht vollkommen regungslos. Seine Beine schienen immer in Bewegung zu sein. Sie hoben und senkten sich unaufhörlich und bildeten dabei komplexe Muster, die fortwährend wie rhythmische Schwingungen um den Körper liefen. Das Ganze hatte einen fast hypnotischen Effekt.

Lilian betrachtete das Spiel der dünnen Beine eine Weile lang fasziniert, dann streckte sie langsam die Hand aus und beugte sich tiefer zu dem Blättervorhang hinunter.

Der Nachtrufer hupte eine entsetzte Warnung und versuchte sich unter Lilians Hand frei zu strampeln, die noch immer beruhigend auf seinem Rücken lag. Das lenkte ihn lange genug ab, um den zweiten schwarzen Ball zu entdecken, der in der Zwischenzeit über den Rand geklettert war und nun dicht neben ihm auf dem Pfad saß. Der kleine Nachtrufer sprang panisch auf, versuchte an Lilian emporzuklettern und trompetete dabei eine entsetzte Fanfare genau in ihr Ohr hinein.

Lilian riss erschrocken die Hand hoch, verlor dabei das Gleichgewicht, rutschte über den Rand und fiel. Es gelang ihr noch im Fallen, einige Lianen des Blättervorhangs zu greifen, was ihren Sturz bremste, dennoch landete sie einige Meter tiefer hart auf ihrem linken Bein, welches den Aufprall mit einem scharfen Knacken quittierte.

Sie schrie auf, mehr aus Schreck als aus Schmerz, und fiel auf die Seite. Einige Sekunden lang lag sie auf dem Weg und horchte ängstlich in sich hinein, in Erwartung weiterer Schäden. Sie spürte keinen Schmerz, aber das Knacken hatte nicht gut geklungen. Vorsichtig setzte sie sich auf, schob ihr Kleid hoch und merkte sofort, dass ihr Bein vollständig außer Dienst war. Der Bruch im Oberschenkel schwoll bereits an und die Haut verfärbte sich zu einem tiefdunkeln Grün, das fast schwarz wirkte. Sie runzelte die Stirn. Laufen fällt erst einmal flach.

Jetzt erst bemerkte sie, dass sie Gesellschaft hatte.

Mehrere der schwarzen Grasbälle saßen auf dem Weg verteilt um sie herum. Lilian war trotz ihrer Verletzung sofort wieder fasziniert. Diese merkwürdigen Geschöpfe gaben einem das Gefühl, dass man aufmerksam beobachtet wurde, dabei hatten sie nicht einmal Augen. Sie wandte sich dem nächsten Wesen zu und versuchte ein Lächeln, verzog jedoch das Gesicht, als ihr Bein sie daran erinnerte, dass rasche Bewegungen zurzeit keine Option darstellten.

„Wie ich sehe“, begann sie, „seid ihr mit ein paar Kollegen unterwegs. Habt ihr zufällig noch ein paar Freunde mehr dabei und könnt mich vielleicht zu einem gehässigen Primaten zurückbringen, der mich bestimmt gerne darauf hinweisen würde, dass er es von Anfang an besser wusste? Nein? Ihr seid wirklich nicht so gesprächig wie mein kleiner Flatterfreund, das muss ich schon sagen.“ Sie sah sich um. „Wo ist der überhaupt?“

Wie zur Antwort drehten sich alle schwarzen Bälle gleichzeitig um und hoben erwartungsvoll die vorderen zwei Beine. Lilian zog die Brauen hoch.

Einen Moment lang herrschte Stille. Selbst die zahllosen Flatterbälle des Waldes schienen verstummt zu sein.

Als sie das Rauschen hörte, dachte Lilian zuerst, es wäre der aufkommende Wind in den Bäumen. Aber das konnte nicht sein, diese Welt schien keinen Wind zu kennen. Sie hob den Blick und erspähte eine Wand aus Dunkelheit durch den Wald auf sich zurollen. Eine gewaltige Flut aus Finsternis schoss Welle auf Welle die Astpfade entlang und begrub jedes Blatt und jede Blüte unter sich. Es dauerte endlose Sekunden, bevor Lilians Hirn endlich begriff, was sie da beobachtete. Sie schluckte schwer und flüsterte:

„Ich glaube, das sind mehr Freunde, als wir benötigen.“

Es mussten Millionen von schwarzen Bällen sein. Das Klicken ihrer dünnen Beine klang wie ein Sturmwind in den Wipfeln des Waldes. Die Sturmflut spülte die Wege entlang genau auf sie zu. Der Anblick der schieren Größe des Schwarms überforderte Lilian derart, dass sie nicht einmal auf die Idee kam, zu fliehen. Fasziniert betrachtete sie die rhythmischen Wellen, die sie schon in der Bewegung der einzelnen Beine gesehen hatte und die sich jetzt in den Wellenbewegungen des Schwarms fortsetzte. Rhythmische fraktale Codedynamik, flüsterte es auf einmal in ihrem Kopf. „Woher bitte …“, begann sie, als sie ein Schlag auf ihren Hinterkopf aus der Trance riss.

„Au!“, rief sie und sah nach oben, wo George mit der Linken an einem Bündel Lianen hing und ihr die Rechte entgegenstreckte.

„Hand!“, bellte er.

Lilian reichte sie ihm gehorsam und wurde sofort mit unfassbarer Kraft in die Höhe gezogen, eine Sekunde, bevor die vorderste Welle des Schwarms den Pfad unter sich begrub.

Die Sprache der Blumen

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