Читать книгу Die Sprache der Blumen - Sven Haupt - Страница 12

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Lilian öffnete die Augen und fand sich in einem weichen Nest aus bunten Kissen und Decken wieder. Helles Tageslicht fiel durch den runden Eingang in die Höhle und das Pfeifen und Trillern der Waldbewohner drang von draußen herein.

Als sie sich aufsetzte, fiel ihr Blick auf George, der ein wenig unbehaglich neben dem Eingang an der Wand hockte und sich erfolglos den Anschein gab, als hätte er nicht schon lange dort gesessen und sie beobachtet. Vor ihm auf dem Boden lag ein kleiner Haufen Früchte in verschiedenen Formen und Farben. Der Affe sah verlegen von dem Obst zu Lilian und murmelte: „Dachte, du hättest vielleicht Hunger.“

Die junge Frau lächelte.

„Auch dir einen schönen guten Morgen, George.“

Sie runzelte die Stirn und horchte in sich hinein. Sie spürte tatsächlich etwas, das Hunger sein mochte. Großer Hunger. Sie krabbelte zu dem Affen hinüber, hockte sich vor ihn und inspizierte die Auswahl.

Keine zwei der Früchte sahen gleich aus. Einige erinnerten an Bananen, andere glichen dicken Beeren oder Samenkapseln. Ein paar wirkten wie übergroße, weiche Nüsse und eine sah aus wie eine pelzige Kartoffel. Lilian runzelte die Stirn, doch der Hunger besiegte ihre Skepsis. Überrascht stellte sie fest, dass jede einzelne Frucht vollkommen einzigartig und absolut vorzüglich schmeckte.

Mit großem Appetit aß sie eine Frucht nach der anderen und hielt George dann fragend etwas hin, das aussah wie die kleine Version der Wasserfrucht, unter der sie geduscht hatte. Kugelig und halb transparent, mit einem dickflüssigen Inhalt, der leise gluckerte.

„Was ist denn das?“, fragte sie mit vollem Mund.

„Trinkfrucht“, erklärte George, der beeindruckt verfolgte, wie der Haufen Früchte schnell kleiner wurde. Er schob unauffällig eine Banane beiseite und versteckte sie hinter sich, während Lilian mit vollem Mund die Trinkfrucht musterte.

„Einfach in das spitze Ende beißen“, erklärte er.

Und das, dachte Lilian, während sie gierig trank, löst die Frage nach dem Durst, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn habe. Und es schmeckt, wie eine Frühlingswiese riecht.

„Bist du schon lange wach?“, fragte Lilian mit vollem Mund.

George nickte und schälte bedächtig seine Banane.

„Affen brauchen wenig Schlaf und mein Tag war gestern bedeutend weniger aufregend als deiner.“

Lilian sah sich kauend in der Höhle um.

„Weißt du, wer diese Höhle gebaut hat?“, fragte sie schließlich. „Muss ein sehr großes Tier gewesen sein.“

George schüttelte den Kopf.

„Immer noch keine Tiere. Nur Pflanzen, und niemand baut Höhlen in den Baum. Er formt sie selbst. Man findet sie über den ganzen Stamm verteilt. Oft erscheinen sie dort, wo sich die großen Astpfade um den Stamm winden und breite Balkone formen. Manchmal öffnet sich einfach irgendwo am Weg die Rinde und eine Höhle erscheint. Viele Geschöpfe nehmen das Angebot gerne an und ziehen dort ein. Meist finden sich Nester der Flatterwesen darin.“

Lilian nickte abwesend, griff nach einer weiteren Frucht und sah sich weiter um.

„Und was ist das da?“, fragte sie und zeigte auf ein großes, rundes Kissen in unscheinbarem Braun, das ein wenig abseits lag und mit dichtem, kurzem Gras bewachsen war.

George schnaufte.

„Das ist ein besonders nutzloses Exemplar eines ohnehin schon wenig hilfreichen Putzmuffels.“

Lilian lachte laut auf.

„Eines was? Eines … Putzmuffels?“

George nickte düster.

„Eine weitere Spezies, die sinnvoll sein könnte, wenn sie es nicht darauf anlegen würde, mich zu ärgern. Eigentlich suchen sie den Boden ab und fressen alles, was tot und nicht mehr brauchbar ist. Theoretisch eignen sie sich also hervorragend zum Putzen. Das Problem besteht darin, dass sie außerordentlich faul und störrisch sind. Wenn sie keine Lust haben, dann liegen sie einfach nur rum. Der da sollte hier eigentlich sauber machen, bevor du eintrafst, aber am Ende musste ich das alte Laub und den Flattermist selbst raustragen.“ Er sah mürrisch auf das Wesen hinab und fügte murmelnd hinzu: „Das Ding hat einfach beschlossen, sich zu verweigern, egal, wie oft man es tritt.“

George hob die leere Bananenschale und holte schon zum Wurf aus, als Lilian ihm sanft den Arm festhielt.

„Vielleicht“, erklärte sie langsam, „finden wir ja neben Treten noch eine andere Form der Kommunikation.“

Sie krabbelte zu dem runden Geschöpf hinüber, das vollkommen still am hinteren Rand der Höhle lag und tupfte vorsichtig mit dem Finger in das braune Gras. „Guten Morgen!“, rief sie freundlich. „Bist du schon wach?“

Das dicke Kissen zitterte ein wenig. Lilian hockte sich vor den Putzmuffel und betrachtete ihn eine Weile lang nachdenklich. Schließlich legte sie die flache Hand auf seine Oberseite und begann fest auf dem Gras hin und her zu rubbeln. Dabei rief sie: „Wer ist ein guter, kleiner Putzmuffel und will der netten Lilian gerne helfen? Wer ist schon ganz wach und motiviert? Was bist du für ein süßer, kleiner Muffel!“

Einen Moment lang herrschte verblüffte Stille, dann bebte das Geschöpf kurz, drehte sich einmal um sich selbst und glitt dann über den Boden davon in Richtung der leeren Fruchtschalen. Wo es vorbeikam, verschwand der Staub und der Boden glänzte blank und feucht. Dabei gab es leise schnaufende Geräusche von sich, die klangen wie: Hmpf, hmpf, hmpf. Es rutschte über den Haufen aus leeren Schalen und Fruchtkernen und ließ nur sauberen Boden zurück. Lilian lächelte den Affen an. „Kleine Muffel müssen manchmal einfach nur motiviert werden.“

George starrte mit aufgerissenen Augen dem Wesen nach, das nun leise muffelnd unter dem Kissenhaufen verschwand.

„Ich halt‘s nicht aus“, murmelte er.

Lilian stand auf und trat durch die niedrige, runde Öffnung auf den Astpfad hinaus, der dicht am Baum entlang in einer Spirale sanft nach oben stieg. Zahlreiche weitere Pfade zweigten in der Nähe ab und wanden sich in den Wald hinein. Ein großer Schwarm Flatterkugeln mit schillernden Flügeln stieg über ihr in den grünen Blätterhimmel. Die Luft roch nach Regen. Lilian stutzte.

„Hat es geregnet?“, fragte sie laut.

George kam hinter ihr aus der Höhle.

„Die Regenblüten haben sich kurz vor Sonnenaufgang für eine Stunde geöffnet.“

„Regenblüten“, wiederholte Lilian leise. Ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie ins Leere starrte. „Klein und dunkelblau? Hängen zu Tausenden ganz oben in der Krone? Versorgen alles Leben auf dem Baum mit Wasser?“

„Sehr gut“, kommentierte der Affe. „Ich sehe, deine Erinnerungen kehren zurück.“

Lilian blickte um sich und begann einem der Pfade zu folgen, die vom Baum fortführten. Sie schien etwas zu suchen.

„Ich kann die Sonne nicht sehen“, verkündete sie schließlich. „Es sieht immer so aus, als würde das Licht von allen Seiten kommen.“ George folgte ihr und deutete in eine bestimmte Richtung rechts vom Weg, auf dem sie gingen.

„Der Sonnenaufgang ist dort drüben. Die Sonne geht immer dort auf und sie geht immer“, er zeigte in die entgegengesetzte Richtung, „dort unter. Der Baum ist also genau in der Mitte. In Richtung des Baumes ist stammwärts. Die Richtung, in die wir gehen, wäre also randwärts.

Lilian nickte.

„Klingt einleuchtend.“ Sie sah sich aufmerksam um. „So langsam“, verkündete sie, „bekomme ich eine Idee, wie man sich hier orientiert. Das da drüben sind Plattformen, nicht wahr? Und diese dort, dicht unter den Astpfaden, sodass die herabhängenden Blättervorhänge einen Sichtschutz bilden, das sind dann Duschen, stimmt‘s?“

George trat neben sie, folgte ihrem Blick und nickte.

„Aber nicht alle davon sind Duschen. Manche erfüllen eine etwas andere Funktion.“

„Und welche wäre das?“

„Nun, sagen wir so, manche dieser Plattformen haben ein Loch in der Mitte und anstatt von Wasserfrüchten gibt es dort Büsche mit, ähm, sehr weichen, großen Blättern.“

Lilian blinzelte.

„Oh … das ist nützlich zu wissen.“

„Besonders für jemanden“, murmelte der Affe, „der gerade erst einen riesigen Haufen Früchte verdrückt hat.“

Lilian lachte.

„Ich möchte noch mehr sehen“, erklärte sie fröhlich und wanderte bereits davon.

Die beiden folgten dem Astpfad und Lilian bog immer wieder in verschiedene Richtungen vom Hauptweg ab, wann immer sie auf etwas stieß oder erspähte, was sie interessierte. Die Vielfalt der Pflanzen war atemberaubend. Es hatte den Anschein, dass der Baum es darauf anlegte, die Formen und Motive seiner Schöpfungen möglichst selten zu wiederholen.

„Alles ist so wunderschön“, hauchte Lilian schließlich, während sie stehen blieb und sich entzückt um sich selbst drehte. „Alles ist einzigartig und erfüllt seinen Zweck und alle Wesen koexistieren friedlich nebeneinander!“

George lachte erstickt hinter ihr und rief: „Friedlich nebeneinander?“ Er zeigte grinsend sein beeindruckendes Gebiss. „Hör sich einer den kleinen Setzling an. Gerade erst vom Baum gefallen und erklärt schon die Welt.“

Lilian runzelte die Stirn.

„Mein bisheriger Eindruck war“, erwiderte sie kühl, „dass dein kreativer Ansatz, den Wald zu treten und mit Obst zu bewerfen, nur begrenzt erfolgreich ist.“

„Das mag sein“, bestätigte George und bog auf einen kleinen, unscheinbaren Seitenpfad ab, „aber immerhin lebe ich noch. Was mehr ist, als man von jemandem erwarten darf, der versucht, alles und jeden im Wald zu umarmen.“

„Ist das so?“

„Du hast noch nicht viel von deiner neuen Welt gesehen, kleiner Setzling. Dieser Ort ist weit weniger freundlich, als es den Anschein haben mag.“

Sie traten unter einem niedrigen Astpfad hindurch und kämpften sich durch einen besonders dichten und verfilzten Blättervorhang, der mit feinen Dornen an ihnen zerrte. Auf der anderen Seite lag eine kleine Plattform, auf der eine einzelne, riesige Blume wuchs. Die tiefrote, glockenförmige Blüte hing weit über Lilians Kopf am Ende eines langen, gebogenen Stils, der für sich genommen schon dicker war als sie selbst. Die Blüte überragte sie um mehrere Kopflängen. Ein langer, dünner Fortsatz, der aussah wie eine haarige Liane, hing aus der Blüte heraus und endete dicht über dem Boden. Lilian stieß entzückt einen kleinen Schrei aus.

„Das“, hauchte sie hingerissen, „ist mit Abstand die größte Blume, die ich je gesehen habe. Warum ist sie so groß?“

George saß am Rand der Lichtung und betrachtete interessiert seine Fingernägel.

„Keine Ahnung“, erwiderte er. „Versuch doch, sie zu umarmen und zu streicheln, vielleicht findest du es ja heraus.“

Lilian zog die Stirn kraus und funkelte den Affen düster an. Sie trat näher an die Blume heran, inspizierte kritisch die dünne Liane und griff vorsichtig danach.

„Wozu das hier wohl gut ist“, murmelte sie und strich vorsichtig über die dünne Behaarung.

„Oh, das“, erklärte der Affe gut gelaunt. „Das ist zum Neugierigmachen und Anfassen gedacht.“

„Und dann?“, fragte Lilian.

„Nun“, erklärte der Affe heiter, „stellt man fest, dass die Liane erstaunlich klebrig ist.“

Lilian versuchte die Liane loszulassen, aber lange Schleimfäden hielten sie fest.

„Iieh!“, rief sie. „Das ist ja eklig.“ Sie versuchte die Liane mit der freien Hand zu entfernen.

„Als nächstes“, kommentierte George, „versucht der neugierige Setzling die Liane zu entfernen und lernt, dass er es dadurch nur schlimmer macht.“

Lilian, die jetzt mit beiden Händen an der Liane klebte, trat einige Schritte zurück, um sich loszureißen.

„Zuletzt versucht der kleine Setzling sich loszureißen und zieht an dem Fortsatz, was für die Blume das Signal ist …“

Mit einem verblüfften Aufschrei wurde Lilian von den Füssen gerissen und verschwand schneller als ein Wimpernschlag vollständig in der Blüte, die sich fest um sie herumschloss.

„… den Mechanismus auszulösen und den unbedarften Setzling in den Kelch zu ziehen“, beendete George gelassen den Satz, ohne seinen Blick von den Fingernägeln zu nehmen.

Eine Weile herrschte Schweigen auf der Plattform. In der Ferne war der Schrei eines Morgenrufers zu hören. Schließlich drang Lilians gedämpfte Stimme aus der Blüte:

„Okay, okay, ich habe es verstanden. Ich kenne den Wald nicht. Könntest du mich jetzt bitte hier herausholen?“

George ließ die Hand sinken, seufzte und erhob sich. Er kletterte ohne große Mühe am Stil der Blüte empor und riss kurzerhand und ohne jede sichtbare Anstrengung die großen, roten Blätter der Blüte auseinander. Er griff in den Kelch hinein und ließ die vollkommen von zähem Schleim bedeckte Lilian langsam zum Boden hinab.

Kurze Zeit später setzten die beiden ihre Unterhaltung auf einer anderen Plattform fort, während George mehrere Handtücher entrollte und Lilian erfolglos versuchte, sich den zähen Schleim vom Körper zu waschen.

„Soso“, bemerkte Lilian schließlich betont beiläufig. „Eine menschenfressende Pflanze.“

„Pflanzenfressende Pflanze“, korrigierte George sanft.

„Das erscheint mir nicht allzu sinnvoll, wenn offensichtlich nur wir beide überhaupt als Beute infrage kommen.“

„Sprich für dich selbst, kleiner Setzling. Die letzte Blume, die das bei mir probiert hat, habe ich von innen heraus in Stücke gerissen. Affen sind nicht sehr geduldig.“

„Das macht nur noch weniger Sinn, was soll der Zweck einer solchen Pflanze sein?“

„Kein Zweck“, kommentierte der Affe. „Korrupter Code.“

„Wie bitte?“, fragte Lilian und ließ die Hände sinken.

„Nicht alles hier im Wald funktioniert noch so, wie es vielleicht einmal gedacht war. Vieles benimmt sich seltsam, oder folgt eigenen, bizarren Regeln.“

„Eigenen Regeln!“, rief Lilian aufgebracht und rubbelte vehement über ihren haarlosen Kopf. „Ich hätte sterben können!“

„Der Baum gibt es, der Baum nimmt es“, kommentierte der Affe gelassen. „Außerdem stirbt nichts hier im Wald. Dennoch solltest du vorsichtiger sein, während wir uns hier bewegen.“

„Wir?“, fragte Lilian und riss dem Affen das Handtuch aus der Hand, welches er ihr reichte. „Soll das heißen, du planst, mich an der Hand zu halten, bis ich alt und grau bin?“

„Du hast keine Haare, die grau werden könnten“, erklärte George ruhig, „und alt wirst du auch nicht. Das sind die Gedanken eines Menschen. Es entspricht deinem Basis-Code, aber der wird dir hier nichts mehr nützen.“

„Was soll das heißen?“, fragte sie und ließ das Handtuch sinken.

„Pflanzen altern nicht“, erklärte George.

„Bedeutet das, ich werde für immer so aussehen wie jetzt?“

„Im Wesentlichen … ja.“

„Und wenn ich vom Astpfad falle?“

„Danach wird es eine Weile dauern, aber schließlich werden wir unsere erste Begegnung wiederholen.“

Lilian starrte ihn regungslos an, das Handtuch in ihren Händen vollkommen vergessen.

„Ich würde dich jedoch bitten“, fügte der Affe nach einer Weile des Schweigens hinzu, „das nicht zu probieren. Ich habe monatelang neben der verdammten Frucht gehockt und gewartet, dass endlich etwas passiert, und würde das nur äußerst ungern wiederholen. Zumal es endlose Wochen gedauert hat, das blöde Ding überhaupt zu finden.“

Lilian ignorierte George, wickelte sich das Handtuch um den Körper und ging wortlos an dem Affen vorbei. George sah ihr noch lange stumm hinterher, bevor er langsam nickte und leise seufzte.

Die Sprache der Blumen

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