Читать книгу Heinrich Schütz. Geistliche Chormusik - Sven Hiemke - Страница 8
|15| 2. Beispielhaft Wider den Dilettantismus
ОглавлениеMan fragt sich, ob Schütz konkrete Werke im Sinn hatte, als er in der Vorrede zur Geistlichen Chormusik Kompositionen anprangerte, denen Kenner allenfalls den Wert einer »tauben Nuß« zugestehen würden. Gewiss, die Veröffentlichung der eigenen Motettensammlung war »zu niemands Verkleinerung gemeinet«, wie Schütz betonte – der Dresdner Hofkapellmeister war viel zu nobel, um einzelne Kollegen oder deren Werke zu diskreditieren. Möglicherweise dachte Schütz dabei an die vielen Gelegenheitswerke, wie sie von Lokalgrößen wie dem Oldenburger Kantor Johann Schwemmler komponiert worden waren: Dieser – so überlieferte es Werner Braun – wusste »nicht einmal zwei Stimmen längere Strecken hindurch richtig miteinander zu verbinden«, was ihn aber nicht davon abhielt, »ein siebenstimmiges ›Werk‹ auf der Grundlage eines vierstimmigen Satzes von Schein« vorzulegen.14
Vielleicht dachte Schütz dabei auch an einige Passagen aus der Sammlung Angst der Hellen und Frieden der Seelen (Jena 1623), einer Anthologie von 16 Motetten über Psalm 116, die der Jenaer Hofbeamte Burckhard Großmann (1575–1637) als Dank für eine »sonderbahre grosse Wolthat und wunderliche Errettung Gottes, so er mir im Jahr 1616 […] erwiesen«,15 bei 16 Komponisten der sächsisch-thüringischen Region (darunter auch Schütz) in Auftrag gegeben und im Druck veröffentlicht hatte. Die Beiträge fielen naturgemäß sehr unterschiedlich aus – auch qualitativ. In der Motette des Erfurter Kantors Michael Altenburg (1584–1640) etwa machen sich zahlreiche unvollständige Klänge bemerkbar (siehe Notenbeispiel 1.1). Solche Sätze mit terzlosen Klängen (bei denen der Continuo das fehlende Intervall also »nachliefern« muss), konnte Schütz nicht goutieren: Seiner Ansicht nach musste ein kontrapunktischer Satz auch ohne Generalbass harmonisch stets eindeutig sein.
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Notenbeispiel 1.1: Michael Altenburg, »Das ist mir lieb« (Angst der Hellen und Friede der Seelen, Nr. 7), Teil 4, T. 127–133
Eine andere Spur führt zu dem Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645–1706), der in seinen Schriften von 1686 und 1700 gegen die vielen Dilettanten und »Prahler« zu Felde zog, die lieber »ihrem eigenen Willen« als »den natürlichen Gesetzen folgen« und sich »vor grosse Componisten ausgeben«, obwohl sie »nicht einmahl die Geige temperate zu stimmen wissen«.16 Die Vielzahl an missratenen Werken sei indes lediglich die Folge der verbreiteten Unkenntnis des »rechten Musicalischen Fundamentes«, des Regelwerkes korrekten Komponierens. Denn wer dieses nicht beherrschte, so Werckmeister, könne eben »nicht anders urtheilen als ein Schaffs-Knecht«.17
Um seine eigene Position autoritativ abzusichern und den »Idioten« zu der Erkenntnis zu verhelfen, dass sie »die Music verderben, mißbrauchen und beschimpfen« und damit »rechtschaffene Musicos […] verläumden«, berief sich Werckmeister mehrfach auf die Korrespondenz, die Schütz und Samuel Scheidt (1587–1654) mit Heinrich Baryphonus (1581–1655) geführt |17| hatten. Letzterer bekleidete das wenig prestigeträchtige Amt des Kantors an St. Benedicti in Quedlinburg, verfügte aber als Theoretiker über ein hohes Renommee und stand mit den führenden Komponisten seiner Zeit in Kontakt. In einem an Baryphonus gerichteten Brief vom 26. Januar 1651, so überliefert es Werckmeister, echauffierte sich Scheidt über die »närrische Music« von heute: »Da gilt falsch und alles, da wird nichts mehr in acht genommen, wie die lieben Alten von der Composition geschrieben.«18 Auch Schütz wird von Werckmeister zitiert – in seinem Brief vom 19. Januar 1638 äußert der Dresdner Hofkapellmeister gegenüber Baryphonus, dass »ein Musicus […] die Theoriam nicht auf die Seite setzen, sondern die Regulas, so wohl auch die Tonos verstehen« solle. Und in einem Schreiben Schütz’ vom 24. Januar 1642 an den Quedlinburger Musiktheoretiker heißt es: »Es täthe wohl von Nöthen«, dass »ein ausführlicher discurs ans Tage Licht käme, darinnen die unterschiedlichen species der Music vor Augen gestellt würden, auf daß ein jeder von seinen schlechten Thaten besser judiciren lernete.«19
Es wäre ein Missverständnis, anzunehmen, Werckmeister habe mit seiner Berufung auf Äußerungen Dritter20 beabsichtigt, einen bestimmten Stil zu nobilitieren oder gar für verbindlich zu erklären. Er wolle seine »Meynung niemand vorschreiben, oder ein Gesetz geben, ein jeder mache es auch nach seinem Kopffe«, schrieb Werckmeister in der Vorrede zu seiner Harmonologia musica (Frankfurt am Main 1702). Zu kritisieren waren vielmehr die »Ignoranten« – »elende Leute, die da auf die vorgefassete Meinungen ihren Plunder setzen und nicht selbst gründliche rationes suchen«.21 So korrespondiert sein Plädoyer für die unabdingbare Kenntnis der »fundamenta« Schütz’ Forderung nach Beherrschung der »Nothwendigen Requisita«: Hier wie dort liegt die Betonung auf der überzeitlichen Geltung von Richtlinien, die auf der Grundlage der Tradition zu erlernen waren.
Zu dem didaktischen Hintergrund der Geistlichen Chormusik passt auch die Widmung an den »berühmten Chore« der Stadt Leipzig, also den Thomanerchor (bzw. dessen Träger, der »Churfürstlichen Stadt Leipzig wohl verordnete Herren Bürgermeister und Ratsmanne[n]«). Schütz verband die Dedikation erklärtermaßen mit der Hoffnung, dass der Stadtrat »solchen Chor in ihren Kirchen und Schulen wie bißher, also auch hinführo […] zu erhalten und zu stärcken […] gantz geneigt« sein würde. Mit der Kombination von Verbundenheit für Geleistetes und Appell zu weiterer Förderung hatten schon andere Komponisten dem Leipziger Stadtrat |18| gehuldigt, darunter der Wolfenbütteler Kapellmeister Michael Praetorius (1571–1621), der den zweiten Teil seines Syntagma musicum (Wolfenbüttel 1619) dem Leipziger Rat übereignete und sich im Widmungstext für dessen »grosse Gunst, geneigten Willen und Gutthat« bedankte, zugleich aber daran erinnerte, dass sich die Stadt Leipzig ihren Ruf als Kulturmetropole wohl kaum erworben hätte, würde der Stadtrat nicht fortgesetzt Instrumenten- und Notenanschaffungen subventionieren und die Musik so »hoch, lieb und wert halten«.22
Schütz’ nähere Beziehung zu Leipzig verdankt sich nicht zuletzt seiner Freundschaft mit dem Thomaskantor Johann Hermann Schein (Amtszeit: 1615–1630)23 – ganz gewiss ist in der Zueignung der Geistlichen Chormusik an die Stadt Leipzig und die Thomaner auch die persönliche Erinnerung an den Kantor aufgehoben. Schein hatte mit seiner Fontana d’Israel, Israels Brünnlein (Leipzig 1623) schon ein Vierteljahrhundert vor Erscheinen der Geistlichen Chormusik eine Sammlung mit 26 fünfstimmigen Motetten im Druck vorgelegt – die Anthologie gilt als einer der maßgeblichen Vorläufer von Schütz’ Sammlung;24 auch sie ist dem Leipziger Stadtrat gewidmet.25 Und dieser ließ sich solche Widmungen stets einiges kosten: Praetorius erhielt für seine Dedikation des Syntagma musicum II 12 Reichstaler, Schein für die Fontana d’Israel 17 Gulden, Schütz für diejenige seiner Geistlichen Chormusik sogar 22 Gulden und 18 Groschen.26
Wert und Kaufkraft dieser Summen in heutiger Währung wiederzugeben, erscheint nach den fundamental geänderten Preisniveaus etwa für Lebenshaltungskosten bekanntlich kaum möglich. Als Anhaltspunkt mögen die Relationen dienen, die Moritz John Elsas in den 1940er-Jahren als ungefähre Äquivalente ermittelt hat.27 Demnach wären für einen Reichstaler 72 Euro, für einen Gulden 63 Euro und für einen Groschen 3 Euro anzusetzen. Schütz’ Widmung der Geistlichen Chormusik wäre vom Leipziger Stadtrat also mit knapp 1.500 Euro honoriert worden.
Neben Schein erwähnt Schütz in seiner Widmungsvorrede der Geistlichen Chormusik – der Zueignungstext ist auf den 21. April 1648 datiert – noch zwei andere seiner Kollegen: Rogier Michael (um 1552 – nach 1619) und dessen Sohn Tobias Michael (1592–1657). Beide Musiker kannte Schütz gut. Rogier Michael war Schütz’ unmittelbarer Vorgänger im Amt des Dresdner Hofkapellmeisters gewesen (Amtszeit: 1587–1615); zu seinen Schülern zählte Schein und auch sein Sohn Tobias, der später, zur Zeit der Veröffentlichung der Geistlichen Chormusik, als Nachfolger Scheins Thomaskantor war (Amtszeit: 1631–1657) und sich auch kompositorisch an |19| der dortigen Musikpflege beteiligte – nicht zuletzt mit dem ersten Teil seiner Musicalischen Seelenlust (Leipzig 1635), einer Sammlung mit 30 Motetten, die nach dem Vorbild von Scheins Fontana d’Israel komponiert sind.