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3. Geordnet Aufbau und Konzeption

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Schütz fasste den Entschluss, aus dem Fundus vorhandener Kompositionen die gelungensten Motetten zusammenzustellen und um neue Schöpfungen zu ergänzen, in einer Zeit, in der der seit drei langen Jahrzehnten währende Krieg allmählich verebbte und 1648 – dem Veröffentlichungsjahr der Geistlichen Chormusik – mit dem Westfälischen Frieden endlich offiziell beendet war.28 Während des Krieges wäre die Publikation einer solch umfangreichen Sammlung weder sinnvoll noch möglich gewesen – wer hätte daraus singen sollen in Zeiten, in denen »die löbliche Music […] nicht allein in grosses Abnehmen gerathen, sondern an manchem Ort gantz niedergeleget worden« war, wie Schütz im Vorwort zum ersten Teil der Kleinen geistlichen Concerte (Leipzig 1636) schrieb?29 Zahlreiche zeitgenössische Autoren haben die Gräuel und die von Hunger und Elend geprägte Zeit, die insgesamt etwa 40, gebietsweise sogar 70 Prozent der Bevölkerung hinwegraffte, in eindringlichen Formulierungen beschrieben. »Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr den[n] ganz verheeret!«, heißt es etwa zu Beginn des Antikriegsgedichtes Tränen des Vaterlandes (1636), in dem Andreas Gryphius (1616–1664) das nicht enden wollende Elend und die Verwüstungen des »vom Blut fetten Schwertes« schildert. »Wo wir hin nur schaun, ist Feuer, Pest, und Tod«, und »unser Ströme Flut von Leichen fast verstopft«.30

Man kommt nicht umhin, eine Parallele zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und den derzeitigen Schlachtfeldern im Irak und in Syrien zu ziehen. Nicht nur die mörderische Gewalt, der Raub, die Plünderung und Verwüstung ganzer Landstriche sind vergleichbar, sondern auch der Grund: ein Konflikt, bei dem jede der Parteiungen dem jeweils anderen die Rolle des Aggressors vorwirft und den »rechten« Glauben und die politische Vormachtstellung für sich beansprucht. Und ebenso wie heute erschien die Hoffnung auf eine friedliche Welt auch damals und zumal nach dem wiederholten Scheitern von Friedensschlüssen als weithin illusorisch.

|20| Auch Schütz hat die »wiedrigen zeiten«, jene schier endlosen Jahre der Schlachten und Scharmützel, in deren Folge »die Churfürstlich hoffmusic […] gentzlich zu grunde gegangen« und er selbst »dabey auch alt geworden were«,31 oft in drastischer Sprache beklagt. In der Widmungsvorrede zum zweiten Teil der Kleinen geistlichen Concerte (Dresden 1639) begründet er die reduzierte Besetzung dieser Sätze mit dem Niedergang der »unter den Waffen gleich als erstickten und in den Koth getretenen Künste« und der »Boßheit der ietzigen, den freyen Künsten widrigen Zeiten«, die seinen »anderweit […] bey Handen habenden bessern Wercken das Liecht nicht gönnen wollen«.32 Gut möglich, dass Schütz bei diesem Hinweis auch an Motetten dachte, die später in die Geistliche Chormusik eingingen.

Es fällt auf, wie häufig Schütz den Begriff der »Unordnung« heranzog, um die verheerenden Folgen des Krieges zu benennen. Von »allgemeinen Ruinen und eingerissenen Unordnungen, so der unselige Krieg mit sich zu bringen pfleget«, ist beispielsweise im Vorwort zum ersten Teil der Kleinen geistlichen Concerte die Rede, und in dem (selbstverfassten) Trauergedicht zu den Musicalischen Exequien heißt es: »Indem was gutes nur war vormals angerichtet / Nun lieget gantz vnd gar zertreten und zernichtet / All’ Ordnu[n]g ist zertrennt / Gesetze sind verkehrt.«33 Insofern Schütz den »unseligen Krieg« als Inbegriff einer (von Gott nicht gewollten) »Unordnung« und »Gesetzlosigkeit« verstand, konnte ihm ein Tonsatz innerhalb eines kodifizierten Regelwerks als ein Abbild göttlicher »Ordnung« gelten.34 Die mittelalterliche Vorstellung einer strukturellen Analogie von Welt und Musik war auch in der Barockzeit durchaus noch präsent – dies belegen musiktheoretische Lehrbücher wie etwa die Abhandlung des Nürnberger Kapellmeisters Johann Andreas Herbst (1588–1666), der den kosmologischen Zusammenhang zwischen der Ordnung der Welt und der Musik in seiner Arte Pratica & Poëtica (Frankfurt am Main 1653) so beschrieb: »Wie die Anarmonia und Uneinigkeit eine Ursache des Untergangs in allen Dingen ist, also wird dagegen durch die Harmoniam alles erhalten, kraft welcher auch alles bestehet, ja das, was gefallen, wieder aufgerichtet und […] zum Harmonischen Ebenbild Gottes wieder erneuert werden kann.«35 Auch Andreas Werckmeister, der sich mit der Frage beschäftigte, »warum der Mensch durch die Musicam erfreuet werde«, fand eine plausible Antwort in der Erkenntnis, dass diese letztlich »nichts anderes als ein Formular und Ordnung der Weisheit Gottes« sei, weshalb »ein Mensch, wenn er nicht einer grimmigen Bestie gleich ist, billig zur Freude bewogen werden« |21| müsse, sobald ihm »die Ordnung und Weisheit seines gütigen Schöpfers […] ins Herz und Gemüthe geführet« werde.36

Kontrapunkt als Sinnbild des »Geordneten«: Mit einer solchen Perspektive wäre die Zusammenstellung der Geistlichen Chormusik als Gegenentwurf zu einer aus den Fugen geratenen Welt zu verstehen. Kaum zufällig taucht der fragliche Begriff auch in der Vorrede zu dieser Sammlung auf: einmal an der Stelle, an der Schütz betont, dass die Werke der Nachwuchskomponisten kontrapunktisch unbedingt »in guter Ordnung« zu sein hätten, und einmal dort, wo von der Praxis seines Lehrers Gabrieli die Rede ist, sich von den »Anfahenden« – also den Nachwuchskomponisten – ein »Wercklein ohne den Bassum Continuum […] recht ausgearbeitet« vorlegen zu lassen – eine Usance, die Schütz als »gute Ordnung« bezeichnet.

Musicalia ad Chorum Sacrum, Das ist: Geistliche Chor-Music / Mit 5. 6. und 7. Stimmen / beydes Vocaliter und Instrumentaliter zugebrauchen: So lautet der vollständige Haupttitel von Schütz’ Sammlung (vgl. Abbildung 1). Die »gute Ordnung« dieser Sammlung wird bereits in ihrer äußeren Präsentation manifest. Das Kompendium enthält insgesamt 29 Motetten (wobei Nr. 1 und 2 bzw. Nr. 4 und 5 jeweils als »prima« und »secunda pars«, also als Paare bezeichnet sind). Im Druck sind die Motetten in aufsteigender Stimmenzahl angeordnet: Die ersten zwölf Stücke der Sammlung sind fünfstimmig (mit doppeltem Sopran oder Tenor); dann folgt die gleiche Anzahl von sechsstimmigen Stücken (mit doppeltem Sopran und Tenor) und schließlich fünf siebenstimmige Motetten (mit verschiedenen Besetzungen und auch instrumentaler Beteiligung). Die Texte der Geistlichen Chormusik entstammen größtenteils der Bibel (in Luthers Übersetzung), fast die Hälfte davon aus dem Neuen Testament. Nur sechs der 29 Motetten sind über außerbiblische Texte komponiert (vgl. die Übersicht auf S. 23).

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Abbildung 1: Heinrich Schütz, Geistliche Chormusik. Titelblatt des Stimmbuchs »Cantus«

Nimmt man an, dass Schütz die Motetten der Geistlichen Chormusik zu einem nennenswerten Teil aus bereits früher entstandenen Werken zusammenstellte, so ist die Sorgfalt, die der Komponist bei ihrer Anordnung walten ließ, umso erstaunlicher. Immerhin besteht über die Frage, ob mit der Geistlichen Chormusik eine Sammlung oder ein Zyklus vorliegt, bis heute keine definitive Klarheit. Philipp Spitta (1841–1894), der das Werk 1889 im Rahmen der alten Schütz-Ausgabe herausgab, meinte eine Ausrichtung der Geistlichen Chormusik am Kirchenjahr zu erkennen.37 Rudolf Wustmann (1872–1916) sah in der Anordnung der Texte zwar nur »das erste Viertel des kirchenmusikalischen Jahres« aufgehoben, folgerte |23| aber aus dem Zusatz »Erster Theil« im Titel der Sammlung, dass Schütz’ Vorrat an weiteren Motetten »vierfach war oder wohl noch größer; […] er hatte wahrscheinlich auch noch viele acht- und mehrstimmige Motetten geschaffen: wir dürfen von einem dereinstigen achtfachen Motettenvorrat dieser vorzüglichen Qualität um 1650 in Dresden träumen«.38 Später vermutete Otto Brodde (1910–1982), dass Schütz weitere Folgen der Geistlichen Chormusik mit Oster- und Ordinariumskompositionen geplant hatte.39

Herkunft der Texte
Genesis Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden (Nr. 1) Er wird sein Kleid in Wein waschen (Nr. 2)
Psalter Herr, auf dich traue ich (Nr. 9) Die mit Tränen säen (Nr. 10) Die Himmel erzählen die Ehre Gottes (Nr. 18)
Jesaja Tröstet, tröstet mein Volk (Nr. 14) Ein Kind ist uns geboren (Nr. 16)
Hiob Ich weiß, dass mein Erlöser lebt (Nr. 25)
Evangelien Viel werden kommen von Morgen und von Abend (Nr. 7) Sammlet zuvor das Unkraut (Nr. 8) Also hat Gott die Welt geliebt (Nr. 12) Ich bin eine rufende Stimme (Nr. 15) Das Wort ward Fleisch (Nr. 17) Ich bin ein rechter Weinstock (Nr. 21) Sehet an den Feigenbaum und alle Bäume (Nr. 26) Der Engel sprach zu den Hirten (Nr. 27) Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört (Nr. 28) Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen (Nr. 29)
Episteln Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes (Nr. 3) Unser keiner lebt ihm selber (Nr. 6) Das ist je gewisslich wahr (Nr. 20) Unser Wandel ist im Himmel (Nr. 22)
Apokalypse Selig sind die Toten (Nr. 23)
Kirchenlieder Verleih uns Frieden genädiglich (Nr. 4) Gib unsern Fürsten und aller Obrigkeit (Nr. 5) So fahr ich hin zu Jesu Christ (Nr. 11) Herzlich lieb hab ich dich, o Herr (Nr. 19) Was mein Gott will, das gscheh allzeit (Nr. 24)
Gebetstext O lieber Herre Gott, wecke uns auf (Nr. 13)

Die Behauptung eines engen Bezuges von Schütz’ Geistlicher Chormusik zum Kirchenjahr aber ist nicht haltbar. Zwar kreisen die ersten der fünf- und auch der sechsstimmigen Motetten um die Erwartung bzw. die Geburt Christi, mithin um die Thematik der Advents- und Weihnachtszeit (Nr. 1–2 und Nr. 13–16); weitere Bezüge zur Chronologie des Kirchenjahres festzustellen fällt allerdings schwer. Dies heißt nicht, dass dem »Ablaufplan« der Geistlichen Chormusik kein thematisches Ordnungsprinzip |24| zugrunde läge. Für die fünfstimmigen Motetten gewinnt es den Anschein, als habe Schütz nach den ersten drei »Advents-« bzw. »Weihnachtsmotetten« auch die weiteren Themenfelder in Dreiergruppen disponiert: Ein zweiteiliges Friedensgebet wird mit der Erkenntnis beschlossen, dass das Leben und Sterben des Menschen in Gottes Hand liegt (Nr. 4–6); dann folgen zwei Motetten mit düsteren Visionen von Gottes Gerechtigkeit und Strafen, denen in der dritten Motette das Vertrauen auf Errettung tröstlich gegenübersteht (Nr. 7–9). Der letzte Dreierblock eröffnet mit der göttlichen Zusage, dass auf irdische Leiden ewige Freuden folgen werden, und schließt mit zwei Motetten, die um das jenseitige Leben kreisen (Nr. 10–12). Dabei ragt das Schlussstück »Also hat Gott die Welt geliebt« – Resümee und Vision zugleich – stilistisch insofern heraus, als es als »Aria« komponiert (und auch so überschrieben) ist.40

Mit diesem Gedanken, dass Gott seinen Sohn in die Welt gegeben habe, knüpft jener Teil der Geistlichen Chormusik, der die sechsstimmigen Motetten enthält, an den ersten an, indem die eschatologische Botschaft der Eröffnungsmotette dieses Teils (»O lieber Herre Gott, wecke uns auf, wenn dein Sohn kömmt«; Nr. 13) zwanglos auf den thematischen Ausgangspunkt – Advent und Geburt Christi – rückbezogen werden kann. Dieser ist auch Gegenstand der sich anschließenden Motetten: Jesajas Prophetie eines »Predigers in der Wüsten« (Nr. 14) erscheint mit der Vertonung von Worten Johannes des Täufers gleichsam als Nachweis ihrer Erfüllung (Nr. 15), dann werden die Geburt des Gottessohns (Nr. 16) und ihre Bedeutung für die Christenheit besungen (Nr. 17). Es folgen die (allgemeine) Verherrlichung der Taten Gottes (Nr. 18) und eine (persönliche) Liebeserklärung an den Herrn, die Schütz – wiederum als dramaturgischen Einschnitt – als »Aria« vertont hat (Nr. 19). Der anschließend erneut formulierte Zusammenhang zwischen Christi Menschwerdung und der Verheißung der Erlösung »zum ewigen Leben« (Nr. 20) geht mit einer Erinnerung an die Vorbildwirkung Jesu einher, die mit dem Text »Ich bin ein rechter Weinstock« (Nr. 21) nochmals bestätigt wird. Folgerichtig thematisieren die Schlussmotetten das ewige Leben sowie die ewige Ruhe am Tag des Jüngsten Gerichts (Nr. 22 und 23) und schließlich die kollektive Versicherung unbedingten Gottvertrauens (Nr. 24).

Selbstvergewisserung durch Gottvertrauen ist auch das Thema der ersten siebenstimmigen Motette. Die weiteren Stücke mit gleicher Besetzung kreisen abermals um den Tag des Jüngsten Gerichts und Gottes Bestrafung der sündigen Menschen (Nr. 26, 28, 29); dazwischen – |25| gleichsam als Erinnerung an die Frohe Botschaft im Sinne eines nachdrücklichen Hinweises auf Errettung – findet sich die schon erwähnte Gabrieli-Motette mit dem (wohl von Schütz selbst unterlegten) analogen deutschen Luther-Text, in der die den Hirten überbrachte Nachricht von Christi Geburt besungen wird (Nr. 27).

Aufs Ganze gesehen, kann also von einer Ausrichtung am Kirchenjahr keine Rede sein. Eher gewinnt es den Anschein, als habe Schütz die einzelnen Gruppen von Motetten gleicher Stimmenzahl predigtartig zusammengestellt (weil eine Zusammenstellung in der Folge des Kirchenjahres – zumal im Nachhinein – auch nur bedingt möglich war). In der »Vorrede« zur Geistlichen Chormusik fehlt denn auch jeglicher Hinweis auf eine kirchenjahreszeitliche Bestimmung. Errettung und die Verheißung des ewigen Lebens hingegen sind als wiederkehrendes Thema in allen drei Motetten-»Blöcken« präsent.

Den definitiven Nachweis einer zyklischen Konzeption zu erbringen scheint einstweilen nicht möglich. Jutta Schmoll-Barthel hat eine Disposition ermittelt, der gemäß Schütz die Motetten der Geistlichen Chormusik nach einem axialsymmetrischen Tonartenplan angeordnet haben könnte; die Behauptung einer solchen Anlage – mit der Motette »Ein Kind ist uns geboren« (Nr. 16) als Zentrum – ist allerdings an die Prämisse gebunden, dass die »modale Konzentration« nur in dem unmittelbaren Umfeld, nämlich in den je drei vorausgehenden und nachfolgenden Motetten wirksam ist. Für die von diesem Zentrum weiter entfernteren Stücke muss ein anderes Verfahren der tonartlichen Spiegelung geltend gemacht werden.41 Auch dass die Geistliche Chormusik genau 29 Werke enthält, muss nicht zwangsläufig auf eine zyklische Idee zurückzuführen sein, wenngleich Tobias Gravenhorst in seiner Abhandlung über Zahlensymbolik im 17. Jahrhundert etliche Sammlungen mit 29 Einzelwerken gefunden hat.42

Letztlich ist die These, die Geistliche Chormusik basiere auf einer zyklischen Idee, nur vage zu begründen und angesichts der in Inhalt und Form so unterschiedlichen Motetten nicht einmal wahrscheinlich. Die satztechnischen Richtlinien – Prinzipien einer »geordneten«, »regulirten Composition«, die den »rechten Kern« jeglichen Komponierens bildeten – waren am besten an Werken aus einer Sammlung zu studieren, aus der bei verschiedenen Gelegenheiten musiziert werden konnte und sollte. Für diese Absicht einer praktischen Verwendung spricht nicht zuletzt die Veröffentlichung des Werkes in Stimmbüchern.

Heinrich Schütz. Geistliche Chormusik

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